Aufbruch der Knospen

Ein Tag, so kahl
wie Bäume im Winter. Nichts, und doch,
der Sommer kommt, sobald sich
die Erde aus dem Schlaf windet, die Erde,
der blaue Stern.

Wir reden nicht von Gefühlen,
sie überdauern die Regen nicht, die aus
Melancholien stammen, die wir
uns nicht erklären können,
ob wir auch wollen.

Wer spricht von den
Apfelbäumen, die blühen werden,
wenn schon die Tage voll Licht schwinden
und die Züge immer noch
pünktlich fahren?

Wach bleibt das Erinnern.
Was große Worte? Wir haben sie
hinter uns. Sieh die schwangere Pappel
am Straßenrand, sieh den Aufbruch
der Knospen.

Alte Wege

Nebel zieht über das Moor,
und die Töne der Vögel zittern.

Einst schrieb die Zeit
Falter an Felsen.
Zwischen Heidekraut liegt das Leichte
unter meinen Füßen.

In der sumpfigen Wiese
sprachen wir uns stumm.
Jeder Laut wog schwer
und sank.

Gestern füllte ich die Taschen
mit fossilen Worten
und legte sie in Farben.
An ihren Rändern
ist die Sprache bunt.

Neue Themen

Die hohe Jury hat getagt und endlich den Beschluß gefaßt: für die nächste Inskriptionen-Ära laden wir euch ein, zu Themen, die die dänische Dichterin Inger Christensen inspiriert hat, eure Beiträge zu ordnen. Zur Auswahl standen Kategorien aus der Modewelt und aus der Welt der Mathematik/Geometrie – die jedoch nicht das Rennen gemacht haben… In ihrem berühmten Sonettenkranz „Schmetterlingstal“ und ihren Essays hat Inger Christensen zahlreiche peotologische Begriffe kombiniert, die ein erkenntnistheoretisches Interesse andeuten: Mysterium der Realitäten, Schatten der Wahrheit usw. Wir haben einige dieser Genitive aufgegriffen und mit Hilfe der Wortschöpfungskraft der deutschen Sprache zu zusammengesetzen Substantiven montiert, damit ihr beim Schreiben etwas Spielzeug habt …

Die neuen Kategorien Inskript 9

Tiere

„Es gibt ein Instinktverhalten, aber keinen Fortpflanzungstrieb. Dass daraus Nachkommen entstehen, ist bei Tieren nicht gewollt.“ Auf dem lockeren Boden hinterblieben die Abdrücke ihrer Schuhe. „Es ist den Tieren unbekannt, Eduard. Wollen oder nicht wollen setzt das Bekanntsein der Konsequenzen eines Verhaltens voraus. Gib deine Schönheit immer hin. Kein Tier ist dazu in der Lage.“ „Mein Lieber, du bist hoffärtig. Die Intentionalität ist auch bei Tieren vorhanden. Ohne Rechnen und Reden. Überhaupt – wenn auch in reduzierter Form – bei jedem Wesen mit einem Gehirn. Meine beste Kraft soll sein wie ein Trieb.“ Eduard trat auf eine Nacktschnecke.

Warum redeten die beiden über Tiere? Warum verschafften sie sich Nähe zu ihr, obwohl sie doch aneinander genug hatten, wie Katzen um einen besonders gehaltvollen Brei schlichen sie um Esther herum und rieben sich das Fell an ihr, bis die Funken stoben. Sie fühlte den Wind von einem großen Blatt. Dabei hoffte sie im Stillen, es möge der Glanz von einer neuen Seite sein.

 

Glücksschmied

Von den Schlägern
war nichts mehr zu sehen, als die
Polizei kam, nur der Obdachlose
in seinem Blut, das herumliegenden
Papptellern eine curryähnliche Färbung
verschaffte, hätte aussagen können,
wie er zu Tode kam.

Das Regionalblatt von A.
druckte angesichts der Sensation in einem
gediegenen Ostseebad das gerichtliche
Eingeständnis eines der Täter, dabeigewesen
zu sein, als er und seine Kumpel
dem Schlafenden so lange auf den Kopf sprangen,
bis sein hässliches Stöhnen verstummte.

Er bedaure die Tat, sagte er, aber
dieses arbeitsscheue Stück Mist ruhte
sich aus, während er und seine besten Freunde
rackern mussten, bis ihnen der Schweiß
aus den Poren rann. Und schließlich,
fügte er überzeugt hinzu, sei bekanntlich
jeder seines Glückes Schmied.

pilgerwege

aus dem fels breche ich blumen
brechen tauben aus deinen augen
spiegeln sich straßen in den klüften des himalaya
gewohnheitsmäßig schauen wir himmel
lassen monde unser haar streifen
und halten höllen in unseren händen
steine häufen wir zu gräbern auf
und am mittag knien wir vor erinnerungen nieder
die gebrochenen blumen tausche ich gegen silberlinge ein
und die tauben gegen gold
in deine augen streut der wind
sand aus heiligen ländern

Ein Telefon namens Nutella

für Gespräche mit dem Liebsten
Fahrplan-Auskunft, Orientierung im Gelände
auf der Suche nach dem Polarstern
Großer Bär im Taschenformat
brummt unaufdringlich
aber nachhaltig – alle Helfer
beisammen für den langen
langen Weg in die Wüste
übers Meer, das Große Geheul
könnte nicht unaufdringlicher
dringlich durchdringender
sein – X-ray for X-mas
Allen Ginsberg
hätte daran seine Freude
für uns alle die
wahre Freude finden können

Alle Helfer beisammen für
den Weg durch die
Institutionen
Perforationen
eines lang andauernden
Gelächters, Gelichter
vom anderen Ende des Universums
mit uns einträchtig
versammelt im Ladungs
verteilungsplan des
elektronischen Ge
dächtnisses & die Sehnsucht
nach dem Nullniveau

Eisheilige

Mein zerzaustes Gedächtnis
sammelt die Bruchstücke von Jahren,
ein Ziehen im Herzen, nichts weiter.
Was auch geschehen, das Große, das Kleine,
die Spuren verwischen sich.

Auch dieses
wolkenverhangene Pfingsten
ist morgen von gestern. Pfingsten? Ach,
was ist das, keine drei Rathaushähne
knarren danach.

Nichts Neues, immer
das Alte, wer erinnert sich noch, alles
kommt wieder, auch die alten Gestalten,
das frische Blut in mitleidlos
verzerrten Gesichtern.

Und wenn du mir sagst,
der Frost wird irgendwann gehen,
ich glaube es dir, schlurfen wir Eisheiligen
doch in Pantoffeln durchs Dasein
und erfrieren an uns.

Die Welt nach Durchqueren der Pforte zur Ewigkeit

Alles ist durchsichtig geworden.
Alles ist durchsichtig geworden.
Eine Grenze durchzieht den Blick,
die ist nicht mehr nur
Oberfläche von Dingen.

Wer bin ich? Was tust du?
Wem können wir unsere Fragen
stellen, wenn nichts mehr
seine Oberfläche
zeigt?

Zeig mir – Sag mir – Berühr‘ mich:
möchte ich dich bitten,
doch ich bitte dich
nicht.

Warum?

Alles ist durchsichtig geworden,
die Kraft
sich etwas zu wünschen
ist nur noch ein Etwas, nicht
der Erwähnung wert.

Warum erwähne ich
das überhaupt?
Haben diese Worte hier
überhaupt noch eine Kraft?

Warum sollten sie Kraft haben,
reicht es für sie nicht
sinnvoll zu sein?
Nein.

Warum? Warum?

Unter der Oberfläche
Ist das Unsichtbare, das nichts
aber auch gar nichts mit mir
zu tun hat.
Unter der Oberfläche
sieht alles seltsam verzerrt aus,
man möchte glatt
aufhören zu atmen.

Möchte ich dich bitten…
Deine Antwort greift ein in
meinen Zyklus
meinen Rhythmus – deine
Antwort bin ich
und nicht ich.
Nicht mehr

Was von der Rose blieb

Nicht meine Schuld,
dass die Schönheit lackierten Larven
gewichen, dem willigen Leugnen –
wer klug, schweigt sich aus der Welt,
hinter die Wand der Wörter.

Lichtlos gehen die Tage,
das kostbare gute Wort in der Schleuder
des Schlussverkaufs, und die Grimasse
jedes lächelnden Menschen
hat ihren Preis.

Wie sie wiederfinden
in dieser Welt zertretener Seelen,
jene Schönheit des Wirklichen, ohne die
selbst die prachtvollste Rose
zum Scheusal wird.

***

Er war ein Dandy, der Extravaganzen schätzte, die er sich gar nicht leisten durfte: Debussy verdiente schlecht, Publikum und Kritiker waren ihm kaum gewogen, er selbst zweifelte an seinen Fähigkeiten und klagte 1893 in einem Brief: „Da bin ich nun 31 und meiner Ästhetik gar nicht sicher. Noch immer gibt es Dinge, die ich nicht fähig bin zu tun — zum Beispiel Meisterwerke zu erschaffen.“

(Der Spiegel, 5.1.1970)

Weitere Geschichten vom Vater

Teil II

Seine letzten Sätze  begleiten mich seit dem Tag im Frühling, an dem ich Vater zum Mittagessen holen sollte. Ich stürmte in das Schlafzimmer hinein und rutschte auf dem Hosenboden zu der bleichen Gestalt, die am Bettrand saß und mit entrücktem Blick auf das Blut starrte, das pumpend aus seinem Arm schoss. Auf dem Linoleumboden hatte sich ein roter See gebildet, dickflüssig und rot-lackiert. Ich saß in dem See, meine Hände badeten im warmen Blut. Ich rieche es noch heute, süß-sauer, wie meine Lieblingssauce im Asia-Shop, der sich neuerdings Indochine nennt. Von diesem Tag an sprach mein Vater noch einige wenige Wörter. Laute Worte im Schlafzimmer, gedrückte Worte am Küchentisch, weinerliche Worte in der guten Stube. Auf Knien flehte er die Mutter an, ihn bitte nicht allein zu lassen. Es gäbe sonst keine andere Möglichkeit für ihn, als die Kinder zu Krüppeln zu schlagen. Es dauerte nicht lange und mein Vater nahm das Abschleppseil  und ging in den Wald. Da er nicht allein sein wollte, nahm er seine Kinder mit. Das war auch nicht weiter verwunderlich, hatte er es doch schluchzend, aber  deutlich  meiner Mutter angekündigt.  Mein Vater war zwar kein Pendant, aber er hielt seine Ankündigung und schlug seine Kinder, also uns, in der Absicht, unser Leben zu beenden. Um  sicher zu gehen, beugte er sich über die scheinbar leblosen kleinen Körper. Ich öffnete die Augen und sah das vertraute, seltsam weiße Gesicht. Es war umrahmt von schwarzem Haar, das in weichen Wellen bis zu den Augen fiel. Es waren blaue Augen,ungetrübt, groß und klar. Vaters volle Lippen, die leicht bläulich schimmerten, öffneten sich und eine Stimme, hoch und brüchig, flüsterte: „Das ist die Schuld deiner Mutter. Sie war sehr böse zu mir.“ Dann wendete er sich ab, ging einige Schritte durch den Wald auf der Suche nach einem staatlichen Baum und beendete sein Leben. Mein Vater stand an diesem heißen Augusttag in seinem dreiunddreißigsten Sommer.

 

Featuring Tsoi : X Quadrat : Stern mit Namen Sonne

Schnee weiß, graues Eis
Auf rissigem, geborstenem Grund.
Warme Flickendecke liegt auf ihm:
Die Wege der Verkehrsknotenstadt.

Und über ihr schwimmen die Wolken,
Decken das Himmelslicht zu.
Und über ihr hängt gelber Dunst,
Zweitausend Jahre ist sie alt,
Durchlebt unterm Scheinen des Sterns mit Namen Sonne…

Und zweitausend Jahre lang Krieg
Ohne besonderen Grund,
Dieser Krieg bleibt ewig jung –
Dauerpille gegen die Falten.

Auf der Erde schwimmt rot das Blut,
Die nächste Stunde saugt alles fort,
Die nächsten zwei zeigen Blumen und Gras,
Die nächsten drei töten allen Schmerz
Und erwärmen uns durch Licht des Sterns mit Namen Sonne…

Und wir kennen das alles sehr gut,
Kennen sie, die das Schicksal liebt,
Die da leben nach anderem Gesetz,
Die da sterben, ewig jung.

Sie kennen nicht die Worte ja und nein,
Alle Namen und Ränge ein Nichts,
Recken sich bis ans Himmelszelt,
Nicht im Traum und nicht für Geld –
Fallen brennend aus dem Himmel des Sterns mit Namen Sonne

Ebbe

Salz hängt spröde an den Klippen
meiner Träume,
und die Wellen rauschen nur von fern.

Ich gleite von den windgepeitschten Hügeln.
Immer tiefer
falle ich zu dir.

Einst wiesen deine Blicke meerwärts,
blaue Ruhe vor dem Sturm.
Dann warf ich in dir Anker.

Gedichte a priori

Wozu Gedichte? Die alte Frage
streicht den Kern der
Dinge einfach
durch.

Durchstreift die Gegend
zwischen allen
menschlichen
Angelegenheiten, ein Kater
mit Kopf Herz
& Schnauze.

Die Frage aus dem Kater
tönt hell, klar
strahlt das Licht
durch den Himmel.

Prolegomena eines elementaren
Strahlens, X
Quadrat der Rest
begegnet sich als Punkt
an der Grenze.

Ein Schlauchboot beladen
mit Resten, X
potenziert in der
Ansammlung Welle um Welle.

Die neunte trägt das Schicksal
unterm Scheitel:
Vorherbestimmt
die Wirkung der Elemente,
Vorherbestimmt alles
was geschehen wird nach
dem Gesetz –

wessen Gesetz? welche Begründung
dung für das Denken,
wessen Denken, Punkt
mitten im Satz.

Mitten in der Sprache ein
Ort, keine Mitte –
knapp
daneben blinkt
das erste Satzzeichen auf:

Stern & namenloses Streben
nach Eröffnung eines
Raums, abgetrennt
von allen menschlichen An
gelegenheiten…

Die Zeichen erscheinen in der Sprache
als Pilze des Universums.
Die Wesen erscheinen in der Welt
vor der Grenze allen Fragens
& Denkens.

Blinken
auf & verschwinden,
wer
kennt schon alle seine
Atome, X
potenziert in den gebrochenen
Dimensionen

der Zeit
des Raums
der Bewegung
vor aller Bewegung.

Und wieder verstrich eine Gelegenheit
menschlich zu sein,
wieder schob sich ein Stück
Sprache vor das Denken,
wieder schlug das Herz
dreimal ohne Pause
Opfer
wessen? nach dem Gesetz
von Ursache und Wirkung

Namenloses Nest

Wir begriffen es nicht,
dieses Dorf mit dem offenen Himmel,
den verschlossenen Blicken.
Die Nachmittagssonne, die über dem
Anger lag, schien melancholisch,
als erinnerte sie sich
besserer Zeiten.

Wir mit unserem
Städterverstand liefen herum
um die verriegelte Feldsteinkirche,
vergewisserten uns ihrer Unversehrtheit,
pflückten Holzäpfel aus dem Pastorengarten,
bestaunten vermooste Grabsteine
ausgestorbener Adelsgeschlechter.

Es gab nichts zu sagen.
Wir hüteten uns, an verborgene Dinge
zu rühren, wir fanden die Worte nicht, hier
im Dorf der begrabenen Träume,
von dem vorzeiten ein Dichter schrieb,
er habe sogar den Namen vergessen
über so viel Traurigkeit.

Lebenslügen

Die Glückszustände werden rar,
Leiber sind wir, voll des Schmerzes,
Ertrinkende im Meer des Daseins.
Wir glauben es nicht.

Der Preis ist hoch:
Leben ist Verzicht, Verzicht ist Leben,
vorsorglich versichern wir uns
goldener Tage. Uns bräche das Herz,
nähmen wir kommende Entsetzlichkeiten
zur Kenntnis.

Erinnern einzig,
mit dem Blick auf die Erde, auf die wir
einst kamen. Unsere Lebensreise
ist nüchtern, auf Vorteil bedacht, leer
wie unsere Hände.

Wir sind auf der Flucht,
gefesselt an die Last verworfener
Einsichten, wir gehen unsere Wege, aber
wer weiß schon,
wohin.

In eigener Sache

So – nach langer Zeit meldet sich der Admin mal wieder. Was verborgen blieb: in den letzten Wochen hat sich immer wieder unsere Jury getroffen und die Beiträge der letzten zwei Jahre – von April 2014 bis März 2016 – gelesen, durchforstet und ausgewählt: Wir planen Band 8 der gedruckten Inskriptionen, der vielleicht schon im Sommer spätestens im Herbst erscheinen soll. Demnächst schreiben wir alle Autoren der ausgewählten Beiträge an…

Und dies heißt auch, dass das Motto der gesplitterten und gestundeten Zeit nun Geschichte ist – obwohl es noch angezeigt wird. Bitte schreibt uns eMails an post@l-lv.de und teilt uns eure Vorschläge für Themen der nächsten Periode mit. Wir sind gespannt!

Still-Leben

Jahr um Jahr geht
ins Erinnern ein, und noch immer
derselbe Märchenmond,
dieselben Paradiese.

Schwer drückt die Zeit
auf die Seelen, die schon
gestorben sind an den Kriegen
oder am Leben.

Unendlich die Nacht,
die kalt in die Fenster weht
mit ihrer Trostlosigkeit, der Angst
vor dem Dunkel.

Und wir denken,
das alles müsse für ewig sein,
unwandelbar, dieses Ungreifbare,
das uns gefangen hält.

die entdeckung amerikas | kar freitag

I
das tier biegt sich im wind
das tier ist ein kind
das kind kehrt heim
aus dem krieg
über das gebirge ziehen
herden von küchenschellen
und steinbrech

du wirfst ein dorf in die landschaft
konzentrisch bewegen sich kreise
von ferne darauf zu
fliehen die kinder
mit den tieren in den wald

das kind ist alt sehr alt
viel älter als die welt
als mama und papa
nicht so alt wie die drachen
vielleicht zwei jahre oder vierhundert

tauben gestreut in augen
blicke weit weg

II
mit großer geduld essen wir
falterflügel in der hoffnung
dass wir fliegen lernen
und durchsichtig werden
dass der tag uns heimat bietet
und die nacht uns loslässt
ein anderes mal wollen wir
fische sein eins mit dem schlamm
am grunde des meeres
überhäufen wir unsere kinder
mit schmerzen um ihnen ein langes leben
wie unseres zu ersparen

III
die schatten der hauswände stürzen auf den gehweg
von den dächern weht schnee
du wechselst in die mitte der straße
bei der u-bahnstation am warschauer platz

triffst du zwei dichter
von früher
auf polnisch singen sie dir lieder von schwarzstörchen
auf der reise über die ebenen und flüsse
zittern deine lippen
wenn du an jacek denkst und andrzej
auch sie waren dichter und sangen
von den zügen in die lager
als sie kinder waren und auf gleisen spielten

IV

tauben gestreut in augen
blicke weit weg
in deine wohnung kehren stimmen zurück
leise
und laute
sitzt du in kurzen hosen
draußen im sandkasten und bist
indianer
in den gebüschen lauern die feinde
ruft mutter vom fenster zum essen
eine tote amsel in einer pappschachtel
begräbst du neben dem holunder

vom zahnradkranz springt eine fahrradkette
knallt auf das gehwegpflaster
durch den schmiedeeisernen zaun eines vorgartens
beobachtet dich häuptling großer wolf
wie eine büffelherde ziehen die autos
an deinem gestürzten pferd vorüber

dicht über das prairiegras schweben
flugzeuge durch die geöffneten fenster
einer leeren wohnung
fährt vater zur see und mutter
begleitet die amsel ein stück
auf ihrem weg zum himmel

 

Allschallué

Dann ertönte vor dem klaren, sternschwangeren Nachthimmel Afrikas eine sprechende Trommel. Ihr Klang ahmte das Auf und Ab freundlicher Scherze, heftiger Streits, entrückter Körper nach, das fragende Schluchzen unbewußt verwobener Dimensionen – und stellte somit  unwillkürlich jedem Hörer, egal welchen Charakters, die Frage nach dem letzten Geheimnis. Ebenjene Frage, deren Form schon ihre unfassbare Antwort vielversprechend andeutet und doch zugleich auf ewig verschattet.

Geschriebene Worte vermögen dir ein Schmunzeln zu schenken, ihre Nuancen eine Gänsehaut erzeugen, manchmal vielleicht gar einen Schweißausbruch. Aber eine Trommel aus weichem Fell, straffer Haut, einem wohlgeformten Stamm – eine solche Trommel, die zugleich spricht! – vermag den Geist so viel weiter zu tragen, raunte sie mir zu und schwieg dann – obgleich mir war, als ob sie inmitten meines Herzens unaufhörlich leise weiter flüsterte – bis zum Ende dieser reichen Nacht.

Märzensonne

Traurig die Schatten der Sonne
im März, die auf das Straßenpflaster
stürzen in die ewigen Zweifel,
die Unentschiedenheiten
des Menschen.

Entsetzlich das Wissen um die
Vergänglichkeit von Zeit – lebenslang
der Uhrschlag zwischen kalkigen
Wänden, mit dem Perpendikel
der Angst.

Und weiß, so weiß
überm Glanz der Erwartungen
die Märzensonne, deren Schatten
viel zu schwarz, als kämen sie
aus der anderen Welt.

DER KRIEG WAR AUS

für einen Moment, die Engel
hatten sich
von ihren Nadelspitzen erhoben
und ließen stumm im Gedächtnis die
sämtlichen Ziffern der Zahl
Pi abrollen.

Die Kurse an den Börsen
des Nordens standen still,
der atlantische
Ozean wiegte sich, wiegte
sich fast

allein unterm Mond.
Standbild der Geschichte.
Standfoto.

Morgenminiatur

Die Straße, die Häuser,
zehn Etagen, die Dächer
von Krähen und Tauben bewohnt,
Halbtote in späten Betten,
milchigen Traumstaub
in den Lidern.

Hauptstraßenwahnsinn
schon am Morgen, das Ding ohne
Anfang und Ende, und der neue Mensch
in verkrusteten Schläuchen, alt wie
das Klacken der Kirchturmuhr
im Rundlauf der Zeiten.

Die Straße, die Häuser,
die taube Sanftmut des Himmels –
gestaltlos weht Zukunft ins Haar,
morgens, wenn die Stadt sich
taumelnd dem Mahlwerk
des Tages ergibt.

Ostwestfalen Lippe

Auf Pirsch durchs Städtchen : das verschlafen
In den Abend dämmert : Spielhallen : Kneipen
Hier drehen sich die Türen : das Pflaster
Ruht : vereinzelt klappern Schuhe

Wer ist noch unterwegs : in dieser Frühe
Der Fluß strömt dunkel schweigend vor sich hin
Er wüßte zu erzählen : wer über die Brücke ging
Wer Zerstreuung sucht und wer das schnelle Glück

Die Füße wund : ich drehe meine Runde
Nichts hält mich auf : nichts zieht mich rein
Ich rolle mich im Schlaf : was für ein Kater

Ewige Blumenkraft

Fröhlich hüpfen kleine Frühlingstropfen auf dem Balkongeländer umher, ein wenig Wind pfeift leise und nicht gerade kalt dazwischen. Stiefmütterchen, gelb und blau, violett und orange leuchten heiter inmitten hellen Himmelsgraus.

Sprache – denke ich mir, fragen sie – kann Sprache uns erkennen? Lacht ihr mit uns, wenn ihr unsere Blüttenblätter flirrend segeln seht? Oder verlacht ihr viel eher unsere farbenprächtig zur Schau getragene, kindliche Eitelkeit?

Vorsichtig und einfühlsam, wie wohlwollende und aufmerksame Freunde, rutschen zwei kleine, spielende Tropfen das Blütenblatt der großen, gelben, nachdenklichen Anführerin herunter.

Was für eine Antwort würde dem hypothetischen Interesse der Stiefmütterchen an menschlicher Art und unseren Absichten wohl gerecht werden?

Vielleicht, dass auch unsere Körper  das Gleiten, da sie auf dem Parkett des Lebens elliptisch mit der Liebe zu dessen Gestalt  auftanzen genießen?

Dass auch unsere Seelen das in der Individualität der Liebe angelegte Missverständnis des unsicheren Fremden, des überheblichen Nahen trübt – und sie trotz allem stets jenen grinsenden,  mysteriös wie Polarlichter schweifenden, ach so vielversprechenden Ewigkeitskaskaden lüsterner Blumennebel nachschauen?

Das gelbe Stiefmütterchen richtet das Blütenblatt etwas auf,  ihr Durst ist vorerst gestillt.
„With a little help from my friends“ summt es dankbar, scheint mir, durch feinste Kapillaren.

 

 

Zwielicht

Träume ich, oder wache ich?
Friere ich, oder ist das Hitze?
Habe ich es nun begriffen?
Wird es nun gerade Winter, oder wird es Sommer?
Zwei plus zwei, oder zweimal zwei?
Zwei hoch zwei?
Hochzeit gar?
Bin ich noch in der Schule, oder ist das schon ein Altersheim?
Was feiern wir eigentlich?
Geburt? Begräbnis?
Kommt es denn auf mich wirklich an an diesem Staatsfeiertag?
Ist dieser Wille nun allgemein oder tut er nur so?
Tut was? Tut nichts?
Tut keinem was zuleide?
Keiner Fliege? Keinem Elefanten?
Verspricht dieser November einen April?
Ist es ein Traum, ist es ein Datum?
Bin ich zählend nun bei einer Million angelangt, oder ist es schon eine Milliarde?
Schach oder Go?
Bin ich die Regel oder eine Ausnahme?
Ist das nun Leben oder Sterben?

Lebenslügen

Die Glückzustände
werden rar, wir sind Leiber nur
voll Schmerz, in Rückspiegeln
Ertrinkende, das große Wort
führt der Verzicht.

Erinnern einzig,
mit dem Blick voll Erde, auf die
wir gekommen, damals, als die Winter
anbrachen, als die Krähen kamen
aus kalten Regionen.

Wir glauben es nicht.
Uns bräche das Herz, nähmen wir
kommende Entsetzlichkeiten zur Kenntnis,
wir versichern uns goldener Tage,
wir sind gar nicht hier.

Dies unser Licht.
Wir fliehen durch die Jahre,
suchen den Weg, der hinausführt aus
dem Verhängnis, doch wer
weiß schon, wohin.