Chorin (5)

Geschichte

Neun zu elf wie elf zu dreizehn,
annähernd? Woher
die Gewissheit, dass es morgen
genauso werden könnte
wie es heute
ist?

Aber wie
ist es denn?

Ruinen wachsen & wachsen
wieder empor,
verschollen
ihre einstige
Grazie.

Wieder wachsen
die Illusionen, annähernd
alles wird gut –

dem Besseren feind
bleibt es, was es
ist … ewig
unwirklich; bleibt

nichts als Schattenland
aufgeplusterten
Trümmergefühls:

Verglichen mit der Zeit
ihrer Entstehung ist
jede Renaissance
bereits eine Lüge.

Schaffet das Neue! Was
hat es mit dem
Alten zu tun?

Romantik ist Lüge
im Quadrat.

Barock war die Er
findung des Falschen,
der Fälschung.

An der granitenen Pforte
aber
entscheidet sich das
Schicksal, Klima für
hundert Jahre.

Triple

Aus unendlichen Sehnsüchten steigen
endliche Taten wie schwache Fontänen

(Eduard, Vyvyan und der Professor treffen sich in der Akademie)

„Wir haben noch eine andere Dame zur Auswahl. Sie ist selbstverständlich nicht alt. Sie ist reif. Es hätte Vorteile. Stil bildet sich erst ab einem gewissen Alter heraus. So wäre es auch Jugendstil.“

„Jugendstil… ich bin kein Freund dieses Begriffs, Eduard. Er riecht zu sehr nach München. Sag bitte Sezession oder Art Nouveau. Und fang mit Rilke an. Mit Initale. Erfinde das neu. Herr Professor, Sie rügen mich, weil ich in Begleitung Eduards bei Ihnen erscheine. In Begleitung eines Kunsthistorikers. Nun, Eduard und ich ergänzen einander. Wir sprechen über Tiere und meinen uns selbst. Eventuell noch die Dame mit dem Fuchspelz. Und stellen Sie sich vor, Eduard und ich wären zusammengewachsen. Dann müssten Sie ihn in Kauf nehmen.“

 

 

Casting

Der Wunsch,
niemandes Zeitgenosse zu sein,
nicht dieser Zeugen, nicht dieser Orte,
nicht des Wahnwitzes Zeit.

Die Wahrheit
liegt im eigenen Anblick, der uns
erschüttert, solange wir
das Innere des Spiegels suchen.

Ins Schweigen fallen
am Ende. Die Rollen besetzen, sich
ein Bild machen, das sich auf dem Markt
der Gesichter verkaufen lässt.

Chorin (4)

Chor

Abschluss sieben Zwölftel, selten
gebaute Version. Ob
das wohl die Idee
einer Stimme war, einer
Stimme inmitten?

Interferenz eines Glocken
tons, dem die Glocke
abhanden kam,
mit einer Kammer –
Zelle genannt?

Oder Superstrat
wilder Gänse in
mitten dieser Landschaft,
Richtstätten hinterm
Tanzplatz in den Lüften?

Kondakion
einzig, Teil
einer übergreifenden
Erzählung, Erzählung aus den Lüften.

Nach dem siebten beginnt
etwas Neues: Wandel
gang, zur Treppe
aufgetürmt!

So steigt diesen Weg empor,
denn
das Wesen
will diese Welt erlösen,
steigt auf bis zur Dreizehn

und verabschiedet es, auf dass
im Gedächtnis es
blühe,
wirke &
gut uns beschließe.

Sieben Zwölftel, ein Problem:
das Zwölfte als
die Mitte zwischen gestern
und morgen, Mittag
fortschreitender Addition? Oder
waren es immer schon
die Elftel, auser
sehen der Dreizehn
annähernd
Paroli zu bieten?

Himmelselegie

Hinab die Wolkenstraße,
wo der Mond im Herzen der Nacht
Aufenthalt nimmt. Hinab,
Träumerin.

Gebrochen flammt, was mich
sehen lässt. Trunkener Sturz eines
glühenden Kometen. Es ist
seine Stunde.

In der Dünung der Wolken
ein verzweifelter Planet, hilflos.
Tief drunten, unterm Sonnenrand, nackt,
im Werden der Tag.

Kürzeste Bilanz

Einmal, im Wust der Worte,
als alles gesagt war, einmal
gab es da einen Laut wie einen
kleinen Schrei, der nicht sein sollte,
der aus der Kehle kam oder
aus der Hölle.

Einer saß hinten am Tisch,
der sah keinen an, der hatte
zuviel gehört, zuviel gesehen,
der wollte nichts mehr wissen,
für den war alles geschehen.
Und dann dieser Schrei.

Als der so dasaß,
den Kopf in den Händen,
sein Glas, das wievielte, halbvoll,
da wusste ich, wer braucht denn
Worte, wenn ein Schrei
schon alles sagt.

Chorin (3)

Proportionen

Observatorium oder Gotteshaus,
Höhle oder System
von Kornkreisen?

Mein unförmiger Körper lässt
sich
in keiner anschaulichen
Beziehung zum Geist denken –

so verzichte ich
denn,
verzichte vorerst
auf mein Observatorium hier
& jetzt.

Verzichte
auf die Instrumente,
Luftkanäle & zitternde
Saiten.

Verzichte auf
die Freude – und doch!
warum sollte ich;
selbst
im Verzicht noch ist
Freude, Freude.

So will ich die Musik
also
ausschließlich denken:

Die Hälfte zeigt den Grundton an,
deren Hälfte etwas Neues.

Das Neue sei mir neu,
Intervall
in mir. In sich

gewinnt es seine Dif
ferenz zum Anderen –

anders klingt es
gedrittelt
in dem Ganzen; drei

zu vier will ich
hören mit
anderen Ohren – –

bis hinauf
zum Septem.

Nach den Blumen die Segel

Wie es sich entfaltet,
dieses Leben –
aus dem Erdreich durch
die Lüfte zum Licht!

Elfen hinter der
Scheibe, Scheibe
auf
der wir alle
geboren … wir

vergessen manchmal
den Raum, den
Raum aus
dem wir entsiegen.

Die Blumen, die Segel.
Eine Hose im Wind,
Windeseile
zwischen zwei Atem

Zügen. Zogen. Sie. Alle
dahin

Flucht und Wiederkehr VIII

Obschon der Belagerungsring der alevitisch-schiitischen Allianz gestern nach dreiwöchiger Unterbrechung wieder geschlossen wurde, hat eine Sunnitenmiliz in Aleppo angeblich achtzig Prozent eines loyalistischen Stadtviertels (Al-Amiriyah) eingenommen.

Währenddessen ich die Ruinen des einst eintausendfünfhundertzimmrigen Palastes von Knossos besichtigt habe, sind junge, angeberische Engländer auf Quad-Bikes die Partymeile von Malia, an der mein Bed-and-Breakfast liegt, hoch- und runtergesaust – um diverse Gruppen fish-and-chips-geschwängerter, abschleppbereiter albionischer Landfrauen, umhüllt von Wolken billig gefälschten Markenparfüms, das in hiesigen Souvenier-Shops ab drei Euro erhältlich ist, laut ratternd zu beeindrucken.

Da ich diese Zeilen schreibe, zieht aus dem Erdgeschoss Zigarettenrauch in den ersten Stock, und übertüncht den Jasminduft der Hotel-Hecke: unter meinem Balkon sitzt eine Gruppe männlicher Deutscher, Anfang zwanzig, jammert in Bezug auf dreißig Stunden Arbeit am Stück, räsoniert darüber, was sie auf dem Rechner haben. Die Nächte in Kreta sind stets lau. Es ist der Todestag des Vaters meiner Frau und sie zieht sich zurück. Ich tippe auf meinem Handy herum.

Die Deutschen lachen angetrunken, Elektro-Handymusik schallt nach oben, wird übertönt von dem einsetzenden Sound der Clubs und dem Hupen, Rufen und der vibrierenden nächtlichen Luft, die Anfang-zwanzigjährige stets vor Mitte-dreizigjährigen selbstbewußt zu beanspruchen wissen.

M-V hat AfD gewählt lese ich, Usedom zu 52,4% AfD+NPD. So what? Alles so fern, was mich früher extrem gestört hätte, ist ein Fliegenschiss der Zeitgeschichte – heute habe ich den Diskos von Phaistos, die Kykladenidole und die Schlangenpriesterin im Museum von Heraklion live! gesehen.

Ist dumm. Genau der. Schallt es von unten. Hoch zieht, einmal mehr, Zigarettengestank. Ausm Arsch. Vom angrenzenden Lokal der Rauch gebratener Sardellen. Göttlich. Es ist, als hätten die kargen Gebirgszüge, an denen sich die seichten Buchten gesundstoßen, gesprochen.

Boulevard

September, ein grauer Tag,
das Jahr macht einen Sprung.
Der Zeitungsmann, hagerer
Graukopf, ist neu im Geschäft.

Wind lässt die Blätter flattern,
die Schlagzeilen schreien.
Wer kommt, eilt vorüber.
Ihm nach der Blick des Alten.

Teuer das Leben, die Rente
schmal. Nie würde er eine der
Zeitungen kaufen, mit denen
er handelt.

Es hat zu regnen begonnen.
Der Mann zieht das Zeitungsgesell
besorgt unter die schützende Passage.
Bares Geld seine Ware.

Ob er versteht, denke ich,
warum und für wen es ihn hierher,
in den Wind, in den regendunklen Tag,
verschlagen hat?

Chorin (2)

Selbstvergewisserung

Wer baute die ersten Tempel,
Stonehenge- & Carnac-
Ensembles,
Erfahrungen des Himmels
auf Erden?

Wer konstruierte das erste
Fünfeck, Gehäuse
der Welten
harmonie wie des Fluchs
aller Ausnahmen?

Gehäuse des Menschen
wie der harten Steine, eisige
Kontur der im Innern
des Vergänglichen wirk
enden Form?

Prinzip der Erzeugung
des Mannigfaltigen
aus dem Gleichen, des Einen
aus dem Verschiedenartigen
gleichermaßen?

Gleichermaßen? Gleicherweise?
Ungewissheiten der
Formulierung, Ur
bild aller Sag
bar
keiten, un
möglich auf den Begriff
zu Bringendes?

Wer erfand die Idee
des Wunders, in dessen Ge
häuse des Menschen
Wohnstatt
sei – Seele
im Geist, Er
kenntnis der einen Be
weg
ung, die wir sind?

Wer baute mit den Händen
seinen Tempel, in
dessen Grund wie
ein Grab die Klarheit end
losen Übergehens ein
gebettet liegt?

All diese

Denn man soll nicht,
ließest du mich wissen,
nicht in den Niederungen
wildern.

Ich hatte kein Abitur.
Nur meine Liebe.
Einmal glaubte ich
an sie.

Das verging.
Verging wie alles,
kein Lärm, kein Schmerz.
Alles im Grenzbereich.

viel : leicht

der satz, das schwein und die selbstaussage – objekt, nichts sonst – – man sagt mir die objektivität nach – – – warum eigentlich – – weil sie es selbst nicht besser wissen – ? – manche glauben – – ich sei – das gesetz – – – welch kinderglaube – – nicht einmal die gnade will ich sein, sonders einzig die erlösung. wer spricht hier von versöhnung – ! – geist – – indem er urbild und bild geschaut – – – der ihre differenz – – und kommt mir nicht mit der ähnlichkeit, dieser ana – logie von sondern hausen – – was habe ich schon mit meinem steinernen bild zu tun – – – all – – so glaubt, selbst – wenn ich zwei fel t/e – – also glaubt – – – also, etc.

Du bist mein Licht …

Ich liebe hemmungslos und ohne Schranken,
bin gefangen in meinen Gedanken,
Sklave meiner Leidenschaft,
wie lange habe ich die Kraft,
auf dem Seil zu balancieren,
gewinne ich dich, werde ich verlieren?
Doch eines möchte ich dir sagen,
du bist mein Licht an dunklen Tagen,
und erreiche ich dich auch nicht,
so bleibt mir doch, ich liebe dich.

Portale

Dünn geworden,
was man uns serviert. Verschrien,
verleumdet die ungeliebte Klarheit
des Gedankens, die, mitunter noch,
anklagend die Stimme erhebt.

Glücklos sind wir.
Die Massen machen das Spiel,
man las es in Glanzbroschüren,
und gemeint waren Wirrnis, Leere
und Gleichgültigkeit.

Überall Melancholie,
sie hockt vor geschlossenen Portalen,
und wir, arme Hunde, warten in
Gottvertrauen, warten und warten
und wissen nicht, worauf.

elefantensamba

fliegt ein schiff durch meinen kopf
ein hamburger viermaster
die segel gesetzt

von den bergen und schlachtfeldern
von einer trauernden mutter und geliebten
trägt der wind stimmen
in die städte

wir pflücken nächte und binden sie
zu einem großen strauß
der elefant schaut in den himmel

die bienenzüchter und kriegstreiber
haben zulauf
füttern königinnen und kronprinzen
mit honig und waffenarsenalen aus den bergen

das haus ist ein sprechender zigarettenautomat
darin wohnen kann tödlich sein
aus den schachteln und hülsen drängen stimmen

die haut ist ein geduldiges raubtier
jede nacht macht sie beute
wandern elefanten in die stadt
trompeten und tanzen samba

Chorin (1)

Vision

Schwebendes Dreieck,
rechteckiger Grund.

Das Licht holt sie zusammen
in der Sieben.

Reine Addition, nichts
Räumliches oder
Zeitliches.

Schattengrund, Gründe
für Schatten, nichts
Unerklärliches.

Wenn Licht & Schatten zusammen
treten, entsteht Raum
aus sich selbst heraus.

In der geschauten Einheit
verteilt sich das Ungleichartige.

Ungleiche Hälften, ein Wider
spruch – gemurmelt

oder geschaut, vom Auge
wie vom Ohr aus
springt

dieser Stein in die
Höhe: Schluss
stein,

Schicht auf Schicht,
Kulmination:
das

Leichte
ruht auf
dem Schweren als

Illusion –
niemand könne ernst
haft glauben, dort &

nur
dort sei der Mittelpunkt der Welt.

Gegenglück

Den kleinen Abend
zwischen den Häusern ertragen,
hinter denen ein Sonnenball
aufsteigen wird.

Dem Glück entkommen,
hineingeglitten ins Gleichgültige,
ins Dunkle, in die Nacht
mit ihrem Schweigen.

Ein Licht wartet
hinter dem Horizont, das des Zuspruchs
bedarf, den wir uns selbst nicht
erlauben.

Und auf dem Straßenpflaster
ein verlorener Vers.

spinnengespinst

da spann eine spinne ihr netz
und eine dicke fliege verirrte sich hinein
ach, wie kuschelig, dachte sie
da grinste die spinne nur
während der wind dem schweren gespinst
unheimlichen schwung gab
und die fliege
inzwischen
trocken blutleer klumpig
aus dem netz fiel

da kam mama mit dem staubwedel
und fegte sie beide zusammen
in den müll …

Berlin, Landsberger Allee

Weiß der Tag,
von einer Weiße, die Taubengeschrei
und Mittagsgeklirr übertönt.

Die hohen Häuser, Geranienbalkons,
Autolawinen mit jener
rasenden Trunkenheit, der sich nur
ein Ampelgott in den Weg stellen kann.
Fußgänger laufen dem eigenen Schatten nach,
lärmgetrieben, sonnendurchtränkt.
Und am Wasserwerk Fest der Heuhüpfer,
blauer Wegwarte Stunde,
roter Weidenröschen.

Drei Nächte noch, und der Mond
wiegt sich als Schaukelpferd über der
Landsberger Allee.

Flucht und Wiederkehr VI

Jenes Mädchen, dessen geheimnisvoller Blick schon während des Gelages die Aufmerksamkeit des Großkönigs auf sich gezogen hatte, fuhr ihm nun mit vorsichtigen Händen über den Hals und die Schultern. Sein Hofmeister, oberster Diener, der jede Nuance seines Fühlens und Denkens teilweise noch vor ihm selbst zu erkennen vermochte, hatte sie ihm im Anschluß an die Festlichkeiten nächtens zuführen lassen.

Der Großkönig schloss die Augen und flog in Gedanken wie ein Adler über die undurchdringlichen Sümpfe, wolkengetränkten Gebirgszüge und endlosen Wüsten seiner Satrapien. Aus welcher Region seines verwinkelten Reiches sie wohl stammen mochte?
Was, wenn sie jenseits der bekannten Welt geboren war  – dort wo die Menschenleiber nicht geölt, sondern staubbedeckt, nicht wohlgenährt und weinselig, sondern darbend und dürstend, die Geister der Vorfahren nicht zeremoniell bedacht, sondern dazu verdammt waren endlos in karger Ödnis zu irren?

Wenn es so wäre, dachte er, könnten dann nicht die Geister in Ermangelung geweihter Tempel in die Menschen selbst schlüpfen und sie besessen machen? Ja, würde das den undurchdringlichen Blick des Mädchens erklären?
Während seine Gedanken noch schweiften, hatte das Mädchen in einer ihm unbekannten, sinnlichen Sprache leise zu singen begonnen. Er ließ sie gewähren und tauchte tief in die grundlose See der Träume.

Am nächsten Morgen war das Mädchen fort, die Sonne schien froh in die Gemächer, doch wollte sich in ihm kein rechter Tatendrang einstellen.

Nachdem er die Notdurft verrichtet hatte, gewaschen und angekleidet worden war, erschienen ihm die verzweigten Gänge seines Palastes, obgleich mit flinken, ehrerbietig gebeugten Dienern gut bestückt, verweist. Auch die ihm servierten, dampfenden Gerichte schmeckten fad und die das Mahl begleitende Musik wie schon tausend und ein Mal zu oft vernommen. Obgleich ihm, der alles besaß, das Vermissen unbekannt war und er darob suchend zweifelte, entging seine Einsamkeit dem Hofmeister schon seit Jahren nicht.

Jener stand leicht abgewandt – seine wahren Gedanken verbergend – und blickte durch die hellen Fensterbögen hin zum Horizont. Das Mädchen war aufgrund eines Briefes angereist, den er vor einigen Wochen verfasst und anschließend in Unkenntnis des Großkönigs mit dem königlichen Siegel versehen hatte, was, sollte es zu unbeabsichtigten Verwicklungen kommen, Verrat bedeutete – dem die grausamste aller Strafen galt.

Der Großkönig entließ sein Gefolge mit einer traurigen Geste, dem Hofmeister jedoch befahl er, Weise aus den verschiedenen Teilen seines Reiches, die in der Hauptstadt verweilten, zu einer abendlichen Audienz zusammenzurufen. Auch das Mädchen der letzten Nacht solle anwesend sein.

Als sich die Dämmerung über die Palastgärten gelegt  hatte und alle versammelt waren, sprach er zu den Weisen:

„Ihr weitgereisten Meister, erklärt mir dieses Mädchen – mir scheint, sie habe mit jenem, was ihre Augen zu flüstern vermögen meine Seele verzaubert. Sagt, was wohnt ihrem jenseitigen Blick inne, das mich die sonstigen, weltlichen Freuden vergessen läßt, das mich an das Fernste der Gefilde fesselt?

Nennt mir jenes, über unser aller Zeitenlauf und Geisteswelten immerdar thronende Unbekannte – so unsichtbar und doch so wahrhaftig!

Schaut sie freundlich an, aber redet nicht mit ihr, ich will nicht, dass ihr oder euer reiner Geist in Verwirrung gerät. Heute Nacht versammlt euch jenseits des Baldachins in meinem Schlafgemach und vernehmt ihren Gesang während sie mich liebkost.

Enträtselt mir bis zur morgigen Dämmerung des Mädchens klingenden Worte, ihre alles versengenden Augen und und den Ort ihrer Herkunft, so sollt ihr in Gold aufgewogen werden — versagt ihr, so lernt ihr das Fliegen und vereinigt ihr euch mit den Geiern. Geht nun!“

Am nächsten Abend, die Grillen zirpten und die Gräser dufteten, trafen sie sich erneut in dem von Wasserläufen durchzogenen und von Obstbäumen gesäumten Palastgarten.

Der älteste der Weisen trat vor und sprach:

„Herrscher der Welt, bitte empfange unsere Antwort ohne Groll. Sie ist ohne Rücksicht auf unser eigenes Leben erwachsen und wird uns alle überdauern. Bitte verzichte, sollte dir die Antwort genügen, auch auf die versprochene Belohnung in Gold, vielmehr wünschen wir das Recht dorthin gehen zu dürfen, wo Freiheit uns wiegt.“

Der Großkönig runzelte die Stirn, aber schwieg.

„Wir haben die Erscheinung des Mädchens auf zwei Ebenen untersucht – der weltlichen und der spirituellen.

So konnte uns der Haremswächter über ihre Abstammung Auskunft geben. Sie wurde im Osten, jenseits des Indus geboren. Ein Fürst an der Grenze eures Reiches hat sie einem Nachbarn geraubt und als Geschenk eurem Hofe überlassen. Er möchte seinen laufenden Feldzug erfolgreich beenden und hofft, indem er eure Gunst gewinnt, sich seiner westlichen Flanke sicher zu sein.

Das Mädchen verweilte während des Überfalls der Truppen des gewalttätigen Fürsten in einer Sommerresidenz der bekriegten Herrscherfamilie und wir vermuten, dass es sich um eine Tochter des dortigen Fürsten handelt, auch ihre umgänglichen Manieren sowie ihre gesangliche Ausbildung lassen darauf schließen.

Das Flackern in ihren Augen könnte sich durch ihre Ungewissheit bezüglich des Schicksals ihrer Heimat und Familie erklären lassen, durch ihre Wut auf den Feind, der sie entführte und ihren Wunsch Rache zu nehmen. Und doch: unter alldem musste eine weitere Quelle des Fühlens liegen, die wir zuerst nicht zu entschlüsseln wussten.

Da keiner von uns der Sprachen des fernen Ostens  mächtig war, eilten wir noch vor Beginn der Nacht in die Karawanserei und trafen einen weitgereisten Mann. Er trug nichts bei sich als einen Stock, ein Bündel und einen orangefarbenen Umhang. Er handele nicht mit Gütern, erklärte er uns, sondern mit Ideen, weshalb er ferne Länder aufsuche.
Nachdem er versichert hatte, dass ihm diverse Dialekte des Ostens geläufig seien, nahmen wir ihn mit, auf dass er uns die Bedeutung der Worte des Gesangs darlegen könne.

Als das Mädchen dann des Nachts zu singen begann, setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden, schloß die Augen und wir dachten, er wolle schlafen, doch er vibrierte, fast unmerklich. Tief aus seinen Lungen schien ein leises Summen aufzusteigen.
Nachdem ihr entschlafen wart und das Mädchen verstummt, kehrte der Geist des Reisenden in den Raum zurück. Er versprach uns am kommenden Morgen an der Klänge Sinn teilhaben zu lassen.

So es dann graute, fanden wir, die ob der vielen Rätsel kaum zu schlafen vermocht hatten, den Reisenden tief in den Gärten. Wieder saß er wie der Erde erwachsen, wieder waren seine Augenlider sanft geschlossen und wieder schien ein innerer Wind die ihn umgebende Zeit in Schwingung zu versetzen und zu krümmen.

Nachdem der erste Sonnenstrahl des Tages seine Stirn geküsst und das lustige Rascheln der Blätter seinen Ohren geschmeichelt hatte, erhob er sich mit einem Lächeln, verbeugte sich und lud uns ein, ihn langsam schreitend zu begleiten.
Und hier, edler Großkönig, beginnt die spirituelle Erklärung, die Anhaltspunkte für die mysteriöse, letzte Zutat der Blicke des Mädchens geben könnten.

Der Reisende sprach inbrünstig, aber zugleich gesetzt, als ob er in vollstem Respekt für die ihn umgebende Natur kein störendes Element hinzufügen wolle:

„Ihr seid darauf erpicht zu erfahren, was das Mädchen heute Nacht sang?
Geht in euch, konntet ihr es nicht hören? Konntet ihr es nicht fühlen? Schaut euch um, was seht ihr? Gärten, so weit das Auge reicht, Wasser, Pflanzen, Vögel. Was glaubt ihr, was hier vor tausend Jahren gedieh? Nichts! Nur Wüste, Wüste so weit das Auge reichte! Und in wieder tausend Jahren – ihr könnt es ahnen – wird  abermals Wüste sein, wo heute Fische springen. Ich will euch verraten, wovon sie sang, es war die Zeit! Ihre Worte lauteten:

Illusionen kreisen und wandeln,
Illusionen lenken das Handeln –

formen schaurig Greis und Kind,
wie der Regen spielt im Wind.

Doch auch sie soll’n einst — vergeh’n.

Als sie die letzten Worte wiederholt hatte, seufzte sie kaum hörbar ‚O Bruder!‘ und in mir wurde alles leicht — sie war die Schwester jenes ehemaligen Königssohnes, über den seit Kurzem landauf, landab des Ganges gesprochen wird.“ – der Reisende lachte spöttisch, aber zugleich liebevoll in sich hinein – „Es heißt, er legte die Herrscherwürde ab und begab sich auf einen Weg der Suche nach dem Sinn all dessen was ist.

Er wollte die Zeit überwinden, denn das Leben, das uns die Zeit gewährt, ist voll von Leid – und Leid sei nur mittels Meditation und Nächstenliebe beizukommen. Die Menschen, die ich auf meinem Weg zu euch traf, lieben ihn für das Beispiel seiner Bescheidenheit, obschon sie ihn zumeist nie gesehen haben.

Doch dass er durch seinen Verzicht auf den ihm per Geburt zugewiesenen Platz im Leben neues Leid erzeugt hat, dass – obgleich seine Motive hehr waren und sein Umfeld verständlich reagierte – die aus seiner Entscheidung resultierende militärische Schwäche die Bestien der Umgebung anlocken und somit seinen Mitmenschen Gewalt angetan werden würde, das konnte er nicht verhindern.

Wahrscheinlich war er sich vor seinem Entschluss abzudanken sogar der Konsequezen bewußt, der traurigen, harten Wahrheit, dass er für eine Chance auf das Wohl der Welt seine Nächsten zu opfern bereit sein müsse.

Um jenes Ziel, das Dharmachakra – Rad des Gesetzes des edlen achtfachen Pfades der Befreiung – ihm wies nicht zu verlassen, zog er sich in die Natur zurück und saß Tage, Monate – manche sagen sogar Jahre – unter einem Feigenbaum, trotzte Wind und Wetter, Auge in Auge mit Schlange und Tiger, Haut an Haut mit Büffel und Hirsch und ließ nach und nach alle irdischen Gedanken hinter sich. Am Ende hatte er die Zeit, die eine Illusion ist, durchdrungen und überwunden und konnte sich – wie ein Fisch im Strom – inmitten all ihrer Immanationen bewegen.

Er entschied sich unter den Menschen zu wirken und die Möglichkeit der Befreiung von der Illusion zu lehren. Dies geschah, versicherten mir Bekannte, vor wenigen Monaten und ich vermute, seine jüngste Schwester war Zeugin dieser, seiner Wandlung.“

Nachdem, o Herrscher, der Reisende uns seine Gedanken mitgeteilt hatte, verharrten wir für den Rest des Morgens stumm neben ihm, jeder von uns heilig in sich gekehrt, um, erfüllt von der Dimension des soeben Vernommenen, des letzten Rätsels ihrer Augen gewiss zu werden.

Als die Sonne dann des Mittags am höchsten stand, richtete sich der Jüngste unter uns – sein schwerkranker Vater hatte ihn gründlich unterwiesen und als seiner Vertretung würdig erachtet – plötzlich auf wie eine keimende Sprosse und er ruhte zugleich in sich wie eine glückliche Kuh. Doch, Großkönig, hört selbst, was er uns zu sagen hatte.“

Der Alte zog sich zurück und aus den hinteren Reihen der Gelehrten trat ein Mann hervor, dessen Haaar fast gelb war.
Er muss aus dem Westen meines Reiches stammen, dachte der Großkönig. Da sein Blick offen und sein Gang sicher war, strahlte er Vertrauenswürdigkeit aus.

„Dank euch, dass ihr mir die Ehre gewährt, meine Gedanken teilen zu dürfen.“

Der Großkönig stutzte kurz, denn der Mann hatte anscheinend vergessen, in der Anrede seinen rechtmäßigen Titel zu nennen. Trotzdem nickte er.

Der Mann fuhr fort:

„Wie mein Vorredner bereits ausführte, ist es zwar möglich, dass das Flackern in den Augen des Mädchens teilweise aus der Sorge um Famile und Heimat, die Wut auf den Feind und den Durst nach Rache gespeist gewesen sein könnte – doch was, wenn sie – ob der Kenntnis der Erfahrungen ihres Bruders – diese Kategorien längst hinter sich gelassen hat und stattdessen, während sie euch erblickte, die Unmöglichkeit eurer Seele betrauerte ebenso zu verstehen, wie sie bereits verstand? — Dass jegliche Sehnsucht, Suche nach Glück der Vergänglichkeit anheim fallen würde, dass alles was sie euch sein könnte eine Illusion von Staub in euren Augen sei.

Sie, die ihren Bruder liebt und an seiner Seite schritt, wie kann sie mit dessen Wissen weiter höfisch leben? Wie kann sie – wo Oberflächlichkeiten und Prunk grassieren – der Tugend dienen? Das Flackern in ihren Augen waren verzweifelte Fragen, hoffende Bitten, ihre Worte und Klänge: Tränen.

Nichts anderes wird sie aus diesem Zustand erwecken, wird sie Frieden finden lassen, als dass ihr sie als eine euch Gleiche behandelt, ihr zudem Möglichkeiten gestattet sich zu entfalten wie ihr Gemüt es verlangt und auch die Gelegenheit zugesteht, der weiten Welt heimwärts Erhelltes zu lehren.

Nördlich der Region in der ich geboren wurde, leben fahrende Männer und Frauen – sie sind Meister im Reiten, Bogenschiessen und fertigen feinsten Goldschmuck an – in solch einander bedingenden, ebenen Gemeinschaften.

Glaubt mir, sofern ihr es in Erwägung zieht sie zur Hauptfrau zu erklären, wird euch diese Prinzessin des Ostens klarsichtige Kinder schenken.“

Der Mann zog sich zurück und der Alte wandte sich mit abschließenden Worten an den Großkönig:

„Wie ihr, o Herrscher, nun mit unserer Antwort verfahren wollt, sei eurem erlauchten Geist überlassen. Doch ich bitte euch, solltet ihr unserer zürnen, gestattet Abschied von unseren Familien nehmen zu dürfen und ihnen die neu erlangten Weisheiten zu vermitteln. “

Der Großkönig verharrte für einige Momente, nahm dann, als habe er eine fröhliche, innere Stimme vernommen, die Hand der Prinzessin und sprach zu den Anwesenden:

„Gelehrte, Reisender! Dank sei euch und eurer Weisheit. Von Osten bis nach Westen reicht sie, von Norden bis Süden, unendlich ist sie, überwindet selbst die Illusion der Zeit. Hier in diesem Geschöpf, hier in ihren Blicken und Worten finde ich Zuflucht.

Hier, bei mir, soll sie, sofern es ihr beliebt, bleiben und den Zauber ihres Geistes mit der uns bekannten Welt teilen.“

Er lächelte sie zufrieden an, während er sich langsam – zum ersten Mal in seinem Leben – auf die Erde setzte.

 

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(Inspirationsquelle & Vertonung: Pearls Before Swine – These Things Too)

Spaziergang I

Der Morgenregen
hat das Fallen eingestellt, erste Hitze
in der Stadt und ich fremd
im fremden Viertel.

Bejahrte Wesen joggen sich jung,
jemand schließt resignierend das Fenster,
eine Haustür schnappt ins Schloss.
Katzen streunen, unzufriedene alte Männer
queren die Straße. In den Betten
die Nachtvögel jetzt, erschöpft
von Geschäften.

Durchs Vierteljahrhundert
mein Schritt, unter frischgetünchten
Fassaden alter Häuser, längs penibel
rasierter Hecken, vorbei an der
bankrotten Kneipe.

Frieden. Satter Frieden überall.
Ein weißer Vogel fliegt auf, nicht
von Picasso.