Gesang im Nichts

hörst du das Nichts?

siehst du das Nichts?

augen tot

ohren tot

mund kann reden, singen, lachen

ohren hören

mich und schwarz

augen sehen

mich in schwarz

nichts ist schwarz

ich

bin

nichts

ich bin schwarz

schwarz ist dunkel

schwarz ist stark

ich bin stark

hör, mein ohr!

sieh, mein auge!

sing, mein mund!

Ich. Bin. Stark.

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Erörterungen:

Dieses Gedicht ist inspiriert von Dunkelhaften im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Über 2.500 junge Menschen wurden durchschnittlich pro Jahr willkürlich weggesperrt. In 30 verschiedenen Jugendwerkhöfen. Torgau war einer von ihnen.

Ein Ort der vielfachen Demütigungen, Strafen und Isolationshaften.

Ein Ort in der DDR.

Glück

Flammen sprangen,
deine Lippen auf meiner Haut.
Gebannt ich, der Durst
in deinem Blick.

Nicht wissen, was geschah.
Ich kam mir nah, nie war ich schöner,
nie flog so mir das Haar.
Tu mir nie weh.

Meine Hand in deiner.
Schweigen, du greifst zum Glas.
Das Wunder: Du. Dass du
bei mir bist.

Barock

Esther geht durch die Reihen und markiert sie mit ihrem Duft. Von dem sie nichts weiß, in der Sekunde, in der er verströmt wird. Weil sie in Gedanken schon den Berg hinuntergeht in Richtung der Stadt. Am schmalen Fluss, gekrümmte, mit Bäumen bestückte und kurvige Gassen entlang. Das nennt sie die kahle Romantik des Abends. Morgen wird sie arbeiten. Als Konditorin in einem der ältesten Cafés der Stadt, Lloyds, den Gästen wird sie Kuchen mit Sahnehauben servieren, sich in die nächste Welt zwischen die Lichtstrahlen und in die Lücken der Stadt führen lassen. Esther kreuzt Straßen, ignoriert das Hupen der Autos, wenn sie der Stadt in ihre Mitte geht. Wenn sie an den kolossalen, barocken Herzen der Stadt vorbeikommt, an Herzen aus Stein, denen von allen Seiten her Bypässe und Katheter angelegt sind. Zwischen den Steinen und Rundungen, den Kuppeln, Fürstenfassaden, zerschlissenen Glanzpromenaden trübt sich ihr Verstand. Esther steht an einem Geländer, an dem entlang eine Treppe zu allen passenden Gebäuden führt, zum Zwinger mit seinen Gemälden, der Hofkirche, die wie zusammengewachsen mit dem Schloss erscheint, ein siamesisches Zwillingspaar, gedrückt auf einen Fleck, zusammengeklatscht zwischen den Händen eines fetten Aristokraten.

Ohne Zucker

Tage gibt es, da denke ich
an dich, ganz ohne Anlass, ich sehe dich
noch sitzen am Tisch, morgenmüde,
die Zeitung im Blick.

Du warst mein ganzes
Zuhause, nicht schwer, auch nicht
leicht unser Zweisein. Und ja, du trankst
den Kaffee ohne Zucker.

Wie du am Tisch saßest.
Seltsam, dass ich gerade jetzt an den
Zucker denke. Als gäbe es sonst
nichts zu erinnern.

Für diesen Blick

Für diesen Blick: von Meersburg übern See,
ein fließend Blau, von Rebengrün umhangen,
der Säntis wie ein Felsgewölk, von Schnee
zart übersilbert, – welch ein Heimverlangen

in diesem Blick und welch ein Abschiedsweh! –
In diesem Blick ist alles eingefangen,
was heimatlich durchträumte uns seit je, –
in diesem Blick ist alles aufgegangen,

was uns die Zeit erfüllte schwermutbang, –
für diesen Blick bin ich in Leid ergraut
und trug ich einer Fremde Missgeschick, –

für diesen Blick – von diesem Blick durchschaut –
hielt ich nicht inn im Gang, mein Leben lang,
für dieses Blickes ewigen Augen-Blick.

Johannes R. Becher

Auf dem See

Und frische Nahrung, neues Blut
Saug ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!

Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf.
Und Berge, wolkig himmelan,
Begegnen unserm Lauf.

Aug, mein Auge, was sinkst du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! So gold du bist;
Hier auch Lieb und Leben ist.

Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne;
Weiche Nebel trinken
Rings die türmende Ferne;

Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.

Johann Wolfgang von Goethe

Der See, er schwieg

Der kleine See lag still, als ob er schliefe,
kein Vogellaut, der sich aus Lüften schwang.
Vom fernen Dorf ein leiser Glockenklang,
es war, als ob mich eine Stimme riefe.

Am Ufer stand ich, blickte in die Tiefe
des Sees, wohl mehr als nur minutenlang.
Hoch über mir bog sich ein Felsenhang,
so hoch, als ob die Wolke drüberliefe.

Ich fragte mich, was ist des Lebens Sinn,
woher wir kommen und wohin wir gehen
und was aus dieser Welt wird fürderhin.

Der See, er schwieg. Von irgendwo ein Wind,
fuhr durch die Bäume, ließ das Laubwerk wehen.
Ich fühlte es, er war mir wohlgesinnt.

an der halte:schwelle

Wenn ich gedichte schreibe, schriebe nicht ich, sondern die sprache selber, die sich über:schlägt …

an der halte:schwelle
abfahrt richtung alltäglichkeit
am bahnsteig drei b
sind wir zu lange zusammen:gezogen[e]
zug:ab-teil:ung von rücksicht[ab]nahme
zur teilnahmslosigkeit
höre wir nicht – auf gewohnheit
den beschissensten grund:los
schwebt man
in takt:[g]leise[n] hinweg
:was weiß denn ich wohin:
verliert man sich aus den augen:blick
zu:rück:spiegel:ung
alter tatsachen
die keinen re:wind kennt
nur rücken:wind – der vorantreibt
ergibt man sich dem hingeben
an der halte:stelle
drei b

Schlachthausblues

i.m.L.C.

Eins-zwei-klappt es
hier wie dort,
das Meer ist der Hintergrund.

Drei-vier-schlägt es
sanft & wild,
sich selbst überschlagend.

Fünf-sechs-zählt es
nun schon
aus dem Gedächtnis heraus.

Sieben-acht-bringt es
sich auf Kurs,
Bibliotheken oder Konzert – open air.

Neun-zehn-bleibt es
immer diesseits,
so weit die Finger reichen.

Elf-zwölf-plant
es sich
ein Konzerthaus für alle Instrumente.

Drei-zehn-fällt es
hinter die
Uhr, der Uhrenkasten besetzt.

Vier-zehn-flieht es,
Angst essen
immer den Frühling, den Früh…

Fünfzehn & sechzehn,
holprig nun
wie der Holzkarren.

Siebzehn & achtzehn,
auf der Land
straße: Zaunspfähle, Strommasten.

Neunzehn, zwanzig und
Schluss damit –
die Messer messen nicht mehr als ist.

Nachricht aus der Provinz

Nichts wissen wir,
ein schwaches Ahnen nur, was sein kann,
wohin die Dinge uns treiben,
was feststand, ist nicht mehr sicher,
nicht in dieser lauten Zeit.

Verblichene Sprüche
halten die Welt uns zusammen, die Lüge
beherrscht die Schlagzeilen,
wer ihnen glaubt, wähnt sich
auf sicherer Seite.

Uns selber fremd
werden wir, ohne Trauer sprechen wir
von verlorenen Idealen, als seien sie
Marzipan, das uns mild
den kalten Kaffee versüßt.

Wir schaffen uns unser
höchsteigenes Inferno verschlossener
Tore, in weiser Voraussicht,
kommende Türsteher könnten uns
den Eintritt verwehren.

Beim Klang der Hymnen
erleben wir Hochgefühle, die uns dem
Himmel der Wünsche näher bringen.
Und dankbar applaudieren wir den Dirigenten
ungewisser Zukünfte.

Kapitänin Ahaba und der weiße Wal (Flucht und Widerkehr XII)

November. Es schneit. Fast könnte man meinen, es seien gefrorene Tränen. Freudentränen? Eisige Freude also – Sarkasmus und Zynismus entfalten eine eigene Ästhetik. So wie der Industriegeruch eines Datenträgers oder eines Neuwagens irgendwie interessant ist.

Die Wähler der „Rust Belt“ Staaten haben dem Establishment den Finger gezeigt, liest man.
Es scheint, als ob die „Bernie or Bust“-Bewegung ihre Drohung wahrgemacht habe, keinen anderen Kandidaten – genauer: keine andere Kandidatin – zu akzeptieren, trotz der nun eingetretenen Gefahr des Verlustes von Repräsentantenhaus, Senat und Präsidentschaft.

„Überraschenderweise“ haben nämlich jene nördlichen Bundesstaaten, die in den Vorwahlen – trotz gegenteiliger, Clinton favorisierender Umfragen – an Sanders fielen nun auch bei der Hauptwahl mehrheitlich für Trump gestimmt.

Es ist bezeichnend für unser Zeitalter, dass die Frontlinie nicht mehr links und rechts verläuft, sondern vorne und hinten.
Das heißt: natürlich verläuft sie rechts wie eh und je – Evangelikale und andere Republikaner-Stammwähler sind nun ja nicht einen Deut von ihren ursprünglichen, erzkonservativen Prinzipien abgerückt.

Aber links war nicht mehr „real“, denn der einzige Kandidat, der die weißen, ungebildeten Wähler hätte mitreißen können wurde vom Parteiapperat abgesägt. Die Arroganz der Macht der Parteieliten, die auf die Selbstbeweihräucherungen aus ihrer Filterblase vertrauten, ließ sie nun in ihren eigenen Abgrund taumeln.

Die Gruppe der weißen Arbeiter, die mittlerweile nur noch knapp unter 40 % der Wähler stellt, hat sich diesmal dazu entschieden kollektiver, d.h. wie andere Minderheiten auch, zu wählen. Sich nicht als Anhängsel einer abgehobenen, städtisch geprägten Nomenklatura mitschleifen zu lassen.

Man muss vermuten, Clinton habe während des Wahlkampfes Wisconsin aus jenem Grund nicht einmal besucht, da sie und ihre Planer sich der Unterstützung der weißen Arbeiter dort sicher waren – „die hatten ja sogar für einen Schwarzen gestimmt!“ — das „links liegen lassen“ hätte also System gehabt.

Vordergründig wurde die Welt mit einem Konglomerat aus fehlerhaften Umfragen und tendenziösen Meinungen zugepflastert, so dass hintenherum der gegenteilige Effekt ausgelöst wurde. Der weiße Mann – er ist in der Mehrzahl zwar ungebildet aber nicht unbedingt masochistisch, hörte wieder und wieder: du hast keine Chance! Er ergriff sie.
Ihm wurde vorgekaut und er spuckte aus. Er wurde verspottet und schloß die Reihen.
Er ahnte: es war ein „last stand“ und er war mutig, statt verzagt, traute sich zur Urne.

In allen Kleinstädten des mittleren Westens wogte diese Gefühlslage, ur-amerikanisch gewissermassen, wie schon 1776, als sich in den ländlichen Provinzen Milizen formten, um die Unabhängigkeit zu verteidigen.

Viele der neuen Trump-Wähler, oft (sozial)demokratisch sozialisiert, haben sich der Bewegung angeschlossen, da sie nicht nur intuitiv ahnten, sondern auch unwiderlegbar – „in your face“ – belegt bekamen, dass der verordnete Führungszirkel der lange von ihnen unterstützten Demokraten viel zu eng mit den Finanzeliten verwoben war.

Sie wählten also den Teufel, der sich nicht verstellte, statt den Engel, der mit gespaltener Zunge sprach. Sie wählten den zornigen Narzissten, der nie erwachsen werden wollte, statt die  Gouvernante mit dem erstarrten, eiskalten Lachen.
Ohnmachtsgefühle und Trotz auf der einen, Arroganz und Neusprech auf der anderen Seite.

Die „Bernie or Bust“ Bewegung hatte eine Tatsache vollkommen richtig erkannt: mit dem nun angetretenen, neoliberalen Establishment der Demokraten zeichnete sich eine weitere Verwässerung des Profils ab – wovon die SPD in Deutschland bei Umfragewerten um die 20% ein Lied singen kann.

Hier eine Kehrtwende zu vollziehen kann nur durch eine beherzte Opposition, mit der die Runderneuerung der Partei einhergeht, gelingen. Nur so können die Grundlagen gelegt werden, die die deutliche Entflechtung vom Establishment zur Folge hat – und somit eine Option für die Rückkehr der verlorenen Kernwählerschaft generiert, die sich eher früher als später, angewidert vom Schwefelduft republikanischer Menschenfeindlichkeit von den Rechten abwenden dürfte – spätestens, wenn sie wieder ohne Krankenversicherung aufwacht.

Sollte das geschehen, wird den geläuterten Demokraten die Presse jedoch nicht mehr wie in diesem Wahlkampf nach dem Mund schreiben – was aber, angesichts des nun vorliegenden Ergebnisses, nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen sein muss.

Mit Kant im Schützengraben

Er war kein Jünger. Der Anblick in der Höhe zerplatzender Geschosse bereitete ihm keinerlei Lust. Wäre er nicht patriotisch erzogen worden, aus ihm hätte a priori, aus systematischen Gründen ein Pazifist werden können. War es bei anderen ihre Sucht, so wurde er frühzeitig von einer Art Algebra des Begehrens erfüllt, welches sich nicht auf Dinge oder gar Erlebnisse beziehen ließe, sondern ausschließlich auf Ideen.
Bereits unter Gleichaltrigen hatte er oft diese Witze gehört: Der vollkommene Eine, seiner Vollkommenheit überdrüssig geworden, erschuf sich seinen (!) Zweiten, oder: Des einmal in die Welt gesetzten Übels überdrüssig, zog sich dieser Gott (!!) ganz aus ihr zurück und betrachtete sie seitdem nur noch, wie ein genialer Uhrmacher den von ihm selbst hervorgebrachten Mechanismus betrachtet, ohne dass es irgendwo eine Kraft (!!!) gäbe, imstande ihn anzuhalten.
Nun saß er hier im Schützengraben. Wie es möglich war, so gänzlich ohne Willen dennoch zu überleben, schien ihm eines der größten Rätsel, das ein Mensch je erfahren kann. Seit fast drei Jahren dauerte dieses Gemetzel nun schon, und keiner von denen, die hier Verantwortung trugen, hatte bisher versagt. So wie er, erfüllten sie alle ihre Pflicht. O Gott, und nun:

Schnee.

Déjà-vu

Frau Reimann hatte ein Zimmer in einem kleinen Hotel in Smichov bestellt, telefonisch.Von Smichov aus konnte man auf ganz Prag hinuntersehen, wie auf einem Tablett lag die Stadt einem zu Füßen. Das Prager Meer, hatten sie früher gesagt. Sie liebte Prag, auch wenn sie noch ein Kind war damals, erst sieben Jahre alt, als sie flüchten mussten. Die Familie hatte in der Altstadt gewohnt, in der Stabenovgasse. Das Haus stand noch. Bekannte, die nach Prag gefahren waren, hatten es ihr gesagt. Das Haus hatte ihrem Vater gehört, einem Wehrmachtsoffizier. Er hatte es von einer jüdischen Familie, die ausgesiedelt worden war, wie ihr die Mutter gesagt hatte. Des Vaters Name war im Grundbuch eingetragen, sie hatte eine Chance. Ob sie diese Chance nutzen würde, wusste sie noch nicht. Aber sie wollte das Haus wiedersehen, wenigstens das, fürs erste. Vor Ort sah immer alles ganz anders aus.

Es ging nicht mehr viel hinein in den Koffer. Den Bademantel über den Arm geworfen, mit schlurfendem Schritt, ging sie ins Bad. Sie hängte den Bademantel an den Haken. Wie sie es geahnt hatte: Der Koffer war aufgesprungen, als sie zurückkam. Sie nahm noch ein paar Kleidungsstücke heraus: einen Pullover für kalte Tage, den engen Rock. Jetzt ließ sich der Koffer gut schließen, sie musste nicht mehr befürchten, dass er unterwegs aufgehen würde.
Sie hob ihn an: Tonnenschwer!

Die Stadt schlief noch. Ein paar Autos waren unterwegs. Sonst nichts, kein Mensch auf der Straße. Der Zug nach Prag ging früh ab. Sie hatte den falschen Zug gewählt, der Nachmittagszug wäre praktischer gewesen, dann hätte der Junge den Koffer tragen können, sie hätte ihn schon überredet. Er hatte sich geweigert. Bei der Sache mache er nicht mit, hatte er gesagt, mit ihrer schauerlichen Nostalgie könne er nichts anfangen. Den armen Tschechen das Haus unter dem Hintern wegziehen, dazu sei auch nur sie fähig.

Der Zug stand abfahrbereit, als sie sich mit dem Koffer die Treppe hochgequält hatte.
Er war voll, junge Leute, Tschechen, die nach Hause fuhren, hatten alle Sitzplätze belegt.
Erst am Ende des Zuges fand sie noch einen Sitzplatz. Sie sah aus dem Fenster, und als der Zug die Grenze passierte, sie wusste nicht, dass es die Grenze war, wurde es lauter im Zug. Die jungen Leute waren zu Hause, sie lachten jetzt und Scherze flogen hin und her.

Landschaft, ein paar Berge, nichts als Grün vor dem Fenster, es flog vorbei. Einmal, als sie Prag schon nähergekommen waren, der Zug fuhr durch einen Vorort, glaubte sie ein Haus wiederzuerkennen, sie konnte den Blick nicht losreißen. Es war ein Blick in die Kindheit, die behütete Kindheit, das Wohlleben. Wäre nur das Ende nicht gewesen.

An das Ende konnte sie sich kaum erinnern. Die Mutter sagte, sie hätten flüchten müssen, sonst hätte man sie alle, die Deutschen, totgeschlagen. Woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie sehr lange laufen musste, an der Hand der Mutter. Das war alles. In Dresden waren sie dann gestrandet.

Jahrzehntelang, nach dem Tod der Mutter, hatte sie nicht mehr an Prag gedacht. Einmal aber, es war kurz vor dem Ende der DDR gewesen, war ihre Betriebsbrigade zu einem Ausflug nach Prag gefahren, kostenlos, die Gewerkschaft hatte Fahrt und Übernachtung bezahlt. Sie war nicht mitgefahren, hatte sich herausgeredet: Der Junge, er studierte noch, sie könne ihn nicht allein lassen. Als die Kollegen dann zurückkamen, wollte sie nichts hören von Prag. Dass sie Sudetendeutsche war, verriet sie niemanden, auch hatte sie den böhmischen Tonfall recht schnell verloren, schon in der Schulzeit. Der Vater war 1943 in Russland gefallen, und die Mutter hatte sich mit ihr durchschlagen müssen, und jedes dritte Wort war Prag gewesen. Die Mutter wollte bis zum Schluss nicht begreifen, dass ihre Heimat jetzt Dresden hieß.

Das Haus in der Stabenovgasse gehörte ihr, sie war die Erbin. Sie hatte es schriftlich, den Grundbuchauszug. Dort stand es: Ewald Wippke, eingetragen am 31. Juli 1942.

Der Bahnhofslautsprecher rief die Station aus: Praha. Mehr verstand sie nicht, sie sprach kein Tschechisch. Sie nahm einen Bus, er fuhr hinauf nach Smichov. Das Hotel war eine mehrstöckige Villa im Jugendstil. An der Rezeption wurde deutsch gesprochen, doch der Mann hinter dem Tresen war unfreundlich. Wortlos führte er sie hinauf in ihr Zimmer, unter dem Dach. Das Zimmer hatte runde Fenster. Sie öffnete eines. Prag, die Stadt lag ihr zu Füßen.

Die Kindheit war wieder da. Das Haus, es hatte zwei Etagen, es war schmal gewesen, eingezwängt zwischen andere schmale Häuser in der Altstadt. Sie wusste, wo sie es von hier oben suchen müsse. Aber dann schloss sie das Fenster. Morgen, dachte sie, morgen ist auch noch ein Tag.

Am nächsten Morgen fuhr sie mit dem Bus nach Prag hinein. Sie musste die Metro nehmen, um zur Altstadt zu gelangen. Sie kannte sich nicht aus. Erst als sie vor dem Rathaus stand, die Touristen sah, die ah und oh riefen, als sich das Turmwerk in Bewegung setzte und als sie in den Stadtplan sah, lief sie los, zur Stabenovgasse.

Die Straße hatte sich verändert. Sie glaubte, sich erinnern zu können, dass es im Eckhaus ein kleines Restaurant gegeben hatte. Sie fand es nicht. Fachwerkhäuser, rechts und links, zwei Lücken wie Zahnlücken im Straßengebiss. Sie konnte die Schilder nicht lesen, eine Baufirma wollte dort bauen.

Das Haus stand noch, es war restauriert, das sonnenbeschienene Weiß des Fachwerks ließ die Augen schmerzen, das Haus war bewohnt. Sie las die Namen am Klingelschild: tschechische Namen. Sie wusste nicht mehr, welches ihr Fenster gewesen war. Sie stand am ausgetretenen Stein vor der schmalen Eingangstür, einen Fuß auf dem Stein, und sah hoch. Hinter allen Fenstern Gardinen. Sie kramte den Fotoapparat aus der Handtasche und trat ein paar Schritt zurück, damit sie das Haus als Ganzes aufs Bild bekäme. Ein Mann blieb stehen und beobachtete, wie sie es fotografierte. Er sagte nichts, bevor er weiterging.

Wenn sie jetzt auf einen Klingelknopf drücken würde und sagen, das Haus gehöre ihr – was würde geschehen? Dann würde geschehen, was sie schon einmal erlebt hatte, nur umgekehrt. Damals hatten sie in Dresden vor ihrem Haus gestanden, zwei Brüder aus Westdeutschland, Erben eines gottvergessenen Besitzers. Der Junge war zu jung gewesen, um etwas dagegen zu unternehmen, das Wortgeplänkel richtete nichts aus. Sie wusste nicht, was tun, und sie war mit ihm ausgezogen, hinaus aus Dresden, in eine kleine Wohnung. Aber das schmerzliche Gefühl, dass sie an jenem Tag ihr ganzes bisheriges Leben aufgeben musste, das war geblieben.

Sie warf noch einen Blick auf das Haus, als sie langsam durch die Stabenovgasse zurückging. Die Kamera über der Schulter, eine vermeintliche Touristin, schlenderte sie den Rest des Tages durch die Altstadtgassen.Vom Wenzelsplatz hatte sie gehört und auch öfter Bilder von ihm im Fernsehen gesehen. Der Platz war belebt, voller Touristen. In einem Schnellrestaurant verschlang sie eine Wurst mit Pommes.

Abends war sie wieder in Smichov. Sie bezahlte das Hotelzimmer, am nächsten Morgen würde sie abreisen, erklärte sie dem Unfreundlichen hinter dem Tresen. Sie glaubte, so etwas wie Zufriedenheit in seinem Gesicht gelesen zu haben.

Die Aufnahme würde nicht sehr gut sein, sie hatte sich die Kompaktkamera von einer Freundin geliehen, sie fotografierte nie. Aber sie würde sich das Foto einrahmen und auf die Anrichte stellen, zu den Familienbildern, neben das Bild des Vaters in seiner Uniform, das sie wieder hervorgeholt hatte, erst neunzig, nach der Wende, wie diese Zeit heute genannt wurde. Sie würde nicht wissen, weshalb sie das täte, aber sie würde es tun. Es gehörte sich so für eine Vertriebene.

Berlin-Ost

10. Mai 1982

(für helmut)

 

Das ist die große Stadt

die weite

die immer alles kann

und alles hat

die Sehnsucht

und den Hass

von all den anderen

die das nicht haben.

Aber das müsse so sein

sagt man.

Da an der Schaltstelle

ein Schaufenster

zum Wundern

und Staunen

und Ärgern

und Kopfschütteln.

Und zum Weinen

und Weglaufen.

Schnell

weit weg.

Wohin?

Kein Land, nirgends.

 

 

Erörterungen:

Das Gedicht ist einem guten Freund gewidmet. Er kam aus einer kleinen Stadt am Rande des Erzgebirges und wurde von dort für lange Zeit auf Montage nach Berlin abkommandiert. Er verdiente dort üblicherweise gutes Geld und noch viel mehr an den kleinen Gefälligkeiten. Jedem brachte er was mit. Tauschware. Wie nach dem Krieg, sagte seine Mutter. Eines konnte er nicht tauschen: Seine Frau. Die trank das, was er ihr mitbrachte. Daran ist schließlich seine Ehe zerbrochen und dann er selbst. Er machte rüber. Vier Wochen war er in West-Berlin. Dann starb er im Mai an einer Überdosis. Zu seiner Beerdigung durfte seine Mutter nicht ausreisen. Es war ihr einziger Sohn.  So saßen wir allein mit wenigen Freunden in ihrer Stube beisammen, und ich trug das Gedicht vor. Seine Frau nahm sich wenig später das Leben.

Ich lege das Gedicht daher in die Kategorie „Trauersymmetrie“.

Ankunft

15.02.1979

Seit elf Tagen nun schon liegen jeden Morgen die Stullen und die Thermoskanne in der Durchreiche. Gisa mag es so. Sie könnten auch irgendwo in der Küche, auf dem Kühlschrank oder auf dem Wohnzimmertisch liegen. Das wäre für mich viel praktischer. So aber muss ich an der Wohnzimmertür um die Ecke laufen und den Sessel zur Seite schieben, um an die Durchreiche zu kommen und die Stullenpakete mit Kaffee einzupacken. Die Durchreiche ist ein kleines Fenster zur Küche. Gisas Fenster. Sie hat drumherum eine Borte festgemacht. Am Abend gehäkelt und mit Reißzwecken befestigt. Gisa macht gern Handarbeiten. Meine Thermoskanne hat sie auch in einen Häkelbeutel gesteckt. Ich habe ihr gesagt, dass der Muckefuck nun nicht viel anders schmeckt und genauso heiß ist wie vorher, weil die Wolle nicht noch mehr isoliert. Aber damit muss ich immer vorsichtig sein, Gisa hat nur die achte Klasse und fühlt sich deswegen gleich angegriffen.

Wenn ich durch das Treppenhaus vorbei an Schuhschränken und durchnäßten Winterstiefeln gehe, schläft noch alles. Meine Schicht beginnt vier Uhr dreißig. Gisas Wecker klingelt erst in einer Stunde. Jeden Tag wacht sie auf mit der gleichen Melodie: „Oh, du lieber Augustin, Augustin, Augustin…“ Den Wecker habe ich ihr aus Berlin besorgt. Das hat mich zwei Holzengel und einen Herrnhuter Weihnachtsstern gekostet. Danach sind die Leute schier verrückt. Zuhause hatten wir auch einen Stern statt der Flurlampe hängen. Das war das letzte Weihnachtsfest gemeinsam mit der Oma, Gisas Mutter. Ich glaube, in der neuen Wohnung können wir den Stern gar nicht anbringen. Der Flur ist viel zu klein dafür. Eigentlich ist das gar kein richtiger Flur. Ich muss wohl auch so ein Schuhregal für vor die Tür bauen. Gisas Schuhe aber sollen drin in der Wohnung stehen bleiben. Das sind ja alles Tanzschuhe. Ganz feines Leder. Früher waren wir immer unterwegs. War schon ein flottes Mädel, die Gisa. Mal sehen, was es hier so gibt. Wir müssen uns ersteinmal eingewöhnen, das kommt schon noch.

Ich stehe an der Haltestelle und blicke auf die Platte, in der nur wenige Fenster schwach erleuchtet sind. Meine Platte, die mir seit vierzehn Tagen eine Wohnstatt ist. Hier kommt das Wasser aus der Wand, habe ich meinen Kindern gesagt, als wir unsere Heimat verließen. Der Vati wird gebraucht, sagte Gisa unseren Mädchen. Wir packten unsere Möbel und die Schrankwand von unserer Hochzeit mussten wir zerteilen. Meine alten Kollegen haben mir einen Laster besorgt. Helmut kam mit: Ich lass euch doch nicht allein mit dem ganzen Zeug hier, sagte er. Ich glaube, er wollte auch von seiner Frau mal weg. Die trank hin und wieder und machte Helmut das Leben nicht einfacher.

Es war ein kalter Wintertag. Die Oma weinte, die Kinder weinten, Gisa weinte. Auf der Fahrt fuhren wir an bunten Wegweisern vorbei: Plaste und Elaste aus Schkopau. Nach drei Stunden waren wir da. Die Kinder schliefen im Auto, und Gisa und ich standen vor dem grauen Koloss. Gisa nahm meine Hand. Ich sagte zu ihr, dass der Aufzug sicher bald eingebaut würde, es ist ja nur der fünfte Stock und wir noch jung. Eine Gardine wurde zur Seite geschoben und ein Mann mit Brille rief aus dem Fenster:“Seit ihr die Neuen? Ich bin König aus der Dritten. Soll ich helfen kommen?“ Ich blickte meine Frau an: „Siehst du, Gisa, so sind sie! Immer hilfsbereit.“ Gisa sagte nichts und ging die Kinder aufwecken. Meine Mädchen schälten sich aus dem Auto und zitterten. Vor Schläfrigkeit, aus Angst vor dem Neuen und Unbekannten. Kathrin, die Jüngste, hielt ihr Plüschtier, ein rostrotes Eichhörnchen, fest umklammert. Ich bückte mich zu ihr, zog ihr die Jacke zu und meinte: „Wenn du willst, kannst du sofort baden. Und der Vati muss nicht den Ofen einheizen! Das Wasser kommt sofort ganz heiß aus der Wand!“. Ich nahm sie auf den Arm und ging auf den Mann aus der Dritten zu. Herr König zwackte Kathrin in die schlafrote Wange: „Na Kleine, so schlimm wirds nun auch nicht.“

Eine Art Gesang : Sanfte Entgegnung

„Kamerad, ich heiße Luis Cortés.
Als die Repressalien begannen, in Tocopilla
ergriffen sie mich. Sie schleppten mich nach Pisagua.
Sie wissen, Kamerad, was das heißt.
Viele wurden krank, andere
verfielen dem Wahnsinn. Es ist das schlimmste
Konzentrationslager des Gonzáles
Videla. Eines Morgens sah ich Angel Veas
sterben, am Herzen. Es war schrecklich,
ihn sterben zu sehn auf diesem mörderischen Sand,
von Stacheldraht umringt nach seinem
so großherzigen Leben. Als auch ich herzkrank
wurde, brachten Sie mich
nach Garitaya. Sie kennen es nicht, Kamerad.
Es liegt in der Höhe, an der Grenze Boliviens.
Ein trostloser Ort, in 5000 Meter Höhe.
Salziges Wasser gibt es zu trinken, salziger
als das Meerwasser und voller Wasserflöhe,
die gleich rosigen Maden wimmeln.
Kalt ist es, und der Himmel über
der Einsankeit schien auf uns niederzubrechen,
auf mein Herz, das nicht mehr weiter konnte.
Selbst die Carabineros hatten Mitleid,
und entgegen den Befehlen, uns sterben zu lassen,
abgesehen davon, daß man nie eine Tragbahre geschickt hätte,
banden sie mich auf einem Maultier fest, und wir stiegen
die Berge hinab:
26 Stunden kletterte das Maultier, und mein Leib
hielt nicht mehr stand, Kamerad, in den weglosen Kordilleren,
und mein Herz setzte aus, hier haben Sie mich, sehen Sie,
die Quetschungen, ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe,
aber Sie geht es an, ich habe nicht vor, um etwas zu bitten,
verkünden Sie, Kamerad, was der Verfluchte dem Volk antut,
uns, die wir ihn dort hinaufgehoben haben, wo er sein
Hyänenlachen über unsere Schmerzen lacht,
Sie, Kamerad, erzählen Sie es, berichten Sie es, mein Tod zählt nicht
noch unsre Leiden, denn der Kampf währt lange,
aber wissen soll man um diese Martern,
man soll sie kennen, Kamerad, vergessen Sie es nicht.“

„Um diese Jahreszeit möcht ich
meine Arbeit hinwerfen und es
den alten Männern gleichtun –
damals am Kai von Villefranche
sah ich sie Seeschnecken fischen
mit einem gespaltenen Stecken
im seichten Wasser –

““““““““““““““““““““““““‘ Ich weiß
was andres, sagte sie,
was du anfangen könntest,
genauso leicht, im Frühling,
wenn du nur wolltest. Aber
du willst eben nicht, oder?“

(Zwei Quellenangaben nachzutragen)

Schmerz, Steine, Sand

Tritt, Braungesichtiger,
Unter die Laterne, aus dem Dunkel,
Dass ich das Schwarz deiner Augen erblicke,
Die gleißenden Saharasonnen,
Den Trug der Wasser des Meeres.

Schüttle den Sand
Aus den Schuhen, dein Menschenfuß
Betritt reich grünende Landschaft.
Nein, keine Oase, kein weiches Kissen,
Das dich erwartet.

Und du träumst, dies sei Erfüllung
Aller Sehnsucht, Stillung des Hungers,
Des Durstes. Doch wir Unempfindlichen.
Vergib uns, Braungesichtiger!
Falls du es noch kannst.

Danke

Danke, Rapunzel. Haben Sie die alle gekriegt? Das macht mir schon Angst. Ich war mal im Zirkel Schreibende Arbeiter. Naja, ist schon lange her. Aber es hat mir Spaß gemacht. Und nun schreibe ich daheim. Und die Meinen sagen, ich soll doch mal was veröffentlichen. Aber das kostest ja gleich Geld und ich weiß nicht, ob das auch bei den Leuten ankommt. Also ich schreibe sehr realistisch. Und eben einfach. Ist bestimmt nicht jedermanns Fall. Aber ich finde, das keiner das Recht hat, dem anderen die Richtung vorzuschreiben. Das ist ja auch meine persönliche Freiheit. Ich hab ja nichts dagegen, dass man mal kräftig austeilt. Das finde ich auch gut, da ist ja auch mal was lustiges dabei. Aber das Beleidigende und das Besserwisserische, also das finde ich nicht so gut. Das kann einem ja alles vermiesen.

Ich warte jetze nochmal ab.

Irritation, Indignation und Inspiration (Flucht und Widerkehr XI)

Heute ist wieder mieses Wetter. Trotzdem fühle ich mich so lala,  vielleicht ein wenig verkaufsoffen, wie man im real existierenden Kapitalismus liturgisieren könnte.

Ehrlich gesagt möchte ich mich heute über alte Leute lustig machen, ganz ohne schlechtes Gewissen und anfangs einfach weil ich noch nicht alt bin (I’ve got a feeling). So wie unreife Jugendliche sich über Erwachsene lustig machen.

Ich würde es jedoch nicht öffentlich tun, denn das könnte alte Leute verletzen — schlimmer als apathische Alte sind nur zombiehaft echauffierte Alte zu ertragen. Vielleicht aber in einer vorsichtig getuschelten Bemerkung, oder in einem anonymen Internetblog. TAT – trolling as therapy.

Mit alten Leuten ist es nämlich so, dass mich die Themen, die sie im Angebot haben – fast immer die gleichen übrigens – abstossen, da sie einerseits oberflächlich und uninteressant sind und mich andererseits an meine eigene Endlichkeit erinnern – und das geht nun einmal gar nicht. Medikamente. Doktoren. Tote. Sonderangebote. Unverständnis. Im besten Falle Naivität, im schlimmsten Falle boshafte Dummheit. Und dabei dieser muffige Geruch, der sie physisch und geistig zugleich umhüllt.

Nun ist es ja leider so, dass, wer  mit einem Finger auf andere zeigt, vier Finger auf sich selbst richtet, weswegen ein selbstkritischer Einschub jenseits jedweder, ursprünglich eventuell satirisch überhöhter Verachtung notwendig sein könnte.

Denn auch ich habe – mit mehr oder weniger Varianz – immer die gleichen Themen, zumindest aber Prinzipien im Angebot; zudem ich fast immer über Altes schreibe – seien es Schriftsteller, Ereignisse, Gefühle. Auch ist meine Sprache oft veraltet, denn ich liebe den Reminiszenzcharakter von etwas, an das sich das kollektive Unbewußte, falls überhaupt, nur noch schmenenhaft erinnert (ja, das war ein Witzversuch). Ich mag das Stutzen, Grummeln, Nörgeln und heimliche Nicken. Und eigentlich mag ich Medikamente ja, auch Doktoren sind wichtig – nur dass ich mir eben die Medikamente im Rahmen meiner Doktorarbeit über Lebensfreude lieber selbst verschreibe.

Was mich an Alten eigentlich wirklich abstößt, ist also nicht das Alter selbst, sondern vielmehr der Umgang damit. Die Mehrheit der Alten ist nicht neugierig wie ein Kind, nicht kritisch wie ein Erwachsener und nicht weise wie ein Greis – nein, sie sind in der Mehrheit unkritisch wie Kinder und geistig gelähmt zugleich – und das liegt zumeist nicht an einer heraufziehenden Demenz.

Da gibt es fünfzig-jährige Aldi-Allwetterjacken-Alte, die komischerweise immer im Doppelpack auftreten, und sie heißen hundertprozentig Jochen und Hilli.
Einige Alte sind sogar schon in ihren frühen Vierzigern am Ende: dickliche, braune Zwerge, um die blaue, hohle Erden kreisen – oder orangene CDU-Ortsgruppenluftballons. Helmut, Otto, Harry und Lothar.

Ich weiss nicht, was mir mehr Schmerzen bereitet: ein physisch „junger“ Alter – dessen Lebendigkeit selbstvergessen in der Masse ertrunken ist – oder Schicksale ausgespuckten Grauens. Beide haben sich auf eine Art und Weise aufgegeben, die zugleich ernüchtert und die eigene TAT in den Vordergrund stellt – obgleich diese, auf die Masse bezogen, eher wie ein laues Lüftchen vor einem Feuerzeug verpufft (wie ein fitter, alter Herr seit einem Dreivierteljahrhundert zu sagen pflegt: „Kolossaler Witz – zündet wie der Blitz„) .

Trotzdem oder gerade deshalb (wer weiß das schon so genau) werde ich – auch weiterhin selbstmedikiert – aufpassen müssen nicht lauthals loszuprusten, wenn sich all die Jackenpärchen mit ernsthaften Gesichter über Sonderangebote beugen, abgefuckte Penner über Fremde schimpfen – oder Mittelstandsfamilien mittelmäßige Massenmessen mutilatieren (die Kinder heißen Noah und Kevin-James und ihr blasierter Gesichtseindruck spiegelt immer den ihrer Alten wider).

Doch nicht alles ist schlecht im Alter, denn wo ein verzweifeltes und zynisches Lachen ist, bestenfalls ein freimütig sarkastisches, da ist auch ein helles, heiteres und freundliches Lachen, da ist ein Staunen und Ehrfurcht, da ist inneres Lächeln.

Ja, Aldous Huxley gönnte sich eine hohe Dosis LSD beim Sterben, erfreute sich an zerfließenden Farben und Wänden die sich wunden — welch ein Abschied aus einer unfassbaren, lediglich im Gehirn rekonstruierten Außenwelt!

Ja, Stéphane Hessel hat sich empört und noch mit über neunzig Jahren über ein System geärgert, das die Macht einiger weniger über die große Mehrheit zementiert und demokratische Rechte kontinuierlich aushöhlt – und dagegen Stellung bezogen, weil er an einen Morgen der Jungen (und Mädchen natürlich, liebe Genderfreunde) glaubt.

Ja, Hans-Christian und Gregor sind heutzutage seltene Namen geworden und doch stellen sie das ideelle Vermächtnis der politischen Kultur der letzten 50 Jahre dar und würden beide gute Bundespräsidenten abgeben. Dumm nur, dass der eine zu alt und ehrlich und der andere zu links und gewitzt ist, als dass ihnen diese Ehre zuteil würde, die ihnen, die menschliche Individuen geblieben sind und die das Alter schöner machte, gebüren würde.

Über Mutter Theresa schweige ich mich an dieser Stelle aus.

Angekommen

Marga Riemann fühlte sich schlecht, gleich beim Erwachen. Wie immer in den letzten Jahren, seit ihr der Mann gestorben war, wachte sie früh auf, wenn es noch dunkel war, schon um drei. Dann, als sie merkte, dass es sie sogar auf dem Kopfkissen schwindelte, lag sie noch eine Weile, sie war wohl eingeschlummert.

Um vier stand sie auf. Sie bückte sich, um nach den Hausschuhen zu langen. Ihr wurde schwarz vor Augen. Der Blutdruck, die Doktorsche hatte gesagt, mit dem müsse sie sich vorsehen. Ihr Leib lag schwer auf der zerwühlten Bettdecke. Es gelang ihr hochzukommen, indem sie sich auf die Ellbogen stützte, bis sie stand, auf den bloßen Füßen. Es war kühl im Zimmer, sie schlief immer mit offenem Fenster, trotz des Autoverkehrs auf der Straße, der sie schon seit langem nicht mehr störte. Aber die Nacht war kalt, jetzt, im Dezember.

Mit schwerem, unsicherem Schritt tapste sie zur Tür. Angelangt, hielt sie sich einen Moment an der Klinke fest, wieder fühlte sie diese Blutleere im Kopf, ihr war, als würde sie erblinden, der schwarze Vorhang vor Augen wollte nicht weichen.

Sie musste einen Kaffee trinken und ihre Medikamente einnehmen. Gestern war sie leichtsinnig gewesen und hatte das Pillenzeug erst mittags eingenommen, beinahe hätte sie es vergessen. Die Rache der Doktorschen folgt auf dem Fuß, dachte sie. Was war das aber auch für eine Frau, immer in Eile, zu keinem Spaß aufgelegt, streng und prinzipiell, ließ nicht mit sich reden. Nein, sie hätte sich eine andere Frau Doktor gewünscht, aber der Sohn hatte sie zu ihr geschickt, und den Sohn durfte sie nicht enttäuschen, er könnte wegbleiben, und dann käme niemand mehr zu ihr. Außer der Doktorschen und morgens, noch vor dem Dienst, auf einen Husch die Nachbarin, die ihr immer die Zeitung hochbrachte.

Die Kaffeemaschine, kaum benutzt, hatte ihr der Sohn geschenkt, vor zwei Jahren, zu Weihnachten, weil sie ihm den Kaffee, wenn er kam, immer türkisch aufgebrüht hatte. Den türkischen Kaffee trank er mit angewidertem Gesicht und spuckte die Kaffeekrümel auf die Untertasse, und es hatte ihr wehgetan, wenn er vor ihr auf der Couch saß und die Augen verdrehte.

Bis die Doktorsche kommen würde, hatte sie Zeit. „Na, gut geschlafen, Frau Voigt?“, würde sie fragen, wie immer würde sie ein „Ja, gut, Frau Doktor“ von ihr hören. Was sollte sie ihr mit der Schlaflosigkeit kommen, damit kämpfen alle Leute in ihrem Alter, und Schlaftabletten kamen für sie nicht in Frage. Nicht für sie. Vielleicht noch tablettenabhängig werden, das fehlte noch.

Sie stellte das altmodische Radio an, das aus der Zeit stammte, als ihr Mann noch lebte. Es war ein Röhrenradio, groß und mit repräsentativem Gehäuse. „Wozu“, hatte ihr Mann gefragt, als sie ihn drängte, eines dieser neuen glänzenden Geräte aus dem Schaufenster zu kaufen, „der Ton unseres alten Radios ist gut, die Bedienung kinderleicht, was brauchst du altes Haus noch ein neues Radio? Und dann erbt es sowieso bloß der Sohn.“ Sie hatte ihn müde angeblickt, sie verstand ihn, er hatte Prostatakrebs im Anfangsstadium, und er wusste es, obwohl ihn der Arzt mit einer Blasengeschichte beruhigt und nur mit ihr, der Ehefrau, darüber geredet hatte. Das war vor einem Jahr gewesen, ihr aber schien es, als höre sie noch die leise, auf sie einredende Stimme des Arztes. Fast ein ganzes Jahr hatte ihr Mann noch gelebt, mit höllischen Schmerzen, aber gelebt.

Die Tasse in der Hand zitterte, als sie ins Wohnzimmer schlurfte, der Kaffee schwappte auf die Untertasse. Der Sessel stand so, dass sie einen bequemen Blick auf den Fernseher hatte. Der andere Sessel war der ihres Mannes gewesen, in dem war er dann gestorben. Eben hatte er noch irgend etwas gesagt, sie hatte es nicht richtig verstehen können, sie hatte das Hörgerät noch nicht im Ohr, und im selben Moment war sein Kopf auf die Brust gefallen. Sie hatte ihn gepflegt, er wollte, dickköpfig, wie er war, der Hermann, nicht ins Krankenhaus.

Sein Foto stand neben dem Fernseher, in einem Goldrahmen. Jedesmal, wenn sie zur Fernbedienung, die auf dem Tisch lag, griff, blickte sie erst mal hin zu seinem Foto, als wolle sie ihn um sein Einverständnis fragen, wie früher, als er noch lebte. Es war ein Urlaubsfoto, das jüngste, das sie von ihm hatte, Hermann lachte, sie wusste nicht mehr, worüber. Sie war auch drauf, neben Hermann, doch wenn sie auf das Bild blickte, sah sie nur ihn. An den Tag konnte sie sich gut erinnern, als eine Urlauberin die Fotos von ihnen geknipst hatte. In Thüringen waren sie gewesen, in Tabarz, in einem Heim, in dem sonst nur Ärzte und Anwälte Urlaub machten. Hermann hatte den Urlaubsplatz über seinen Betrieb ergattert, das war 1987. Und jetzt war Hermann schon lange tot. Sie überlegte einen Moment. Ach ja, gestorben ist er 98, jetzt haben wir 2005, also ist er sieben Jahre tot. Schon sieben Jahre. Sie schloss die Augen, sie nickte ein.

Es war halb sieben, als es klingelte. Die Nachbarin brachte die Zeitung vom Briefkasten hoch, wie jeden Morgen. Sie schreckte auf, wollte sich aus dem Sessel erheben, fiel wieder zurück. Heute wollte ihr aber auch gar nichts gelingen, sie musste sich an der Tischkante festhalten, damit sie aus dem Sessel hochkam. Wieder dieser schwarze Vorhang vor Augen, als sie stand.
Sie schlurfte zur Wohnungstür.

Der Sohn hatte auf ihr Drängen kopfschüttelnd drei Riegel an der Tür angebracht. Bedächtig öffnete sie einen nach dem anderen und zog die Tür einen Spalt auf. Eine Hand reichte die Zeitung herein. „Ich hab es eilig heute morgen“, sagte die Nachbarin, eine Frau in den Vierzigern, und war schon halb im Gehen. „Keine Zeit für unser Plauderminütchen.“

Sie stand noch einen Moment, bis das Geräusch der Nachbarstür im Treppenhaus verklungen war.

Im Wohnzimmer setzte sie die Lesebrille auf, blätterte die Zeitung um, las die Überschriften.
Nein, die Welt war nicht mehr schön, schon wieder Krieg, immer noch, im Irak, wo jetzt die Menschen starben. Wo es doch einmal hieß: Nie wieder Krieg. Damals, als die Bombennächte endlich vorbei waren. Was für eine Zeit war das gewesen. Sie blutjung und der Junge im Kinderwagen, und die Sirene heulte, und dann die Zeit in der Bunkerzelle, und als der Krieg zu Ende war, nichts als Trümmer. So sah es jetzt auch im Irak aus. Die Menschen lernten nichts aus ihren Kriegen.

Am besten wäre es, dachte sie, und sie dachte nicht zum erstenmal an ihren eigenen Tod, wäre es, ich fiele um, und weg wäre ich. Das ist keine Welt, in der ein Mensch noch leben möchte.
Sie hatte ihre Zeit gehabt, und jetzt war die Zeit herum, und jetzt musste sie ans Sterben denken.

Sie dachte nicht wirklich ans Sterben, aber sie stellte sich vor, wie es sein würde. Der Sohn würde an ihrem Bett sitzen, seine Frau, mit der sie sich nie vertragen hatte, würde er zu Hause lassen, und die Enkelin würde sowieso keine Zeit haben, zu ihrer sterbenden Oma zu kommen. Schade, dachte sie, dass die Zeit so schnell vergangen war, die Enkelin war erwachsen, und sie hätte ihr doch so viel erzählen müssen, von der Familie, ihrem Urgroßvater, wie es damals war in Berlin, mit der Arbeitslosigkeit und der schäbigen Einzimmerwohnung, und dann die Hitlerei und der Krieg, und dass sie Glück gehabt hatte, weil ihre Wohnung nicht zerbombt worden war.

Der Sohn würde also an ihrem Bett sitzen. Er würde sie mitleidig ansehen und wissen, dass sie wusste, was zu wissen war über das Sterben.

Und das Leben! Sie hielt inne. Arbeitslos war er jetzt, seine Frau war stundenweise irgendwo Putzhilfe, war ja auch nicht mehr die Jüngste und musste immer noch den Buckel krumm machen. Ein paarmal hatte er auf die Regierung geschimpft, weil sie ihm keine Arbeit gab. „Alles unfähiges Kroppzeug“, hatte er gewütet. Sie hatte ihm recht gegeben, damit er von seiner Wut herunterkam. „Wir hätten uns eben unser Land nicht wegnehmen lassen sollen“, sagte sie, aber er erwiderte nichts.

Sie erschrak, so spät schon! Sie schlug die Zeitung zu. In vier Minuten, pünktlich um halb acht, würde die Ärztin kommen und ihr die Diabetesspritze geben. In den Bauch, mit so einem neumodischen Gerät, das gar nicht wie eine Spritze aussah. Und wenn sie die Frau auch nur nach dem Wetter fragte, würde die nur nicken und zur Tür stürzen, sie war beschäftigt, man sah es ihr an.

Sie schleppte sich ins Bad. Wenigstens gewaschen musste sie sein, wenn die Ärztin kommen würde. Sie wusch sich mit dem Seiflappen unter fließendem Wasser, wie sie es immer getan hatte, damals schon, als sie mit Hermann noch in der schrecklichen alten Wohnung gelebt hatte, ohne Bad und Balkon. Hermann. Sie stellte sich vor, wie er immer in der Wanne saß, jünger als in seinen letzten Jahren und hager, dass man das Brustbein sah, er hatte bis zuletzt noch alle Zähne gehabt und lachte immer, um sie zu zeigen. Sie hatte ihn deshalb aufgezogen, er sei eitel wie die Jungfrau im Bade, die Bathseba, er wisse schon, das Bild von Rembrandt, nur nicht so schön und so mollig. Und dass er dann besonders laut lachte, daran erinnerte sie sich jetzt, wenn sie ihn mit der Bathseba ärgern wollte. Plötzlich war das Bild weg, sie sah wieder die leere Wanne.

Baden wäre schön, dachte sie, aber in die Wanne zu steigen war ihr zu umständlich und zu gefährlich, sie könnte ausrutschen, und dann wäre niemand da, der ihr wieder hochhelfen würde. Und sowieso, allein würde sie niemals auch nur in die Wanne hineinkommen, bei ihrer Figur, und das Zittern in den Knien, und wieder wurde ihr schwarz vor Augen, als sie den Kopf hob und in den Spiegel blickte. Wie eine Furie sah sie aus, die Haare wirr und die vielen Fältchen auf den Wangen, die Augenbrauen waren verschwunden.

Sehr langsam kämmte sie sich, sie nahm die Strähnen zwischen die Finger und zog die Bürste vorsichtig durch. Trotzdem blieben Haare in ihr hängen. Eines Tages würde sie mit Glatze herumlaufen, wenn sie sich allzu heftig kämmte. Ach was, herumlaufen. Niemand würde es bemerken, außer der Ärztin und der Nachbarin, sie ging ja nicht mehr auf die Straße. Und dem Sohn. Aber dem war es erklärlich, dass sie Haare verlor, er dachte wohl an seine eigenen, die auch schon schütter wurden.

Plötzlich wurde ihr wieder schwarz vor Augen. Sie griff zum Handwaschbecken, im Spiegel sah sie ihr Erschrecken, die aufgerissenen Augen. Sie glaubte, einen Schrei auszustoßen, als ihr der Fußboden unter den Füßen wegrutschte. Sie begriff es nicht mehr, dass sie mit dem Kopf auf dem Wannenrand aufschlug, sie spürte keinen Schlag, sie fand es angenehm zu fallen, ihr war, als schwebe sie.

*

So fand sie die Ärztin, die, als auf ihr Klingeln nicht geöffnet wurde, die Feuerwehr gerufen hatte: im Bad, auf den Fliesen liegend, mit aufgerissenen, schon gebrochenen Augen, die weißen Haare wie einen Heiligenschein ausgebreitet.

„Sie hat sich seit Wochen auf den Weg gemacht“, sagte die Ärztin tonlos. Der Feuerwehrmann verstand nicht. „So sagen wir Mediziner den Angehörigen“, sagte sie, als sie das verständnislose Gesicht des Mannes sah, „wenn wir wissen, es gibt kein Zurück.“

„Ach so, so meinen Sie das, jetzt verstehe ich …“

„Es ist der letzte Weg.“ Seufzend strich sie sich vor dem Spiegel die Strähne aus der Stirn, die ihr beim Bücken ins Gesicht gefallen war. „Sie ist angekommen“, sagte sie. „Ja, angekommen.“

Ein schwarzer Regenbogen quer durch den Himmel

Die Rede vom * wandelt sich. Im Grunde genommen fordert sie immer wieder neue Benennung. Denn unbenannt bleibt der wirkende Anfang von Himmel und Erde, Selbstbenennung erst bringt Natur hervor als Natur der zahllosen Dinge. Deshalb erkennt, wer nichts benennt, in der Anschauung feinste Feinheiten. Wer dagegen alles benennt, prägt Begriffe für die Erkenntnis des Feststehenden. So treten beide, Anschauung und Begriff, gemeinsam hervor; nichtsdestotrotz sind sie zu unterscheiden. In gemeinsamer Benennung zeigen sie das Erfahrbare. Da aber das Erfahrbare erfahren wird, öffnet sich die Erfahrung den Feinheiten.

Der Durchschnittsdeutsche

Herr Seckenpiel, von Stand und Ansehn Mann,
ein Angestellter bei dem Ministerium,
beweist der Welt, was er so stemmen kann.
Man staunt, der gute Mann ist ein Mysterium!
Was bringt Herr Seckenpiel wohl nicht zustande?
Er pfuscht herum in Lehrbüchern der Kinder,
er kommt mit Paragraphen schnell zu Rande,
und wenn er Zeit hat, mimt er den Erfinder.

Herr Seckenpiel, der kennt sich bestens aus.
Sei es in Rom die letzte Kirchenpredigt,
sei es der Rosenkavalier von Strauss,
die hat er fix, im Handumdrehn, erledigt –
er weiß die Antwort, was man ihn auch fragt.
Herr Seckenpiel ist unser großer Macher,
dabei ist er schon kahl und leicht betagt.
Er weiß Bescheid, kennt seine Widersacher.

Am Rande, das sei bitte nicht vergessen,
verschlingt er Nietzsche und den Kant,
will sich mit Rilke oder Goethe messen,
und ist von Kopf bis Fuß ein Dilettant.
Er schwitzt Poeme, öfter auch Gedichte,
hat sogar Meinung, wo er gar nichts weiß.
Bald geht er ein in Mommsens Weltgeschichte,
so dankt man seinem hehren Dichterschweiß.

Herr Seckenpiel ist gerne auch politisch.
Treu national, das sagt ihm der Verstand.
Beäugt, was links ist, allerschärfstens kritisch,
er liebt nun mal sein deutsches Vaterland.
Wer diese Welt ganz anders sieht als er,
ist von der Blage, die er herzlich hasst,
der hat’s bei Seckenpielen grottig schwer –
Herr Seckenpiel ist eben kein Phantast.

ulrike | katharina

ulrike hütet die stimmen von tieren
die wie menschen sprechen
in der nacht träumen die tiere
von raubmenschen die den schlaf bewachen
ulrike hütet auch die blicke von pflanzen
die menschen beobachten
in einem netz aus spinnenfäden
verfangen sich die seltsamsten wesen
steine eine hand voll erde
ganze meteoritenschwärme

katharina trägt ihr neues kleid und high heels
bei einem meeting will sie
einen text über die erträge des lyrischen ausdrucks besprechen
auch onkel wanja wird kommen
und fragen ob sie den sommer mit ihm
auf seiner veranda verbringen will
bei limonade guten gesprächen
und den immer erneuten blicken
hinaus auf die weizenfelder
und den wald am anderen ende der landschaft

katharina liest aus ihrem geld
poesie erfährt plötzlich einen mehrwert
ulrike zieht mit einer roten basecap
und einer flasche absinth in den wald
mitten durch ein wiederansiedelungsgebiet für wölfe
für großmütter gibt es so etwas nicht
in den netzen zwitschern die vögel
und kleintierjäger schmücken sich mit trophäen
ratten und wanzen
aufgespürt von einer meute unbemannter drohnen

katharina berichtet davon bei einem meeting
sie sagt sie hätte noch nie
so viele unglückliche zuhörer gehabt
und am ende liest sie
einen brief von ulrike vor
die weilt schon wieder in indien
oder kasch mir

Traumfänger

Ich bin ein Stück Land
in weiter See
und die Gedanken Gräser
auf den Deichen.

Immer wieder reißt das Meer
an meinen Hängen,
bäumt sich auf
und trägt mich ab,
wirft mit dem Sand,
was in den Fängen ist,
auf fremde Klippen.

Manchmal türme ich
mein Sehnen
auf die Hafenmauer,
damit ein Fischerboot
vor Anker geht.

Denn in den Meeresweiten
treiben Träume
in die Netze.

Niemals reichen sie
für mehr als einen Tag.

Monolog bei Regenwetter

Wie oft hat man mich angezählt,
wenn ich nur wüsste, was mir fehlt.
Vielleicht vom Schicksal jenes Stück,
das man bezeichnet als das Glück,

das Maul zu halten, wo es passt.
Und doch, ich bleibe ein Phantast,
nichts gebe ich auf Selbstbetrug.
Die Wahrheit reicht, die ist genug.

So mancher, der ganz seltsam denkt
und sich benimmt wie ferngelenkt.
Wenn der mit Lügen glücklich wird,
bemerkt er nicht, dass er sich irrt.

Ein andrer, der aufs Schweigen setzt,
der hofft auf den Triumph zuletzt.
Gibt sich neutral, als sei er Luft,
der Kerl ist ganz schön ausgebufft.

Zwei Stühle. Zwischen ihnen ich.
Nun ja, nicht grade wonniglich,
man sitzt bloß in der Lücke drin.
Doch auch ein Sitzplatz. Immerhin.

Missgeburt

Nun schreibt er täglich ein Gedicht,
mit dem er nächtlich schwanger ging.
Und er gebiert ein Leichtgewicht,
beäugt den dürren Abkömmling.

Das arme Ding, es rührt ihn sehr.
Er weiß um seine Vaterpflicht:
Verstoßen tät er’s nimmermehr.
Denn immerhin ist’s sein Gedicht.

Bertrand et Martine

Bertrand ist ein hauttyp. Jeden morgen geht er nackt in den kleinen park, drei straßenzüge von seiner wohnung entfernt – die leute nennen ihn den Warschauer Platz, weil sich dort abends polen treffen und von zuhause erzählen – und lässt sich von den krähen die haut blutig picken.

Es war nicht leicht, die tiere dazu zu bringen. Es bedurfte viel geduld, monatelanger anstrengungen. Zuerst brachte Bertrand den vögeln futter mit, teile von geschredderten hühnerküken aus der legebatterie am stadtrand. Sorgfältig verteilte er ein paar meter vor sich auf dem splittweg kükenköpfe mit schnäbeln daran, kükenbeine ohne flaum. Stundenlang saß Bertrand dann ganz still und unbeweglich auf der bank. Und wartete.

Nachdem sich die krähen trotz seiner anwesenheit getraut hatten, das bereit gelegte futter zu holen, verkürzte er nach und nach den abstand zwischen sich und den kükenteilen. Schließlich legte er diese auf seine ausgestreckte hand, seinen oberschenkel oder seine schulter. Später wiederholte er die zeremonie nackt. Bis die krähen begannen, das futter vorsichtig von seiner haut zu picken.

Dann ging er dazu über, die toten küken mit paketschnur an seinen nackten armen und beinen festzubinden, so dass die vögel nur mit gewalt an ihr futter kommen konnten und ihn dabei blutig picken mussten. Schließlich verzichtet Bertrand ganz auf die küken. Die krähen wurden wilder und gieriger. Am ende belohnte er sie mit ganzen küken anstatt nur teilen.

Eine alte frau von schräg gegenüber beobachtete Bertrand regelmäßig bei seinen übungen. Seine haut wurde unansehnlich und wund. Immer öfter blutete sie und entzündete sich.

Manchmal rezitiert Bertrand laut oder in gedanken gedichte von Rilke, Verlaine und Cummings.

Eines tages traf Bertrand Martine. Sie war neu in der stadt und sprecherin eines internetforums für junge borderlinerinnen.

All diese Sommer

Wohin sind die
Gleißenden Tage der Sommer,
Als wir bedenkenlos durch die
Grünen Himmel der Wälder liefen.
So leicht war’s ums Herz.

Göttergleich
Warfen wir uns in die Tage,
Gesang und Wein Anfang und Ende.
Doch kurz die Nächte des Juni,
kurz die Sommer.

Nun der kahle Herbst,
Grau drückt der Himmel auf die Dächer.
Schwer zu glauben, dass in diesen
Straßen, hinter diesen Fenstern
Jemals der Sommer war.

Chorin (7)

Bauwerk aus Raum und Zeit

Grundbestimmungen: Material, Melodie,
Gesamteindruck.

Elemente: Stein auf Stein, Ton an Ton.
Raum & Zeit, gegliedert.

Art der Ausführung: zum Vergleich –
Gransee im Norden, auch im Süden
klobige Genialität.

In einem Stück gedacht,
ein Art
geometrischer Moloch.

Nichts dergleichen
hier – –

das Denken des Schöpfers
war
gefiederte Schlange,
Metapher nicht & nicht Möchtegern,
eine Schöpfung
aus Atomen.

Die Frage bleibt: Panharmonie
oder erzwungenes Gleichgewicht?

Erst 1789 erkannte
der junge Gauß, dass
man das Siebeneck regulär
nicht bauen kann. Und
konstruiert daraus
das Siebzehneck.

Woher diese Musik?
Wie ist dieses beredte
Schweigen möglich?

Brummen bei fünfzig Hertz,
Herzschlag – – – oder Hintergrund?

Nur ein gelungenes Bauwerk
aus Raum und Zeit,
grazile Vorderfront ge
gliederter Zeit auf dem
nächtlichen Hintergrund des Vergessens
ihrer
unmerklichen Bewegung.

Mandel : stam

im Kulturprogramm, Blas
phemie mit Kapelle für
vier Instrumente.

Der Einlasser trägt den Taktstock
im Rücken, die Lichter
tanzen zu seinem Blues.

Die Frau auf der Bühne
gähnt nicht, der Fuchspelz nur
stellt ihr tanzend nach.

Vers chwisterung
eines Buchs voller Zeichen
mit nichts & niemandem, jetzt –

vier Instrumente
mit Blasphemie inner
Kapelle Kulturprogramm:

Mandelstam, für alle _ sto
gramm unnen Einbaum
für die Überfahrt :