Go Tan

* * *

Rjuriks Sensentruppe
Leibwache des Kaisers
gebar dem Land
Bauern & Hirten:

Hirt,
verteile alle in Raum & Ebene
gib jedem seinen Platz
in der Ebene, damit ihm
genug Raum bleibt
& schau!

Bauer,
vergrabe deine Wurzeln
hinterm Haus, verstreue
die Samen unter der Sonne –
und der Rest für
die Reben
& Rebe, Tmutarakan & Tmesis!!

O ech(x) Ra

Nur das Projektil holt ihn ein
Nur der Säbel ist sein eigen
Nur die Burka ist ihm Lagerstatt
in der Steppe, in der Steppe

Nur das Lied ist eine Hilfe
Nur die Liebe ist ein Lied
Nur das Lied ist ihm Hilfe
in der Steppe

frei nach Aleksandr Rozenbaum tm->dm (j)

Flucht und Wiederkehr V

Der Himmel lächelte milchig blau zur Nacht. An seinem Rand verwischten, verführerisch in seidenes Orange gehüllt, rosa Streifen – blässlich, verschämt und doch verheißungsvoll.

‚Ach, Sommer – Wie bist du mir ein Schwerenöter und Freund zugleich!‘, dachte ein alternder Mann, der langsam einen jener begrünten Kanäle entlang wanderte, die die wohlhabenden Viertel seiner friedlichen Stadt durchzogen.

‚Jene brennenden Tage, an denen jegliche Bewegung mit unendlichen Strapazen verbunden ist und jene nie enden wollenden Nächte, in denen die Klänge von ausgelassenen Festen und die schweren Düfte der Pflanzen emporsteigen und sich an einem mystischen Ort zwischen allen Sinnen zu einem melancholischen Bouquet vereinen, das, wenn auch für kurze Momente, Jugend weint… ach Sommer – all das bist du mir – und noch viel mehr.‘

Der Mann hielt inne und starrte wie gebannt auf den Weg, als öffne sich ein endlos tiefer Spalt vor seinen Füßen, als könnten ihn seine daraus heraus wuchernden Erinnerungen in einen flüsternden Abgrund locken.

„Sommer, bald welkt auch deine Blüte, bist du – wie ich – nicht mehr der Jüngste.“ Der Mann murmelte nun leise und trottete weiter, nicht resigniert jedoch, eher beschwingt – als treibe ihn ein unaussprechlicher, aufmunternder Gedanke aus der Ferne voran und alle Last sei vergessen.

War es ein Spaziergang oder war es etwas anderes? Ja, was war überhaupt möglich, was Einbildung, was Realität – gab es Ziele, noch einen letzten, verschütteten Wunsch? Seine Gedanken huschten wie fröhliche Motten zu den Laternen, die mittlerweile den Weg beleuchteten.

Der Mann hatte auf einer Bank am Kanal Platz genommen und die Zeit war verflogen, eine, zwei, vielleicht sogar drei Stunden vergangen – er fror nicht, denn es war Sommer – Zwischenzeit – und sein Freund spendete ihm erfrischenden Trost. Tanzender Gaukler, ewige Hoch- und Traumzeit, wohlan! So voll wie alles Fühlen ward, so glückstrunken oder schmerzverzerrt, so süß und zäh, nie war ihm Wind wärmer, nie der Regen weicher erschienen, keine Melancholie konnte Vergangenes so unmittelbar und täuschend echt beschwören wie sein Reich.

Die Stimmen aus der Ferne klangen zunächst wie singende Vögel. Erst als sie sich näherten, bemerkte der Mann, dass es sich um Jugendliche handelte, die sich – leicht angetrunken – zwitschernd neckten. Die Mädchen lachten viel und hoch, oft ein wenig zu lang, was ein schelmisches Grinsen auf das Gesicht des alternden Mannes zeichnete, bevor er – war es diese Nacht? – glücklich in den Fluten der Jahre versank.

Trostlos

Stille, gleichmütig.
Das Schweigen ist
auf den Mund gefallen.
Ein trauriger Wind weint
in den Pappeln, die Blätter
stellen das Rascheln ein.
Düfte der Erde aus
Katakomben der Würmer.
Auf leisen Sohlen schleichen
die Stunden heran, Stunden,
die kommen und vergehen,
spurenlos, wie niemals
gewesen.

Pan und Panik

Gott bleibt im Geheimnis. Und wenn er einmal aus dem Geheimnis hervortritt, tritt er kurz darauf wieder hinein.

 

Er packte seinen Knotenstock fester und schritt aus. Die Sonne war sehr heiß. Jeder Schritt von ihm wirbelte eine Staubwolke auf, so dass man ihn schon von Weitem an der länglichen Wolke als Wanderer erkennen konnte.

In seinem Beutel war Ziegenkäse und er hatte sich einen Weinschlauch um den Rücken gebunden. Seit einer Stunde lag Daphne in den Wehen. Sie schrie, als ihre Fruchtwasserblase aufgeplatzt war und der Hirtengott konnte zeitweise alles sehen und hören, als ob er neben ihr stehen würde.

Mit jedem ihrer Schreie ebbte eine Serie von Bildern und Gefühlen in sein Bewußtsein. Sie wußte, dass er zu ihr kommen würde, um seinen Sohn in den Arm zu nehmen.

Daphne wollte Pans Sohn nicht gebären. Aber Zeus hatte ihr im Traum befohlen, dem Sohn Pans nichts anzutun, weil mit diesem Kind eine große Zeit für die Menschen beginnen sollte.
Als er zu ihr kam, war sie vor Angst gelähmt. Sie hatte sich noch immer nicht an seinen häßlichen Anblick gewöhnen können.

„Hab keine Angst“, sagte er freundlich, „Ich werde dir behilflich sein“, und er wusch sich seine behaarten Arme und Hände im Brunnen, dann deckte er Daphnes Unterleib auf.
Der Samen Pans hatte ihren Bauch kaum anschwellen lassen. Sie fürchtete, Pan würde sie noch einmal vergewaltigen. Er empfand Mitgefühl.

Als ihre Preßwehen begannen, strich er über ihre Wangen. Danach legte er ihren Umhang über ihr Gesicht und sagte: „Ich will ihn entbinden, dann erst sollst du ihn sehen.“

Er wußte, was nun geschehen würde. Aber weil Daphnes Schönheit ihn mit Liebe erfüllt hatte, wollte er ihr Entsetzen so gering wie möglich halten.

Sie preßte und Pan mußte seinen Sohn nur in seinen Händen bergen. Der Schlangenleib ringelte in seine geöffneten Hände.

Jetzt faltete die kleine Schlange ihre fledermausähnlichen Flügel aus. Sie trockneten sehr schnell in der Abendsonne. Schon knisterten die Membrane im Wind. Pan blies den schillernden Schlangenleib an und flüsterte leise seinen Namen.

Sein Sohn hatte regenbogenfarbene Reptilienaugen. Das Zünglein wischte schnell um seinen Mund. Leicht atmete er durch die Nasenlöcher ein und aus, bis Pan seine Hände in die Höhe hielt und sagte: „Flieg mein Sohn, flieg, du sollst der Welt ein Segen sein. Flieg!“

Das Schlänglein hatte sich schon erhoben und glitzerte prachtvoll wie eine Libelle. „Daphne sieh unsern Sohn. Er steigt zum Himmel!“

Er bedeckte ihren Leib und zeigte nach der geflügelten Schlange, die sich immer schneller entfernte.

„Ist er nicht schön, Daphne? Das ist unser Sohn!“ Doch Daphne war schon in Ohnmacht gesunken.

Pans Knotenstock hatte Weinlaub und Reben angesetzt. Eine Rebe riss er ab und legte sie auf Daphne.

Er deckte sie zu, trug sie in ihre Hütte, legte neben ihr Bett den Ziegenkäse und den Weinschlauch und küßte ihre Lippen.

Dann ging er zurück im Strahl der untergehenden Sonne zu seinen Bienenstöcken nach Arkadien.

 

Versuch, 100 – 17 bunte Kugeln zu zählen

für Luc

Oh!
Was ist das?
Augen wie Schneckenhörner,
ein riesiger Trichter.

Wenn ein Gletscher seinen Berg
verlässt, kriechen
Zahlen unter
die Eiskruste.

Alles vereist
hier,
wo neun und
vier keine
Fünf
x x x kennen.

Das Spiel ist aus –
das Spiel beginnt! Alles
wird einmal in Be
weg
ung geraten, alles

außer ihnen:
neun vier fünf
Fünf Vier Neun –
y y y y y y y y y wenn

diese endlich Platz
haben werden

Ahnen, was kommen kann

Wo ich daheim bin,
blicke ich in die Welt der hundert
Fenster und siechender Straßenbäume,
die mich vor der Idiotie des Straßenverkehrs
schützen sollen.

Ich weiß, niemand und nichts
wird mich schützen, auch nicht vor dem
Krieg, der mit großer Selbstverständlichkeit
vorbereitet wird, als handle es sich
um eine Tortenschlacht.

Und mich schmerzt es,
dass wir so gleichgültig sein können
bei so viel Betriebsamkeit, mit der jene
ihre mörderischen Geschäfte erledigen.
Nicht weiter weiß ich mehr.

An diesem wolkenverhangenen Tag
mit den neuen schrecklichen Nachrichten
denke ich an vieles, woran ich nicht
denken will, und staune, wie wenig wert
Menschen das Leben sein kann.

Flucht und Wiederkehr IV

Ejnes Tages fjel ein Buchstabe
jm Kampf um das Wort
ejnes Tages war er frej und fort –
ganz ohne iegliches Gehabe

Ein Bekannter will nun anfangen zu schreiben, erzählte er mir kürzlich am Telefon.
Auf WikiHow, einer Online-Ratgeberplattform könne man hilfreiche Tipps zur Konstruktion eines Romans aufrufen. Charakterdesign, Setting und so weiter und so fort.

Da ich bei Setting eher an die Vorbereitung eines angenehmen LSD-Trips denke und zudem nach Schema F erzeugte Romane mir, einem überzeugten Kurzgeschichtler und Metafreak eher am Allerwertesten vorbeigehen, musste ich mich beherrschen nicht laut in den Hörer zu prusten. Die Absurdität der Situation wurde noch dadurch erhöht, dass Schreibversuche des besagten Bekannten bisher nie über grausam öde Gothic-Burlesken hinausreichten. Nichts was kitzelt, nichts was mein Denken jenseits einer expansiv apokalyptischen Kotzstimmung animieren würde.

Ich habe mich immer gefragt, wer Unheilig, Rammstein, Böhse Onkelz oder dergleichen hören mag, mein Bekannter ist wohl (obgleich er eher auf Elektro-Tracks steht, deren Videos mit kaum bekleideten Frauen-Standbildern unterlegt sind) der Prototyp, dem gehirnverbrannte Assi-Jünger folgen könnten.

Gleichwohl habe ich gute Miene zum bösen Spiel gemacht und ihm viel Erfolg gewünscht — denn dass besagter Bekannter etwas Konstruktives zu tun gedenkt, grenzt in Anbetracht seiner mir bekannten Lebensgeschichte durchaus an ein kleines Wunder.

Wir trafen uns vor ca. 10 Jahren, es muss das Jahr des ausgebliebenen Sommermärchens gewesen sein, erstmals im Stadtpark. Ein weiterer Bekannter, ehemaliger Schulfreund und Hauptkontaktperson des Betroffenen, wie ein Polizeibericht statutieren würde, stellte ihn mir vor.
Ein freundlicher Mensch, schulterlange Haare, gemessen an seinen Äußerungen etwas verrückt – es mag an den zahlreichen Joints gelegen haben, die wir an diesem Nachmittag konsumierten – dachte ich anfangs.

Im Laufe der Jahre – er und der andere Bekannte übertrieben es mächtig, sie waren keine Pegelkiffer wie ich – entwickelten beide dann laut Ärzteschaft eine cannabisinduzierte Psychose und er irrte, seiner Selbstausage nach eines Tages durch die Strassen, um Werwölfen und Riesenfledermäusen zu entgehen.

Seit jenen Tagen veränderte er sich. Der ehemals lustige, aber sinnlose Geschichten erzählende, naiv-freundliche Mensch ließ nun strikt die Finger vom Grün, und wandte sich sämtlichen Abbreviationen des Weißen zu, da die Ärtze ihm explizit nur den Konsum von Cannabis untersagt hatten, was in seiner neuen Weltsicht für das Böse schlechthin stand, rückte jenes, was ich seit jeher verabscheue und neben Sex für Geld und CDU/FDP-wählen zu den drei grossen „Never Ever“s meines Lebens zähle in seinen Fokus.

Das Weiße designte seinen Charakter und subtile Bosheit sowie Hinterhältigkeit lösten sein kindliches Gemüt, das ich durchaus als Freund bezeichnet hatte, ab. Seine Haaare waren nun kurz, sehr kurz, und er ließ sich einige Piercings stechen.
Eine Unterhaltung über ernsthafte Themen war mit ihm zwar nie wirklich möglich gewesen, aber statt gemeinsam lachend in eine Welt aus Gummischlangen spuckenden Springbrunnen einzutauchen wurde die Destruktion all dessen, was ich zu sagen gedachte sein Lieblingsspiel. Ich war angepisst und wir sahen uns oft für einige Monate nicht.

Gleichwohl wurde ich dank des besagten, gemeinsamen Bekannten über ihn auf dem Laufenden gehalten. Mir schien, es entwicklte sich eine gewisse Wiederholung in den Abläufen seines Verhaltens. So nahm er zwei, drei Monate exzessiv sämtliches Weiße, dessen er habhaft werden könnte, in den letzten Jahren vor allem Amphetamine, da die deutlich günstiger waren, ließ sich dann einweisen, suchte sich in der Psychatrie hilflose, an Bulemie oder sonstigen psychischen Störungen leidende Frauen und bandelte mit ihnen an, kam wieder heraus und begann den Kreislauf einige Wochen später von Neuem.

Erschreckend für mich war, dass er sich dieses Verhaltens durchaus bewußt war, denn dumm ist er nicht. Eher insofern verzweifelt, dass er, wenn er schon nichts Halt spendendes Gutes in seinem Leben zu finden vermag, alle um ihn herum herunterziehen möchte, dass er, wenn er schon keine „normale“ Partnerin kennenlernen kann, lieber der Erste unter den Letzten ist und insofern dominiert.

Ich lud ihn immer wieder ein, versuchte ihm – grün – die seinem Verhalten innewohnenden psychologischen Ebenen zu erläutern und insoweit es mir möglich war beizustehen, gleichwohl ich oft – von seiner vermeintlichen Empathielosigkeit angewidert – dann den Kontakt wieder abbrach. Der andere gemeinsame Bekannte, dem ein weiteres, trauriges Schicksal wiederfuhr, das eine eigene Geschichte verdient hat, brachte uns stets erneut zusammen, sie beide waren Brüder im Geiste und doch zugleich schrecklich einsam mit sich.

Der weiße Falter ging keiner geregelten Arbeit nach, hangelte sich von einer fadenscheinigen „Vorbereitungsmaßnahme“ zur Psychatrie und zurück. Neueste Ausgeburt dessen ist nun also, dass das Jobcenter ihn zu einem Kurs schickt, wo man Schreiben lernen kann und auf den er sich mit WikiHow vorbereiten will.

Ich wünsche ihm alles Gute, er kann es gebrauchen.

Flucht und Wiederkehr III

Eine Milbe schaut die Sonne, ein Blatt reitet Sturm –

wenn hoch das Lauschen aufsetzt, rauscht leis ein Unterton

und tief in Traumtambourengeistern, groß wie klein,

hallt lachend, voller Mond, Unendlichkeit herein.

 

„Und? Was halten sie davon? Ist es nicht interessant?“

„Hm.“

Frau Altermann-Zupf schaute den Doktoranden mit ernster Miene an, unterdrückte dabei ihr diabolisches Grinsen jedoch nur unzureichend. So überraschte es sie nicht, dass er etwas irritiert wirkte. Sein naiver Idealismus und wissenschaftlicher Habitus würde ihn jedoch davor bewahren, ihr Reaktion auf etwas anderes als den vor ihr liegenden Text zu beziehen.

„Das ist kein Text, der im Literaturinstitut gelesen werden könnte.“

„Aber die Kontextualisierung der…“

„Nein. Um das für die Drittmittel-Finanzierung dieses Schuppens notwendige journalistische Medienecho zu erzielen und zusätzliche Reichweite durch Retweets und Blogeinträge zu generieren, brauchen wir was Knackiges, etwa Texte von Vergewaltigungsopfern, drastische Reportagen über die Lebensumstände von Drogensüchtigen vielleicht – aber mit Sicherheit keine, ich betone: keine…“ Frau Altermann-Zupf hatte mittlerweile den letzten Rest der Entgleisung ihrer Mundwinkel getilgt, „…mit Adjektiven überladenen Texte, die rosarot die unmittelbaren Brüche der Gesellschaft umschiffen und sich stattdessen in ein lyrisches Schattenreich verlaufen, wo Knetmassen-Pförtner mit Glaskugel-Schlipsen Marmeladenhimmeln vorstehen.“

Bonifazius Ahlkruppst wirkte leicht perplex, suchte nach Worten. Ihr war bewußt, dass er ihr die ‚doch eindeutig vorhandenen gesellschaftspolitisch relevanten Ansätze in Kombination mit einer stilistisch-ästhetischen Textexegese‘ aufzeigen wollte, aber er schien zu zögern, Vielleicht schwankte er zwischen einem unmittelbaren Aufbegehren oder einem weiteren Versuch zu einem späteren Zeitpunkt. Sie entschloss sich beides zu unterbinden.

„Sehen sie, Herr Ahlkruppst, ich verstehe, dass sie den Texten ihres Schützlings eine Chance verschaffen wollen, ja, es ihnen – wenn sie mir den Kalauer verzeihen – ernst wie einem Jünger damit ist.“
Sie ergriff die neben ihr liegende Mappe und reichte sie Ahlkruppst.
„Ihre diesbezüglich sehr fundierten, literaturwissenschaftlichen Ausführungen habe ich ja bereits in Augenschein genommen.“

Altermann-Zupfs Stimme klang nun langsamer und weniger streng.
„Es passt aber einfach nicht in die Ausrichtung dieses Instituts. Sehen sie, da sitzt dieser Autor, höchstwahrscheinlich Mitte dreizig, mit einer Menge Krümel im Bart, pfeift sich tagein-, tagaus Acid, Gras und Wein rein und schreibt, wenn er nicht gerade irgendeine Hipster-Internetklitsche administriert, verschachtelte Texte die eine krude, Sprache mystifizierende Philosophie transportieren, die von für 95% der Bevölkerung unverständlichen, literarischen, muskialischen und politischen Anspielungen ummantelt wird – und denkt sich, das sei dann Literatur! Ganz zu schweigen von den teils drei…“

Sie machte eine kurze, wohl kalkulierte Pause, „… Kommafehlern auf einer Seite – ja, er weigert sich sogar diese zeitnah zu redigieren!“

Ahlkruppst blickte nun verduzt aus dem Fenster, in der Ferne wuchs eine Trichterwolke wie ein Stalaktit gen Boden.

„Unsere Zeit kann keinen Rimbaud mehr hervorbringen, die nächste, tatsächlich neue Verdichtung wird von einer Maschine stammen – und wir werden sie nicht einmal verstehen, geschweige denn erfühlen können. Was wir aber vermögen ist: die Menschen eben da abzuholen, wo sie gerade stehen.“

Altermann-Zupf gratulierte sich, denn Ahlkruppst nickte, wenn auch in Gedanken versunken, geflissentlich.

„Sie haben, recht, so habe ich das ja noch gar nicht betrachtet, da ist mir meine priviligierte Stellung wohl ins Gehege mit dem Gemeinwohlinteresse dieser Institution gekommen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, präferieren sie für die kommende Präsentation also einen sich auf Realismus beziehungsweise Sozialkonstruktivismus beziehenden Text?“

„Das ist mir vollkommen egal. Nur nicht diesen Mist, die Avantgarde – oder was sich dafür halten mag – kann mir gestohlen bleiben! Sagen sie, Herr Ahlkruppst, schreiben sie nicht selbst, anstatt nur zu beschreiben?“

Hätte Herr Ahlstrupp in diesem Moment die Haare von Frau Altermann-Zupf berührt, wäre er von einem Stromschlag erfasst und zu Boden geschleudert worden.

Doch er schaute wieder, wie gebannt, auf den sich näherenden Tornado.

Schmockymocky, das jüngste, die erste

„Vom Gletschereis werden alle Farben außer Blau absorbiert.

Nur das Blau wird noch reflektiert, und das ist der Grund für das herrliche blaue Schimmern oder sogar Leuchten der Gletscher.

Man sagt, das Eis verblaut bei zunehmender Dichte.“

(Gerhard Falkner, Bruno, S. 35)

 

Immer schön, wenn ’ne exe cu tante die Vollmachten hat, das Büro der Hausgemeinschaftsleitung – so’ne art parle ando mente. und wenn es sein muss : bis auf die Grundmauern; um das grund buch „kümmern wir uns später“ – abzutragen.

(z.B. 1993)

Und – by the way – – „Am Beifallklatschen sollt Ihr sie erkennen.“ – – – am Klatschen

(Punkt: zum Thema featuring)

Aber

Berlin, Scheunenviertel

Geschichte alter Berliner Straßen
dümpelt in muffigen Kellern,
in kohlenstaubschwarzem Dunkel,
wo fette Ratten das Pfeifen einstellen,
sobald die verängstigte Hausfrau
die Szene betritt.

In den Straßen noch der Geruch
armer Leute. Fassaden, bunt,
wollen Geschichte vergessen machen,
Geschichte, die nicht vergehen kann,
sich einnistet ins Mauerwerk als
Mal des Jahrhunderts.

Und du weißt,
deine Schritte führen dich
durch die Welt der Verschwundenen,
du betrittst den Granit der Straßen
in den namenlosen Tod,
verstört von so viel Schrecknis.

Glashaus

Sie trug ein Haus aus Glas um ihren Körper. Alles, was sie empfand, prallte daran ab, drang nicht nach außen. Doch immer wieder stieß es an die harten Wände und schmerzte, wenn es im Ausfallswinkel zu ihr zurückkam.
Eines Morgens hörte sie ein leises Klopfen an der Tür. Der durchdringende Klang ließ die Kuppel sanft erbeben. Sie horchte auf und legte ihre Hand auf die Begrenzung. Doch die Hand auf der anderen Seite war fort.

Das Glashaus schluckte das Sonnenlicht, denn es war kein gewöhnliches Glas. Nicht einmal der Mond schien am milchigen Glashimmel, der sie von der Welt abschirmte.
Die Glasfrau unterschied sich wesentlich von anderen Menschen. Die meisten wurden heller, wenn sie liebten. Ein Schimmern drang aus ihren Augen und legte sich als dünne Schicht über die Haut, dass alles an ihnen glitzerte und funkelte. Bei ihr war das anders. Das Material um sie herum nahm Stahlen auf, und sie blieb dunkel.

Häufig versteckte sich der Himmel hinter einer finsteren Wolkendecke. Doch immer wieder riss ein Windhauch Löcher hinein. Das Licht ergoss über alle Menschen feine Perlen, und die Gesichter und Hände glänzten.
Die Perlen kamen aus dem Wind, der die Geschichten in sich trug. Dieser Wind hatte nämlich eine ganz besondere Eigenschaft: Alles, was einmal auf dieser Welt passierte, wirbelte noch in ihm herum. Es gab helle und dunkle Perlen. An das Licht hefteten sich nur die hellen. Ihre kleinen Löcher füllten sich mit neuen Sätzen, wenn sie sich auf die Menschen legten. Oft bildeten sie ganze Reihen, bis ein Windstoß kam und sie wieder in sich aufnahm. So trugen sie Gedanken und Ereignisse von einem Ort zum anderen, und die Menschen lasen begierig, was der Perlenwind ihnen brachte.
Eines vermochten sie jedoch nicht. Sie konnten kein Glas durchdringen. Deshalb brachten sie keine Worte von anderen Menschen zu jener Frau hinter dem Glas. Es befanden sich zwar ein paar Perlen im Innern der Kuppel, doch niemand konnte sie sehen, da die Dunkelheit den gesamten Innenraum ausfüllte. Die Glasfrau blieb für die anderen stumm. Und auch die Menschen außerhalb der Kuppel hielten Abstand und versuchten nicht, ein Gespräch zu beginnen. Für gewöhnlich klopfte niemand an das Glas.

Die meisten liebten den Glanz und die bunten Perlen, und manchmal sammelten sie einzelne und banden sie sich um den Hals. Dieses Verhalten blieb nicht immer ohne Folgen. Zuweilen war es nämlich möglich, durch die Perlenketten in einen anderen Geschichtsstrang zu gelangen und so das Leben nicht wie gewohnt fortzusetzen. Einige Menschen griffen begierig in die aufgewirbelte Farbenpracht und warteten nicht, bis die Perlen heruntersanken, denn sie wollten stets anderes erleben. Sie waren geradezu unersättlich, diese Wirkung für sich auszunutzen und das Leben durch neue Geschichten zu verändern.
Bei Nacht befanden sich jedoch auch schwarze Perlen in den Ketten. Sie waren so schwer, dass sie am Hals drückten und rote Stellen hinterließen. Meistens zertrennten die Menschen dann das Band, denn ihre Haut war nicht daran gewöhnt.

Als die Frau hinter dem Glas das Pochen hörte, wusste sie zuerst nicht, was das für ein Geräusch war, denn sie hatte es schon Jahre nicht mehr vernommen. Plötzlich schaute sie ungläubig umher. Tatsächlich legte jemand sein Gesicht auf das Glas. Was bewog ihn zu dieser ungewöhnlichen Geste?
Offenbar versuchte ein Mann, das Schattenspiel im Innern zu deuten, aber der Hintergrund war ebenfalls dunkel, sodass er nur grobe Konturen wahrnahm. Wie er so dastand und in sie hineinschaute, blieb ein Schwarm bunter Perlen auf seinem Rücken hängen. Woher kamen die vielen Worte, mit denen sie sich füllten? Erst trieben sie durcheinander und trafen immer wieder an einer anderen Stelle auf. Doch bald schon hoben sie in einer Formation ab. Die umstehenden Menschen wunderten sich über das Gebilde und verfolgten es mit den Blicken, denn ein solches Muster hatten sie noch nie zuvor gesehen.
Der Spaziergänger hatte von dem Schauspiel hinter seinem Rücken jedoch nichts bemerkt. So sehr er sich auch bemühte, er konnte nichts erspähen, was ihm von Bedeutung erschien. All seine Anstrengungen ließen ihn nicht die Perlenworte erkennen, die immer schneller um die Glasfrau wirbelten. Schließlich zog er von dannen.

Berlin inmitten

Stadt, die mir
zugefallen, gestorben im Inferno
und wieder auferstanden,
Stadt mit ihrem Gestöhn in den Nächten,
dem Wolkenmeer über Häusern,
dem grauenden Tag.

Als sei mir
jeder Bordstein bekannt, als sei
selbst das Unwetter über den
Dächern ein Du. Und doch, fremd
die Stadt, fremder noch als die
eigene alternde Haut.

In den Höfen
brütet der Juni, Brachen in
Straßen, deren Namen halb vergessen,
weisen auf Lecks, die ihr Echo werfen
in die sonderbare Lautlosigkeit
des frühen Stadtsommers.

Menschenscheu

Jetzt saß niemand als eine einzelne etwa dreißigjährige Dame darin, die in einem Buche las, aber dabei vor sich hin summte und mit dem Mittelfinger der linken Hand immerfort leicht auf auf das Tischtuch klopfte. Als die jungen Leute sich niedergelassen hatten, wechselte sie den Platz, um ihnen den Rücken zuzuwenden. Sie sei menschenscheu, erklärte Joachim leise, und esse immer mit einem Buche im Restaurant. Man wollte wissen, dass sie schon als ganz junges Mädchen in Lungensanatorien eingetreten sei und seitdem nicht mehr in der Welt gelebt hatte.

(Zbg., S.17)

Schattenplätze

Unter der S-Bahn-Brücke
sammeln sich die längst Vergessenen,
die Aussortierten, kämpfen im Sommer
um einen Platz im Schatten. Trotzig
hocken sie auf dem Straßenpflaster,
bieten das Bild untröstlichster Verzweiflung
und Wiesenblumen an. Manchmal lächelt eine,
so beweisend, dass es ihr gut geht,
und so taugt sie zur Dokumentation
eines realen Beispiels
selbstverschuldeten Elends.

Nachtgedanken

Wenn alle Sätze schon gesagt sein sollten,
die je die Dichter kunstvoll aufgeschrieben,
und wenn das dumpfe Schweigen nur geblieben,
schlägt bald der Ungeist seine frechen Volten.

Nie wurde braves Ducken dir entgolten,
der Widerspruch hat dich recht oft getrieben,
er ist die böse, rabenschwarze Sieben.
Und wärest doch so gerne unbescholten.

Dir fremd und von dir selbst wie losgerissen,
bemühst du dich, die Zeit zu überleben,
hoffst, dass dir eine kleine Sonne scheint.

Du wühlst dich nachts ins warme Ruhekissen,
sagst dir: Es wird sich alles, alles geben.
Und weißt es doch genau: Dass du gemeint.

Auf den Dächern

sitzen Spatzen,
lösen sich Ziegel aus Erinnerung.
Ich sehe Mutter am Bügelbrett,
wie sie den Tag glättet.
Draußen bist du Schneekönigin
mitten im Frühling,
hängt sie Wäsche
und alte Regeln an die Leine,
die mit den Worten der Nachbarn flattern.
Zwischen Unkraut lauern Nacktschnecken
und andere Feinde,
baust du Schlösser
und braust Mittel
für tote Fliegen.

Erst am Abend
stürzt dich Mutters Stimme
von den Zinnen
deiner Welt.

Stäbchen und Zäpfchen. Fragmente

(2. Fassung)

stäbchen und zäpfchen
trafen sich
im wald

stäbchen war ein hampel
mann, zäpfchen
wurde laut

***

zäpfchen und stäbchen
trafen sich
im zimmer

stäbchen, eine pampel
muse, zäpfchen mousse
au chocolat

***

stäbchen und zäpfchen
treffen sich
im raum

stäbchen ein computer
bildschirm – zäpfchens
sonnenuntergang

soonenuntergang, reeloaded:

sonne setzen rosé

eine drehung der
vergangenheit
Color in certain places nahm
die zukunft aus making the outlines
and herrschend

structural planes
unbeeindruckt seem more
energetic

versenkte den hoch

fahrenden titel
Antoni Gaudí
ging

hinaus und lehrte
poesie trennte
auf
und

quirlte ihm rumpel

pumpel staub planeten
rollen über.

Entfernungen

Wieder der
Sterbemonat November.
Heute beschreibe ich mein Leben ohne dich,
Ungereimtes in zwölf Zeilen.

Immer die Flucht
hinter die Vorhänge der Zeit.
Und dieser Ozean verkannter Sätze
zwischen uns.

Ohne Anlass
fällst du mir ein, wie einem Bettelarmen
der teure, der unentbehrliche
verlorene Groschen.

Tischgespräche IV

Mancher wäre gerne seinen Tisch los doch ihm fehlen vier Beine.

Er saß lange auf die Platte. Dachte. Buchenholz, exotischer. Das fast zehnjährige Protokoll eines Scheiterns auf der Suche nach dem Feuer war der gefeaturete Affront, der zusammenformte. Danach haengt im alten Klischee der Zopf wie ein Zaunpfahl den Turm herunter. In der Vorhalle vom Finanzamt starb er schließlich den kleinen Tod. In Herbstlaub, Kind und Gartenlaube. Genug Holz gemacht. Späne fallen. Das Ende nach dem Ende nur eine neue such*

 

 

Swanns weibliche Welt

In Combray eine Treppe & die erste

x  Stufe – verbrannte Erde.

Nicht Hinterhof, nicht Kreuzberg %

xx  wo Milch & Honig fließen.

Ich bin Baal oder ein

xy  schwarzes Loch.

Schwarzer Körper? Meine Ausstrahlung

yy  lässt sich nur gequantelt begreifen.

Was heißt: weder Quantenchaos noch

xxy  Chromosomengeometrie

The * has gone but he’s not forgott’n
xyy  forgott’n forgott’n forgott’n

Worüber hinaus Größeres nicht mehr
ganz ist

Das Ganze Eine Un teil trennbar
e  schlinge ich  xxx  in mich durch

* _ _

So hätte es sein können: Ein erfülltes Liebesleben

its only raining because of you.

Bis mein Liebesleben sie hinwegfegte. Die Wand des Hauses war weit entfernt, aber ich erkannte die Gestalt, die mir mit einem Arm zuzuwinken schien. Dann verschwand der Arm wieder. Die Fassade zeigte ihre Arabesken und ich ließ mich willig auf das Spiel ein. Ein Mann stand dort. Was tat er an diesem Abend auf dem weiten Platz? Wusste er, daß ich oft hierherkam, war er hier um mich zu treffen? Ich ging schwungvoller und streckte die Arme über dem Kopf. Ich fühlte mich schlank und groß. Wie leicht ging ich in den schwarzen langen Stiefeln, sie klangen, aber nicht hart, ich ging sicher und leicht. Der weite Platz war zu einem Karussell geworden und die Häuser waren Kunstwerke. Die Gestalt rückte näher, sie war es, dunkelhaarig, bleich und schlankwüchsig. Ich taumelte darauf zu und küsste die kühle Wand.

Ich traf Melisand in der Cafeteria. Sie trug eine dunkle Brille, wahrscheinlich um ihre Augen zu schonen. Die Sonne schien mäßig an dem Tag. Ich erkannte Melisand nicht gleich, doch dann umarmte sie mich. Ich nahm ihre Hand. „Was hast du da in deiner Tasche?“ Melisand lächelte geheimnisvoll. „Zeig’ ich dir später. Ich habe einen Hunger nach dem Vormittag. Tierisch. Ich könnte mit dir zwei Wildschweine verspeisen.“ Melisands schlanke Beine steuerten auf einen kleinen Tisch am Fenster zu. Wir setzten uns. Melisand bestellte Erdbeerkuchen, ich holte mir einen Salat vom Buffet. In meiner Tasche hatte ich einen lilienroten Lippenstift. Ich nahm ihn heraus und begann, Melisandes scharfkonturierte Lippen nachzuzeichnen, sie auszumalen, die jetzt von der Sonne ausgeblichen waren. Dann küsste ich sie (auf den Mund). Sie setzte ihre Brille endlich ab und wir sahen uns lange schweigend in die Augen.  Eine Frau im weißen Kittel nickte uns zu und stellte ein großes Stück Erdbeertorte mit Schlagsahne vor Melisand hin. Melisand aß davon, langsam und bedächtig, wie sie es immer tat. Sie pulte mit ihrem Löffel eine Erdbeere aus der Geléemasse und schob sie mir in den Mund. Sie lächelte wieder, öffnete ihre Tasche und zog ein unscheinbares, aber noch fast druckfrisches Taschenbuch heraus. Es waren Gedichte und Theaterstücke eines französischen oder belgischen Autors, im Original. Das Lächeln stand beständig auf Melisands Gesicht. „Melisand, gib mir noch eine Erdbeere, bitte.“ Melisand zog die letzte Erdbeere von ihrem Kuchen und wir zerteilten sie zärtlich von Mund zu Mund. Dann … klappte sie das Buch auf. Und las Gedichte in französisch, die überschrieben waren mit Titeln wie Langeweile oder AquariumErwartung oder Nachmittag.

Wie die Menschen gingen, wenn sie sich in den Straßen, den Gassen, den Alleen bewegten! Sie gingen unsinnig langsam, eigentlich gingen sie gar nicht. Sie betraten ein Geschäftshaus, ein Büro, die Bahn, die sogleich nahezu lautlos von der Stelle glitt. Sie sprachen untereinander in ihren Konventionen. Doch ich hatte Melisand nur noch einen flüchtigen Kuss geben können, bevor sie hinter den sich schließenden Türen der Bahn verschwand. Einen Moment stand ich gedankenlos an der Haltestelle, fand dann die Straße, in der ich wohnte. Ich war schon an der Haustür angelangt, als mir einfiel, daß Melisand mir die Adresse von dem Krankenhaus gegeben hatte, in dem Vivian lag. Ich zog die Notiz aus meiner Jackentasche und starrte eine Weile blind darauf. Dann warf ich sie weg. Wie Melisand mich angesehen hatte, als sie mir das zerknitterte Zettelchen reichte.

Der Zeitreisende (denn so wollen wir ihn der Bequemlichkeit halber nennen) war im Begriff, uns eine geheimnisvolle Sache darzulegen.

(H.G. Wells, Die Zeitmaschine)

Flucht und Wiederkehr II

Alex marschiert, exerziert, Alex mit Pulle in der Hand, lila-blauem Iro und Nietenjacke gröhlt gaffend tuschelnde Touristen an, ob sie wüssten warum er so sei. Wenn nicht, dann sollten sie die Fresse halten. Alex am Alex. Alex an den Resten der Mauer, Alex, immer alles auf Ex. Alex verrät warum: Weil die Stadt scheisse ist. Scheisse kalt. Hart. Windig und bösartig. Will er eigentlich weinen, erzählt Alex mit verschwommenem Blick, springt er auf und rempelt einen der steifen Herren in Anzügen an, schreit und spuckt. Alex‘ Vater im Loch, seine Mutter auf dem Strich. Nur seine kleine Schwester sei stets bei ihm, ausser wenn sie, wie jetzt gerade, einige hundert Meter weiter schnorre oder neues Bier hole.
Alex ist nicht alt, aber das Leben, das er führt hat seinen Körper der Jugend beraubt.
Im Innern fühlt er wie ein verletztes, trotziges Kind, das auf der Suche nach verlorenem Urvertrauen brüllt und um sich schlägt. Früh morgens sticht die Kälte wie eine stumpfe Nadel, sagt Alex – damit kenne er sich ganz gut aus. Alex will grinsen, wie Jugendliche, die von Streichen berichten, aber ihm ist nicht zum Grinsen zumute und so verharrt sein Gesicht fast so steif wie das der Anzugmänner.

„Ist das ihr Ernst, Herr Rübenmöller? ‚Alex‘, wirklich? Das Thema ist seit fast 30 Jahren durchgelutscht, spätestens nachdem die Hosen sich an der Clockwork-Orange Figur dumm und dämlich verdient haben! Gibt es überhaupt heutzutage noch Punks in Berlin? Denn wenn es nach dem geht, was unsere Mitarbeiter sonst so verzapfen, ist die heutige Jugend weichgespült und kommt ganz ohne Subkultur und Protestgehabe aus. Schreiben Sie doch lieber über die Stipendiats-Vorbereitungen der angehenden Führungseliten, sie wissen schon – eben das, was die Kern-Leserschaft unseres Blattes dazu animiert ihren Kindern und Enkeln ein wenig mehr Feuer unter dem Hintern zu machen – und ihr Abo ein weiteres Jahr zu halten!“

„Aber Herr Töfte-Süß, sagten sie nicht gerade gestern zu mir, ‚gehen sie hinaus, finden sie etwas, was unsere Leser bewegt‘?“ Rübenmöller hat das Gefühl, als würde sein Magen unaufhaltsam in die Tiefe sacken.

„Ja, sind sie denn blöd?!! Ich meinte was über eine niedliche Katze, die auf einem Baum festsitzt, ein kleines Mädchen, das einen großen Hund umarmt, eine Hintergrundstory darüber, wie die Familie der neulich verunglückten Frau mit dem Verlust umgeht, sowas halt – nichts über dreckige Punks, verdammt noch mal!“

Rübenmöller wischt sich mit einem seltsam steifen Ausdruck die Tropfen aus dem Gesicht, bevor er sich, gebeugt auf Töfte-Süß‘ Schreibtisch, übergibt.

Manchmal hat Alex es warm, nachts. An diesen Abenden pulsiert in seinen Adern  Methadon und er ist untergekommen bei einem Freund, der schreibt. Seine Schwester sitzt dann neben ihm und schaut sich alte Donald Duck-Hefte an. Die eigneten sich seiner Erfahrung nach ganz gut zum Lesen-üben, sagt der Freund.

Flucht und Wiederkehr

Gezeugt aus archetypischem Willen Leben zu preisen, gefangen in einer Zwischenwelt naiver Schaffensfreude, dem unsäglichen Regime eines mehr oder weniger beschränkten Reservoirs aus Träumen, Torheiten und Tabus unterworfen, verharrte das Bewußtsein, das unter Menschen Juliette genannt wurde, vor dem fast leeren Schaufenster Justines ehemaliger Boutique. Nur der, mit einem langen Schmiss versehrte, von abgebröckeltem Putz und Staub bedeckte, merkwürdig stolze Torso eines Dinges, das früher einmal eine vollständig funktionstüchtige Schaufensterpuppe gewesen sein musste, war noch hinter der dreckigen Scheibe zu erkennen.

Nackt werden wir geboren und nackt gehen wir von dieser Welt, nichts wird besessen, nichts gehört – und doch wird von dem, was uns kitzelt der unbewußte Ruf aus der Leere in die Leere erhört. Vor diesem unendlichen Schatten auf ewig versteckt  – und so für immer gewärmt, umhüllt, geborgen, ja weich gebettet: Justine.

Der schlafende Torso, Schöpfer seiner selbst, da im Innersten ungebrochen. Die leicht herausquellende Füllung am Riss nur Ausdruck teilhaftiger Individualität. Die Wunde: der Quell. Leid: der Fluss. Rostbraun wird die Sonne das benetzte Glas brennen.

Justines Kleider waren Juliettes Anker gewesen, hatten sie geerdet. Jene Röcke, die sich scheinbar nie vom Boden lösten, deren käfighafter Unterbau ihr zumindest die Illusion verlieh, über ein, wenn auch kleines, eigenes Territorium – nein  Königreich! – zu verfügen, das, einem  strengen Protokoll unterliegend, zwar täglich Staatsgäste unter Beachtung aller möglichen diplomatischen Gepflogenheiten zu empfangen und versorgen hatte – das aber de facto doch unabhängig war und bei Bedarf entschieden „na, na!“ zischen und die Delinquenten mittels eines unmissverständlichen Klappses unmittelbar ausweisen konnte, zumindest bis deren versoffene Armee gewaltsam einrückte.

Oh! Ursprung der Welt, welch Diamant! Geschliffen von Alexander, erneuerte Phryne,  die Hetäre, Thebens Wälle, dem Willen der Altvorderen  entgegen, sehr wohl  — sie richtete, mit einer Mischung aus zynischer Verachtung und überlegenem Stolz um sich blickend, ruckartig ihren imaginären Rock aus lustvollen, irdischen Versprechen und überließ, wie ein Kind zu den Göttern singend, die verblüfft kleinmütigen und zugleich unsicher erregten, vertrockneten Herrschaften einem unfreien, verhärmten Schicksal.

Erst der weit entfernte Schrei eines Hahnes, das matte Licht einer die Himmel mit Vergessen tünchenden Morgendämmerung und ihr zugleich einsetzendes, rasendes Zittern rissen  Juliette aus ihrer Trance. Bald würden bucklige Menschen vorbeischleichen, sich verschämt bekreuzigen, nur um  kurze Zeit später doch mit Decken heranzustürmen, sie sodann unter lautem Wehklagen an den Ofen ziehen, ihre Wunden mit leicht übertriebenem Fleiß versorgen, bevor sie später untereinander das Hohelied der eigenen Mildtätigkeit gegenüber jenem verstörten, jungen Ding, das gar Unaussprechliches erduldet haben musste anstimmten.