Spaß muss sein

Die nette, gute, stets besorgte Dame Kleist,
die höchstwahrscheinlich Müller oder Lehmann heißt,
ist sehr erbost, wenn wer ihr dumpfes Nest bescheißt,
ihr fehlt nicht nur, was man geläufig nennt den Geist.

Statt Denkerstirn hat sie am Kopfe bloß Frisur,
nichtsdestotrotz ist sie von staatlicher Statur,
die schleppt sie hoffnungsfroh mit Eifer und Bravour,
das liegt so drin in ihrer ganzen Kleist-Natur.

Sie hasst, sie geifert, leidet schwer an Atemnot,
verneigt nach oben sich servil und sehr devot.
Was sie am meisten hasst, das ist die Farbe Rot.
Gehört sich doch, weiß man, als strammer Patriot.

Um hier unreifes Panschen in der Literatur als Antwort zu erhalten?

Wir waren zu einer Weihnachtsfeier eingeladen. Der Gastgeber saß, schon betrunken vom gepanschten Wein, am Tisch und redete nicht mit uns. Das Essen stand bereit, jeder hatte etwas Leckeres zum Verkosten mitgebracht: als Vorspeise eine Rote-Linsen-Suppe nebst Kokos und Rote Beete, dazu herzhaftes Getreide mit Gemüseeinlage. Grüner Salat stand bereits geschnitten und zum Verzehr bereit. Doch was dann geschah, nahm uns den Atem. Unser Gastgeber stand mit seinem Glas gepanschtem Wein in der Hand auf, öffnete die Balkontür und goss sich den Wein vor die Füße! Tagsüber schüchtern, abends auf Krawall gebürstet. Als sei nichts geschehen, trat er ins Zimmer zurück, schloss die Balkontür und schlug den Untertan auf. Er hatte auf dem letzten Fest die ganze Zeit davon geredet, dass er ein Seminar zu Heinrich Mann vorbereiten müsse. Jetzt waren wir reif genug, einen Auszug daraus zu hören. Hanne neben mir knackte eine Nuss, Lisette humpelte mit ihrem gebrochenen Fuß in Gips zur Küchentür, als ob sie horchen wollte, wer da noch käme. Konrad, unser Ältester, schwadronierte von schwarzen Löchern und verfiel gleich darauf in ein Jammern, er hätte die Eiswürfel aus dem Supermarkt besorgt und wieder würde keiner Vodka trinken. Das sei nicht in Ordnung. Hanne meinte, nun läute die Stunde des Zorns. Unser Gastgeber war gerade bei der Stelle mit dem engen Garten angekommen. Wutentbrannt sprang er auf und ein Becher Glühwein landete auf Hannes frischer Hose. „Was glaubt ihr, warum ich euch eingeladen habe? Um hier unreifes Panschen in der Literatur als Antwort zu erhalten?“

Das Schnippchen

Die Mittagssonne schien in die Küche. Inga trat ans Fenster und sah auf den menschenleeren Hof hinaus.

Auf dem Herd brodelte das Mittagessen, es gab Mohrrübeneintopf. Gern hätte Inga etwas Opulenteres gekocht. Aber die Mutter brachte es fertig, keinen Bissen herunterzuschlucken, falls ihr das Essen nicht gefiel, egal, wie gut es zubereitet war. Und gestern hatte sie eher befohlen als gewünscht, morgen zu Mittag Mohrrübeneintopf essen zu wollen.

„Inga! Ingachen! Komm doch!“ Inga löste sich widerwillig vom Fenster, sie musste sich anstrengen, der Mutter ein unbemühtes Gesicht zu zeigen, im Gehen probierte sie ein Lächeln.

Die Mutter streckte der Tochter die Arme entgegen, wortlos.

„Auf die andere Seite, Mutter?“

„Ja, Ingachen, wenn du so lieb sein würdest.“ Inga hob den Kopf der Mutter an, sie fühlte das schüttere Dauerwellenhaar in der Handfläche. Mit beiden Armen drückte sie den schweren Leib der Mutter auf die andere Seite, zum Fenster.

„Gib mir deine Zähne. Ich will nicht, dass du erstickst.“

„Was ist denn heute für ein Wetter, Ingachen?“ Nun, zahnlos, nuschelte die Mutter, und Inga empfand so etwas wie einen kleinen Triumph, den sie sich nicht erklären konnte.

„Oktoberwetter, Mutter. Herbst eben.“

„Aber es scheint doch die Sonne.“

„Ja, Mutter, es ist ein sonniger Tag.“

Die Mutter griff zur Schnabeltasse auf dem Nachttisch. Sie schlürfte mit ihrem zahnlosen Mund. Inga saß im Sessel am Fenster und warf ab und zu einen Blick hinüber zum Bett der Mutter.

„Ist der Tee auch nicht zu kalt?“

„Es geht, ich trinke ihn gern ein bisschen lauwarm.“ Die Mutter ließ den Kopf ins Kissen zurückfallen. „Wann kommt denn dieser Nervtöter, der mir die Spritze gibt?“

„Das weißt du doch, jeden Tag um dieselbe Zeit, gegen sechs. Was fragst du?“

Die Mutter blickte misstrauisch und, wie es Inga schien, prüfend zu ihr hinüber. „Ich habe es vergessen. Ach, Ingachen“, der zahnlose Mund der Mutter bewegte sich wie eine geöffnete Muschel, „Kind, ich will nicht mehr.“

„Was du immer erzählst. Hab dich nicht so. Und dabei scheint die Sonne. Weißt du was, Mutter – wollen wir Mensch ärger dich nicht spielen?“ Inga hatte schon die Schranktür geöffnet.

„Nein, lass, heute nicht. Ich will reden. Lieber reden.“

„Worüber, Mutter?“

„Weiß nicht. Ich denk manchmal, Inga, solange man redet, lebt man.“

„Aber du lebst doch. Und manchmal redest du viel zuviel. Achtzig Jahre sind kein Alter, Mutter.“

„Was macht denn dein Gerd inzwischen?“ Das Gesicht der Mutter belebte sich. „Wenn du bei mir bist? Du vernachlässigst ihn doch nicht etwa? Ich will nicht, dass ihr auseinandergeht.“

„Nein, Mutter. Wir gehen nicht auseinander. Gerd ist sowieso die Woche über nicht zu Hause. Er kommt erst am Sonnabend.“

„Sonnabend?“

„Ja, Sonnabend.“

„Das ist doch keine Ehe, Kind.“

„Nein, Mutter. Eine Ehe ist das nicht.“

„Das ist ja, als ob er dein Galan wäre. Aber lieb hast du ihn doch, nicht?“

„Mutter, ich bin siebenundfünfzig.“

„Eine Antwort ist das nicht. Du gibst mir nie eine Antwort. Als ob ich nichts mehr begreifen würde. Alt und dumm, denkst du. So bist du, herzlos.“

Die Mutter schloss die Augen. Das tat sie immer, wenn sie mit Inga unzufrieden war.
Inga erhob sich, sie musste nach der Suppe sehen.

„Dein Vater, Inga“, die Mutter öffnete wieder die Augen, „der ist ja schon lange tot. Lass mich nachrechnen.“

„Seit ich vierzehn war, Mutter.“ Inga stand schon an der Tür.

„Ja, vierzehn warst du damals. Aber dass du jeden Sonntag mit ins Krankenhaus gekommen bist, das hat er dir nicht vergessen.“

„Ich muss mich um die Mohrrüben kümmern, Mutter.“

„Mach doch mal das Fenster auf, ich schwitze. Was gibt es denn heute zu essen?“

„Habe ich eben gesagt: Mohrrübeneintopf. Noch eine Viertelstunde, Mutter.“

„Ich wollte heute grüne Bohnen. Nie machst du, was ich dir sage.“

Inga stand vor dem Bett der Mutter. „Gib endlich Ruhe. Du plapperst und plapperst.“

„Droh du mir ruhig. Ich schlag dir doch ein Schnippchen.“ Die Mutter schloss die Augen.

Inga war verärgert. Ewiges Gerede, Schnippchen schlagen, ha! Die Mutter! Sie konnte froh sein, dass sie noch den Oberkörper bewegen konnte.

Die Mutter musste gefüttert werden, Löffel für Löffel. Sie hatte es abgelehnt, selbst zu essen, sie wollte das Bettdeck nicht bekleckern. Der Eintopf war noch heiß, Dampf stieg über dem Teller auf. Inga hatte ihr die Zähne wiedergegeben.

„Wie oft hab ich dir schon gesagt, ich verbrüh mir die Zunge! Du lernst nicht aus.“

„Dann musst du warten, bis das Essen kalt ist.“ Inga setzte den Teller ab.

„Aber ich habe jetzt Hunger.“

Inga rührte, sie pustete den Rauch vom Teller. „So, jetzt. Mach den Mund auf, Mutter.“

„Wenn du mich verbrennst, schrei ich.“ Gehorsam öffnete die Mutter den Mund.

Endlich war der Teller leer. „Hast du noch Hunger?“

Die Mutter schüttelte den Kopf. Erschöpft lag sie im Kissen.

Inga wischte ihr den Mund ab. „Gib mir die Zähne. Erstick mir nicht.“

Inga war, während die Mutter schlief, einkaufen gewesen und hatte den Rest der Zeit in der Küche verbracht. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie sich im Schlafzimmer hinlegen sollte, entschied sich aber doch, in der Küche zu bleiben. Hier konnte sie besser hören, ob die Mutter erwachte.

Nach dem Teetrinken wollte die Mutter Mensch ärger dich nicht spielen. Inga ließ sie gewinnen.

„Noch ein Spiel?“

Die Mutter überlegte. „Nein. Und Baccara kannst du ja nicht.“

Nein, Baccara konnte sie nicht. Es zu lernen, hatte sie vor Jahren abgelehnt. Kartenspiele! Vergeudete Lebenszeit! Jeden Mittwoch war die Mutter vor ihrem Unfall deshalb zu ihren Freundinnen aufgebrochen, der halbverrückten Hilde Bork und der ehemaligen Schauspielerin Nadja Reuter, die Inga gestern bei ihrem Besuch mit längst vergessenem Theaterklatsch in den Ohren gelegen hatte.

„Hier, Mutter, ich habe dir die Zeitung mitgebracht.“

Die Mutter las Zeitung. Sie schlug den Mittelfalz auf und begann dort zu lesen, Politik interessierte sie nicht. Nur das Umblättern und Geräusche von der Straße unterbrachen
die Stille des Zimmers.

„Inga?“ Die Mutter faltete die Zeitung zusammen.

„Ja, Mutter?“

„Ich will, dass du es für mich tust.“

„Was soll ich tun?“

„Du weißt schon. Es steht in der Zeitung.“

„Was steht in der Zeitung?“

„Na das. Das mit dem Kreonikinstitut. Alle machen es.“

„Komm mir nicht mit diesem Unsinn, Mutter. Das ist was für Lebensmüde, für gehobene Leute, Mutter, Reiche, die zuviel Geld haben. Ach, Mutter. Wenn man dir schon mal eine Zeitung mitbringt …“

„Aber sie schreiben doch, es ist schmerzlos …“

„Lass sie schreiben. Du wirst hundert Jahre alt.“

„Inga, mein Kind.“ Die Stimme der Mutter schmeichelte. „Inga. Komm zu mir, gib mir deine Hand.“

„Noch ein Wort und ich gehe!“

„Du gehst? Du kannst mich doch hier nicht allein lassen! Undankbare, du ..“

„Willst du noch ein Spiel Mensch ärger dich nicht?“

Die Mutter schob beleidigt die Unterlippe vor. „Lenk ruhig ab. Eines Tages schlag ich dir doch ein Schnippchen.“

Inga ließ sie reden. Sie atmete auf. Die Mutter hatte sich beruhigt. Inga sah auf die Straße. Es war schon dämmrig. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie war müde, jetzt ein wenig Schlaf, mehr wünschte sie sich nicht.

„Ich will nicht mehr, ich will nicht mehr, ich will nicht mehr!“ Der Schrei der Mutter riss Inga hoch. Die Mutter wühlte den Kopf ins Kissen, sie warf ihn herum, rechts, links, rechts, links.
Das Gesicht der Mutter verzog sich. Inga stürzte sich auf sie. Sie umfasste den Kopf der Mutter.

„Aber Mutter, wenn du …“ Sie küsste das Gesicht der Mutter, die Stirn, die Wangen, die Nase. „Kein Wort mehr, Mutter! Kein Wort davon!“ Die Mutter wimmerte, winselte, stöhnte.
„Muttilein, nicht doch, so doch nicht … Hätte ich dir bloß nicht die Zeitung …“

Die Mutter stöhnte, stieß Unartikuliertes aus, mit schwachen Armen wollte sie die Tochter von sich wegschieben, Inga sah Tränen. Entschlossen ließ sie den Kopf der Mutter los, sie richtete sich auf. „Aber wenn du es willst, Mutter …“ Ihre Stimme war tonlos. „ Ich tu es.“

„Du tust es?“

„Ja, Mutter. Wenn du es nicht anders willst.“

„Versprich es.“

„Ein andermal.“

„Du lügst! Du lügst mich an! Du lügst deine Mutter an!“ Wieder dieses Winseln und Wimmern, die Mutter stöhnte, sie schlug mit den Fäusten auf das Bettdeck. „Du liebst mich nicht! Ich habe keine Tochter mehr … Keine Tochter … Du Undankbare … Du Tier!“
Sie stieß einen Schrei aus. „Undankbare … Undankbare …“

Inga rührte sich nicht. Sie kannte diese Anfälle doch, sie sollten sie nicht mehr berühren, sie hatte es vergessen. Der letzte Anfall lag ein paar Wochen zurück.

Es schien Stunden zu dauern, ehe sich die Mutter wieder fasste.

Die Mutter, bemerkte Inga dann, beobachtete sie aus Augenschlitzen. Als keine Reaktion von Inga kam, schnäuzte die Mutter sich die Nase und schoss feindselige Blicke hinüber zum Fenster, wo Inga saß.

Zähe Ruhe im Zimmer. Inga blickte hinaus, auf die Straße, die sich belebte. Die Autos fuhren mit eingeschalteten Scheinwerfern, Leute überquerten die Straße. Zeit, im Zimmer Licht zu machen.

„Bring mir ein Glas Wasser, Inga.“ Die Stimme der Mutter befahl. „Dreh mich vorher zum Nachttisch. Und ich will meine Zähne.“

Im Flur sah Inga auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde, und der Pfleger würde klingeln.
Sie ließ das Wasser ein paar Minuten ins Abwaschbecken strömen, ehe sie das Glas volllaufen ließ. Das Wasser war eiskalt.

An der Tür fiel ihr das Glas aus Hand. Es zerschellte auf der Schwelle.

Die Mutter lag auf dem Rücken, den Kopf unnatürlich ins Kissen gedrückt, mit offenen Augen. Sie lächelte. Triumphierend, mit vorgerecktem Kinn.

Ingas Füße bewegten sich zum Bett der Mutter. Sie trat auf etwas, es knirschte. Ein Tablettenröhrchen. Es war leer.

Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief.

Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkstätte vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewußt: ‚Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zuwenig.‘

Heinrich Mann, Der Untertan, Kapitel I
Bei Büchergilde Gutenberg, Zeichnungen von Bernhard Heisig

Themenfindung ist Selbsterfindung

Das Angenehme und Gute haben beide eine Beziehung auf das Begehrungsvermögen, und führen sofern, jenes ein pathologisch-bedingtes (durch Anreize, stimulos), dieses ein reines praktisches Wohlgelallen bei sich, welches nicht bloß durch die Vorstellung des Gegenstandes, sondern zugleich durch die vorgestellte Verknüpfung des Subjekts mit der Existenz desselben bestimmt wird. Nicht bloß der Gegenstand, sondern auch die Existenz desselben gefällt. Daher ist das Geschmacksurteil bloß kontemplativ, d.i. ein Urteil, welches, indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes, nur seine Beschaffenheit mit dem Gefühl der Lust und Unlust zusammenhält. Aber diese Kontemplation selbst ist auch nicht auf Begriffe gerichtet; denn das Geschmacksurteil ist kein Erkenntnisurteil (weder ein theoretisches noch ein praktisches), und daher auch nicht auf Begriffe gegründet, oder auch auf solche abgezweckt.
Das Angenehme, das Schöne, das Gute bezeichnen also drei verschiedene Verhältnisse der Vorstellungen zum Gefühl der Lust und Unlust, in Beziehung auf welches wir Gegenstände, oder Vorstellungsarten, voneinander unterscheiden.

(…)

Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.

(Kritik der Urteilskraft, §5)

Fürchterliner als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm.

Die Fettnäpfchen des Lebens

Im Leben tritt der Mensch in manches rein,
den Rosenzüchter- und den Sportverein –
er will dabeisein, immer vorneweg,
er kümmert sich partout um jeden Dreck.
Und kein Verein, der ihm dafür zu klein.

Er weiß genau, was grad der Nachbar macht,
sei es bei Tag und sei es in der Nacht –
moralisch misst er jeden Hammerschlag,
nimmt seinerseits den Hammer in Beschlag.
Er schimpft von morgens früh bis spät um acht.

Wohin er sieht, der Ärger wartet schon,
erblickt, was auch geschieht, nur Kollision.
Als Mensch ist er dagegen nicht gefeit,
denn solches kennt er schon seit Kinderzeit,
verliert auch noch die letzte Illusion.

Im Leben tritt der Mensch in manches rein,
den Rosenzüchter- und den Sportverein.
Ihm hat sein Dasein tüchtig mitgespielt –
verantwortlich, wie er sich nun mal fühlt.
Warum denn nicht, der Fettnapf, der ist sein.

Der kleine Überfluss II

Als blasser Underdog hat man’s nicht leicht.
Was Mitleid heißt, das hat die Welt vergessen
und meint, dem Kerl ist das doch angemessen.
Du hast bloß Pech, so matt und ausgebleicht.

Ein Stückchen Glück, das hätte dir gereicht.
Du hast dir noch kein Bäuchlein angefressen,
liegt wohl auch kaum im eigenen Ermessen,
du bist auf Schmalhans‘ Küche doch geeicht.

Den kleinen Überfluss, für den man lebt,
auch wenn er ständig dir vor Augen schwebt,
den kannst du dir beileibe niemals leisten.

Du trägst dein Etikett wie angeklebt,
dein Leben lang hast du umsonst gestrebt.
Doch geht es so wie dir den allermeisten.

Das Dunkel

riecht nach Luchs.
Ich streife durch die Tiefen meiner Sprache.
Zeit bricht
mit wuchtigen Fingern Worte.
Wir starren Löcher in die Luft
und füllen sie mit Stimmen.

Auf der Rückseite
sind die Tage rau,
kaum schwerer als der Regen.
Ich halte Stunden
gegen das Licht,
doch nichts scheint durch.
Auf ihrer Haut
sammelt sich die Nacht.

Das Aquarell

Das kleine Aquarell über meinem Schreibtisch ist von ihm, von Lucien. Ich kenne Lucien nicht, nur sein Bild. Und dass der Maler Lucien heißt, weiß ich nur, weil er seinen Namen in die linke untere Ecke des Aquarells gesetzt hat: Lucien, Paris, 1978.

Ein Haus ist dargestellt, ein sehr altes Pariser Haus, ein Häuschen auf Hühnerbeinen. Würde das Nebenhaus es nicht stützen, bräche es unter der Last der Jahre zusammen. Wie alt mochte es sein? Zweihundert Jahre, dreihundert? Mir wäre es angenehm, wenn es noch aus der Zeit Heinrichs des Vierten stammte. Doch das ist nicht wahrscheinlich, eine schöne Illusion.

Das Häuschen hat vier Etagen. Im Erdgeschoss befindet sich ein Laden, die Auslagen sind nicht erkennbar, es gibt kein Ladenschild. Vielleicht haben hinter den Scheiben einmal Weißnäherinnen gesessen und für ein paar Sous am Tage genäht, für die Pariser Emporkömmlinge unter Napoleon III., für seine Eugenie, die Schöne, die Eitle. Das wäre eher wahrscheinlich. In der zweiten Etage Gardinen hinter den Scheiben, Pilaster umarmen die drei Fenster, zwei nackte Frauenkörper mit angestrengten Gesichtern. Die dritte Etage hat nur zwei Fenster, breiter als die darunterliegenden. Es gibt nichts weiter zu sagen über sie, anonym blicken sie auf die Straße. Die Mansarde besitzt wieder drei Fenster, es sind nur Fensterchen, im Winter wird es kalt sein in den Räumen hinter ihnen, auch wenn der Pariser Winter weniger kalt ist als der deutsche.

Man sieht ein Stück Trottoir. Niemand geht darauf. Es besteht aus quadratischem hellem Gestein. Es ist ausgetreten von Tausenden Pariser Füßen, von langen Pariser Jahren.

Luciens Aquarell war ein Gastgeschenk. Er hatte es Arbeitern unseres Betriebs geschickt. Den Begleitbrief kenne ich nicht, nichts weiß ich darüber.

Aber ich weiß, dass es sterben sollte, Luciens Aquarell. Damals, im Oktober 90. Wir räumten unsere Schreibtische aus. Alles, was in dem neuen Deutschland nicht mehr gebraucht wurde, lag mitten auf dem breiten Gang, zu einem Abfallhaufen aufgetürmt, Müll, bestimmt für den Container. DDR-Schrott. Ich bückte mich, sah, dass es ein gekonnt gemaltes Aquarell war, und nahm es mit.

Es hängt über meinem Schreibtisch, seit jenem Jahr 90. Luciens Aquarell spricht. Es spricht zu mir von den Streiks in Frankreichs, vom Non zur EU-Verfassung, von den Studentendemonstrationen. Und es flüstert: von längst vergangenen Zeiten, von den Pariser Weißnäherinnen, den Bonvivants, die mit den jungen Frauen hinter den Scheiben kokettierten, vom sagenhaften Pariser Frühling.

Luciens Bild spricht. Sehr leise, aber vernehmbar.

Operation Winterstern

Die Kontrolettis hatten ihre letzten Stumpen zur Fixierung der revolutionären Bewegung aufgeboten. – Überall lagen entwertete Fahrkarten herum. Man bräuchte sich nur zu bücken und wäre schon im Besitz einiger, heute nicht mehr gültiger Euros gewesen. – Eine Kehrmaschine besprühte den Untergrund mit weißem Schaum, kreisende Bürsten erzeugten ein feuchtes, schabendes Geräusch. – Als Gegenteil des Fegefeuers hatten sie die Spätreinigung erfunden: Tauchet ein, Schabet ab – morgen früh wird es keine Erinnerung an dieses Gemisch aus Unrat, verdautem Halbwissen und aktuellem Kurswert mehr geben. – Die Ganztagsbetreuung hat den Halbtagszirkus abgelöst. – Alle Akrobatik ist den Halbheiten soliden Wissens gewichen, wir wissen nun, dass wir alles wissen könnten, hätten wir nur Zugang zum Zentralrechner. – Der Code ist in ständiger Bewegung. – Durch alle Umwälzungen der öffentlichen Meinung hindurch zieht sich das nicht mit bloßem Ohr zu vernehmende Tickern der Codiermaschine. – Wasser marsch! sprudelt es aus mit herumgedrehten Plastikeimern nur unvollkommen getarnten Gehirnen. – Wasser marsch, alles werde neu!

Stil für Herzkranke

Licht von Glühbirnen unter schwarzem Metall.  Es traf die Augen, die der Besucher machte. Ihre Wohnung musste von Anfang an mit Elektrizität versorgt gewesen sein. Aus der Zimmerdecke wölbte sich ein Stucktorso. Jedes Ornament ist ein Verbrechen? Vielleicht. Jugendstil aber – war Orgasmus. Deshalb, sagte sie, sei er kein Stil für Herzkranke. Doch die Belastung, der sich das Herz-Kreislaufsystem beim Geschlechtsverkehr normalerweise ausgesetzt sieht, gleicht nur einem kurzen raschen Spaziergang oder dem Treppensteigen über zwei Stockwerke. Und wohlhabende Leute ziehen in den lebensfreundlichen, zweiten Stock. Die Damen mit den steinernen Herzen waren überzeugt, dass alle Lust Ewigkeit wollte.

Zeitwall

Meine Sehnsucht schweigt
sich alt.
Die Zeit hat mir
in dieser Nacht
vom Haar genommen.
Ich träumte schwarzen Sand,
der fiel und fiel
und an den Ufern Falten legte.
Dort rauscht ein Fluss
und nagt am Tagesrand.
Ich bäumte mich im Schlaf
und legte Jahresringe
ans Gestade,
doch das Wasser
zog sie in den Sog
der Wellen.

Am Morgen ragten
sieben Deiche
tief ins Land.

Am Spreekanal

Die Bäume nackt in sich zurückgezogen,
und grau die Luft vorm nahen ersten Schnee.
Geräuschlos fließt es unterm Brückenbogen,
fast leer schräg gegenüber ein Café.

November nebelt durch Berliner Straßen.
Auf Bürgersteigen noch das braune Laub,
das Wind und Wetter absichtslos vergaßen,
und unbemerkt verwirbelt blasser Staub.

Ganz melancholisch wird’s dir im Gemüte.
Erinnerst dich, wie‘s hier im Sommer war,
der jetzt kaum mehr ist nur als eine Mythe.
Beinahe riecht es schon nach Januar.

Berlin am Morgen

Die Straße menschenleer in dieser Frühe,
ein Laster donnert über den Asphalt.
Die Stadt erschöpft von ihres Tages Mühe,
was war, ist lang schon von ihr abgeprallt.

Am Horizont verkümmern letzte Sterne.
Die Stadt im Schlaf, ein grummelnder Moloch.
Geräusche hin und wieder aus der Ferne –
man träumt sich eins, und sei es bloß jedoch.

Ohne Lust und Liebe

Draußen zeigte sich wieder die Krankenschwester, kurzsichtig und neugierig nach ihnen spähend. Aber im ersten Stockwerk blieb Hans Castorp plötzlich stehen, festgebannt von einem vollkommen grässlichen Geräusch, das in geringer Entfernung hinter einer Biegung des Korridors vernehmlich wurde, einem Geräusch, nicht laut, aber so ausgemacht abscheulicher Art, dass Hans Castorp eine Grimasse schnitt und seinen Vetter mit erweiterten Augen ansah. Es war Husten, offenbar, – eines Mannes Husten; aber ein Husten, der keinem anderen ähnelte, den Hans Castorp jemals gehört hatte, ja mit dem verglichen jeder andere ihm bekannte Husten eine prächtige und gesunde Lebensäußerung gewesen war, – ein Husten ganz ohne Lust und Liebe, der nicht in richtigen Stößen geschah, sondern nur wie ein schauerlich kraftloses Wühlen im Brei organischer Auflösung klang. “Ja“, sagte Joachim, „da sieht es böse aus. Ein österreichischer Aristokrat, weißt Du, eleganter Mann. Und nun steht es so mit ihm. Aber er geht noch herum.“

(Thomas Mann, Der Zauberberg, S. 16)

Da ist kein Wort

Was ich hörte. Genug
Geräusche des Tröstens. Uns blieben
die Federn der Nachtvögel.

Deine Hand
auf meinem Haar. Sprich nicht, sagst du.
Als gäb es Gründe nicht
tausendfach.

Licht will ich. Und die Regen,
die morgens niedergehen, spüren
auf der Haut.

Wie gefangen wir sind.

Jesus, deine Höflichkeit

Wer einst die Höflichkeit erfunden hat,
war Jesus, steht doch in der Bibel drin:
„Haust du mir auf die Backe, halt ich glatt
dir auch noch gleich die andre Backe hin!“

Vergiss die Höflichkeit dabei nicht gleich,
sag: „Bitte sehr! Bediene dich, mein Bester!“
Verbuchst du als dein Plus fürs Himmelreich.
Der andre haut dann auch ein bisschen fester.

An diesem Beispiel kann man gut studieren,
wie vorteilhaft die Höflichkeit doch ist.
Wohl keiner braucht sich deshalb zu genieren.
Und notfalls wird er eben Masochist.

Wenn er seinen Verstand gebrauchen sollte, so war es ihm, als wenn jemand, der beständig seine rechte Hand gebraucht hat, etwas mit der linken tun soll.
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, S. 40

Kommentarfunktion_Der Mann__Endlich allein

Der Schlafbursche oder: Wie ein Mann zum erstenmal seine Frau verabscheut

Sie ist ein Scheusal. Was nur hatte er all die Jahre an ihr gefunden? Er schaltete den Fernseher ab. Die da auf der Mattscheibe hörte auf sich zu rekeln. Seit er seine Kinder in den Zug gesetzt hatte, begann ein Jüngerer durchzubrechen in ihm. Die Bierflasche stand ungeöffnet auf dem Tisch.
Seit seiner Frau im Zorn dieser folgenschwere Satz unterlaufen war, der ihn von jetzt auf gleich degradierte, entwaffnete und ihn all seiner Ehrenzeichen beraubte, war er nicht mehr Herr seiner selbst. Er saß teilnahmslos auf der Couch, die Couch hüllte den Hintern ein mit der ganzen, dämlichen Bequemlichkeit eines gepolsterten Sitzmöbels, und er, einst Proletarier von Gottes Gnaden, ja zeitweise sogar Sieger der Geschichte, kämpfte. Gegen einen unsichtbaren Feind. Wollte nun nicht mehr kämpfen.
Sie hatte sich zu Susi abgesetzt. Ihrer alten Freundin Susanne, die sich immer schon hin und wieder über ihn lustig gemacht hatte, die dann und wann unversehens bei ihnen aufkreuzte und mit ihrer Art zu lachen in der Lage war, alle Argumente beiseite zu schieben bis auf das letzte. Abschied.
„Was soll ich denn noch mit dir?“
Ihn fröstelte unmerklich. Er sah die Dämmerung hinter der Scheibe und wusste nicht: Ist das der Morgen? der Abend? Er wusste, dass er bald sterben würde. Seit ihn zum erstenmal dieser Schneesturm wie ein innerer Wind in Gegenden, die noch keines Menschen Blick auch nur berührt, durchzogen hatte, ahnte er die Bedeutung einer Rede, die ihm nun so menschlich erschien wie alles Unmenschliche.
Jenseits.
Vorhin noch hatte er an der menschenleeren Kreuzung auf Grün gewartet. Lächerlich. Aber die zur Gewohnheit geronnene Disziplin der ersten Nachkriegsjahre war ihm heilig. Flucht. Er hasste seit je unklare Verhältnisse. Aber er war nun auf der Flucht. Und seit das letzte gepixelte Zucken aus dem Innern der Bildschirmfläche dort drüben verschwunden war, wusste er das.

Endlich allein

Der Bahnsteig hatte sich geleert, vorn wurde gepfiffen, der Zug ruckte an und glitt hinaus in die Nacht. Ein Mann, nicht mehr jung, blickte ihm nach, bis die Schlusslichter zu einem einzigen glühendroten Punkt verschwammen.

Der Kiosk hatte noch geöffnet. Der Mann kaufte eine Schachtel Zigaretten und stand dann noch eine Weile auf dem Bahnhof herum. Er steckte sich eine Zigarette an und lief gemächlich zur großen Treppe, die in den unterirdischen Bahnhof mit seinen S-Bahnsteigen führte.

Es war ein unauffälliger Mann. Er hatte etwas von einem anständigen Arbeiter an sich, der seinen Kindern die Eigentumswohnung schuldenfrei übergeben wollte und deshalb alle Demütigungen im Betrieb auf sich nahm. Jemand, der ihn von weitem sah, dachte: Ein grauer Mann. Alles war grau an ihm: der Mantel, das nicht mehr ganz volle Haar, die Blässe des Gesichts im Schein der Bahnhofsbeleuchtung.

Ein langer Tunnel führte zur Hauptstraße, schwach von Neonlicht erhellt. Die Schritte des Mannes hallten von den graffitibeschmierten Kachelwänden wider. Dass er müde war, bemerkte er, als er die steile Treppe zur Straße hinaufstieg. Jeder Schritt ein Sieg über sich selbst. Die Straße empfing ihn wie einen, den sie nicht erwartet hatte: windig und kühl.

Noch auf ein Bier, dachte der Mann. Prüfend warf er einen Blick in das kleine vietnamesische Imbisslokal an der Ecke, das erst seit kurzem geöffnet hatte. Es war fast leer. Zwei Halbbetrunkene verdeckten den Tresen, hinter dem der Mann einen jungen Vietnamesen bemerkte, mit dem Spülen von Gläsern beschäftigt. Er war schon an der Tür, als er sich anders entschied.

Der Mann war auf dem Weg zu seiner Wohnung in einer der Seitenstraßen. Dass er auf das Bier verzichtet hatte, mochte Gründe haben, er dachte nicht darüber nach. An der menschenleeren Kreuzung wartete er. Lächerlich, dachte der Mann, nachts an der Ampel warten. Aber er wartete, er hielt viel von Disziplin, auch wenn sie jetzt niemandem auffallen mochte. Vielleicht saß irgendwo jemand vor einem Bildschirm mit der Kreuzung, beobachtete ihn und war es zufrieden, dass er auf Grün wartete. Er sollte nicht enttäuscht werden, nicht von ihm.

Es war eine Flucht. Er hasste solche unklaren Verhältnisse. Aber es war eine Flucht.
Auf dem Bahnhof war er aus seiner Familie geflohen. Aus einer Familie, die er nicht mehr wollte und die er verabscheute. Nicht ganz richtig, dachte er, nicht die gesamte Familie, nicht den Sohn und die Tochter, nur seine Frau. Er hatte sie in den Zug gesetzt, um Ruhe zu haben, vielleicht zwei Wochen lang, so lange würde sie sich bei ihren Eltern mit den Kindern aufhalten können. Und er hätte seine Ruhe, nichts als Ruhe.

Am besten wäre es, er reichte die Scheidung ein. Die Kinder, noch zu jung, um Mitleid mit ihm zu empfinden, aber schon zu alt, als dass sie nicht begriffen, gehörten zur Mutter. Er wusste nicht, ob er den Jungen noch liebte, sicher würde er zur Mutter halten. Anders die Tochter. Er sei ihr Lieblingspappi, hatte sie geschmeichelt. Aber das war schon egal, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, wusste er, dass er kein Vater war, nicht mehr ihr Vater, sondern nur noch der Schlafbursche, dem die Wäsche gewaschen und das Essen vorgesetzt wurde. So hatte ihn seine Frau angefahren, er hatte ihr wutverzerrtes Gesicht noch vor Augen.

Ausgelaugt war er vor zwei Wochen von der Arbeit gekommen, alle müssten heute eine Stunde länger arbeiten, hatte der Chef kurz nach der Mittagspause gesagt. Es war spät geworden, schon halb acht. Die Frau empfing ihn an der Wohnungstür: „Schön, dass du endlich kommst! Dein Sohn hat heute die Schule geschwänzt und sich rumgetrieben! Zeit, dich mal um die Familie zu kümmern! Auf mich hört er ja nicht!“

Er hatte nur abgewehrt: „ Lass mich erst mal heimkommen. Ich knöpf mir den Burschen vor!“

Sich den Burschen vorknöpfen – er hatte keine Ahnung, was er dem Jungen außer das Übliche sagen sollte. Alles war aus den Fugen, seit sich die Verhältnisse geändert hatten.

Nachdem sein Betrieb damals, 1990, an einen westlichen Investor verkauft worden war, wurde die gesamte Belegschaft entlassen. An der Stelle, wo seine Produktionshalle gestanden hatte, gähnte heute eine unkrautüberwucherte Brache. Lange war er arbeitslos gewesen, bis ihm vom Amt die Hilfsarbeiterstelle in einem Metallbetrieb angeboten worden war, die er dann ohne lange Überlegung angenommen hatte. Aber das Geld. Es war zu knapp für vier Köpfe, die Frau tat ja in der Küche, was sie konnte, klagte aber ständig darüber, dass es anderen Leuten besser ging. Immer unleidlicher war sie geworden. Am Ende warf sie ihm vor, dass er selbst schuld gewesen sei, dass man ihm nur diese Hilfsarbeiterstelle angeboten hatte. Bei seiner Ausbildung und mit dieser Berufserfahrung! Er musste ja gleich zupacken, statt auf was Anständiges zu warten. Nein, seine Frau verstand nichts. Selbst hatte sie es schon lange aufgegeben, sich einen Job zu suchen, jetzt lastete alles auf ihm. „Dem Ernährer“, sagte sie vorwurfsvoll.

Und als sie ihm dann mit dem Schlafburschen kam, rastete er aus: „Du willst die Scheidung? Kannst du haben! Für mich allein reicht mein Lohn gerade! Das bisschen Unterhalt für die Kinder kratze ich auch noch zusammen!“

Er wusste nicht, wann sie das letzte Mal in sein Bett gekrochen war. Musste lange her sein. In diesem Moment fand er seine Frau hässlich, und er fragte sich, welcher Teufel ihn damals geritten hatte, ausgerechnet sie zu heiraten.

Ja, Scheidung. Wäre am besten. Aber woher das Geld für den Anwalt nehmen? Als er laut darüber nachdachte, war die Frau empört gewesen: „Da tut und macht man, was nur geht, verzichtet auf alles, jetzt, wo es alles gibt, sieh dich doch um, ich brauche auch mal einen neuen Pullover, und die Kinder haben auch Ansprüche! Aber du? Du kommst abends nach Hause und bist müde. Und das Geld reicht nicht hinten und vorne. Was soll ich noch mit dir?“

Das letzte hätte sie nicht sagen dürfen. „Also Scheidung“, hatte er wütend erwidert. „ Du willst sie?“

Einen Moment hatte sie gestutzt. „Auf keinen Fall“, sagte sie dann betont ruhig. “Meine Einwilligung in die Scheidung behalte ich mir vor. Das hängt von der Höhe des Unterhalts ab, mein Lieber.“

Es war das längste Gespräch, das sie in letzter Zeit miteinander geführt hatten. Er hatte seine
Müdigkeit, seine Verlassenheit in diesem lächerlichen Zustand, den sie noch immer ihre Ehe nannte, nicht erwähnt. Sie hätte ihn ausgelacht. Sie verstand nichts. Wenn die Ehe noch eines war, dann war sie absurd.

Der Mann hatte sein Haus erreicht, ein Berliner Mietshaus mit Vorder- und Personaleingang. Er nahm den Personaleingang und stieg die drei Treppen hinauf, bemüht, leise aufzutreten, damit die Nachbarn hinter den Türen nicht aufmerksam wurden. Die Treppe hatte einen roten Kokosläufer, seit das Haus privatisiert worden war. Der Mann stolperte immer auf derselben Stufe. Wie jedesmal, fluchte er auch heute nacht. Dann fluchte er, weil er zu laut geflucht hatte.

Als er den Flur betrat, fühlte er sich frei. Es war eine Freiheit, die nicht lange währen würde, er musste sie auskosten. In der Küche roch es nach Basilikum, das seine Frau auf dem Fensterbrett züchtete. Der Duft war ihm angenehm. Aber dann fiel ihm ein, dass auch dieses Kraut ein Teil seiner Frau war, und er nahm die beiden Töpfe und warf sie in den Mülleimer.

Im Wohnzimmer schaltete er den Fernseher ein und suchte lange nach einem Programm. Endlich fand er einen Sender, der ihm zusagte. Eine Frau, nur mit einem Pullover bekleidet, den sie über die Brüste gezogen hatte, saß breitbeinig in einem Sessel, und der Mann hoffte darauf, dass die Kamera länger auf der Frau weilen würde, aber sie schwenkte ab auf das Gesicht der Frau. Das Frauengesicht schien ihm zu raffiniert, zu ausgekocht, ihn interessierte nicht mehr, welche obszönen Verrenkungen die Frau auf dem Bildschirm noch anstellen würde. Er schaltete den Fernseher ab.

Die Zeitung lag an ihrem Platz neben dem Fernseher. Er suchte die Seite mit den kleingedruckten Anzeigen, fuhr mit dem Zeigefinger über sie hin, blieb dann an einer hängen: Swetlana. Der Name gefiel ihm.

Es war nichts los. Die Nacht war schon angebrochen. Morgen, nahm sich der Mann vor. Er würde sehr lange duschen und sehr lange frühstücken und dann ans Telefon gehen. Morgen, sicher erst mittags. Wir werden sehen, sagte er sich.

Überarbeitet: 24.11.16

Apropos, was ich sagen wollte

Der Mensch regt sich oft über gar nichts auf,
braucht einfach einmal einen Kontrapunkt.
Dann wird er keck; mit Verve und Geschnauf
wirft er sich in die Schlachten, dass es funkt.

Dort steht er gar nicht gern alleine da.
So sucht er sich Verstärkung, findet sie,
vermeidet Aufruhr nicht und nicht Eklat,
und hin ist selbst die schönste Harmonie.

Verleumdet seine Feinde, wo er kann.
Da ist er ausgesprochen anspruchsvoll.
Er glaubt am Ende auch noch selbst daran
und fühlt sich mausewohl in seinem Groll.

Er kann nicht anders, hat es „im Gefühl“,
er weiß, er hat das beste Argument.
Und falls mal nicht, dann setzt er aufs Kalkül –
er ist, man sieht’s, in seinem Element.

Das ist von ihm gewiss kein schöner Zug.
Was soll man tun, so ist die Welt nun mal,
voll Infamie, Gemeinheit und Betrug.
Das ist, so scheint es mir, ihr Muttermal.

Steckrübeneintopf II

Den Dichter kommt das holde Dichten an.
Ein bissel dies und das, nur bissel dichten,
mehr will der Dichter nicht, der brave Mann,
will ernst sein ernstes Tagewerk verrichten.

Noch ahnt er nicht, wovon er heute schreibt.
Die Wände schweigen, und es schweigt die Muse.
Er stutzt: Wo heut denn nur die Muse bleibt?
Verzweifelt ruft er nach der Frau, der Suse.

Die Hausfrau kommt, der erste Vers, er steht.
Wie aber, liebe Suse, geht’s nun weiter?
Er fühlt, dass ihn der Muse Hauch umweht,
und plötzlich ist der Dichter fast schon heiter.

Ihm ist, als schriebe es von selbst aus ihm,
es strömt der Vers ihm in die Dichterfeder,
er spürt den Flügelschlag des Cherubim,
und gar gewaltig zieht er jetzt vom Leder.

Dann hält er inne, und es schweift sein Blick
aufs Werk, das ihm, Gott weiß, wie nie gelungen.
Er staunt: Das heute ist sein Meisterstück!
Nie haben seine Verse so geklungen.

Doch eine Stimme tönt: Wo bleibt der Geist?
Er lauscht in sich hinein und in die Stille,
gebrochen nunmehr, elend und verwaist.
Wie unergründlich doch der Musen Wille!

Lass ab, du Leser, such nicht nach dem Sinn,
welch Dichter hat noch etwas zu verkünden?
Wohl liegt in seinem Werk kein Geist mehr drin,
doch suche nur, vielleicht wirst du ihn finden.

Paar Zeilen November

Nun ist es kühl, und vorerst wird’s nicht wärmer,
die Welt wird grau, und grau wird’s im Gemüte.
Der letzte Sommer ist kaum mehr als Mythe,
und man bedauert sich, man fühlt sich ärmer.

Und packt sich ein, man steht auf Winterjacke
und stiefelt durch das feuchte Laub zu Füßen,
denkt sich: Naja, der Winter lässt schon grüßen!
bei jeder noch so lütten Windattacke.

Das Jahr wird langsam, aber sicher müde.
November ist’s, man sieht es an den Bäumen,
man wärmt sich resigniert an warmen Träumen.
Und winkt dann ab mit stiller Attitüde.

Angebrochener Morgen

Wie traurig im Regal der Wecker tickt,
das Ticken hat so was von Stetigkeit.
Ist ja, so scheint es dir, beinah verrückt:
Pro Tick ein Quäntchen deiner Lebenszeit.

Blass starren dich die Zimmerwände an,
der Morgendämmer kommt ganz leis herein.
Der Wecker tickt, der kleine Mordstyrann,
und von der Lampe her ein blasser Schein.

Von draußen nur sehr schwach ein Laut,
du hörst, der Fahrstuhl setzt sich in Betrieb.
Dir kriecht ein Grieseln über deine Haut:
Der Wecker tickt, der sture Zeitendieb.

Der einsame Mann

Der Bahnsteig hatte sich geleert, vorn wurde gepfiffen, der Zug ruckte an und glitt hinaus in die Nacht. Ein Mann, nicht mehr jung, blickte ihm nach, bis die roten Schlusslichter zu einem einzigen glühenden Punkt verschwammen.

Der Kiosk hatte noch geöffnet. Der Mann kaufte eine Schachtel Zigaretten und stand dann noch eine Weile auf dem Bahnhof herum. Er steckte sich eine Zigarette an und lief gemächlich zur großen Treppe, die in den unterirdischen Bahnhof mit seinen S-Bahnsteigen führte.

Es war ein unauffälliger Mann. Er hatte etwas von einem kleinen Angestellten an sich, der seinen Kindern die Eigentumswohnung schuldenfrei übergeben wollte und deshalb alle Demütigungen im Amt auf sich nahm. Jemand, der ihn von weitem sah, dachte: Ein grauer Mann. Alles war grau an ihm: der Mantel, das nicht mehr ganz volle Haar, die Blässe des Gesichts im Schein der Bahnhofsbeleuchtung.

Ein langer Tunnel führte zur Hauptstraße, schwach von Neonlicht erhellt. Die einsamen Schritte des Mannes hallten von den graffitibeschmierten Kachelwänden wider.

Dass er müde war, bemerkte er, als er die steile Treppe zur Straße hinaufstieg. Jeder Schritt ein Sieg über sich selbst. Die Straße, es war eine breite Straße mit vier Fahrbahnen und einem begrünten Mittelstreifen, empfing ihn wie einen, den sie nicht erwartet hatte, gleichgültig, mit sich selbst beschäftigt, im Halbschlaf.

Noch auf ein Bier, dachte der Mann. Prüfend warf er einen Blick in das kleine Imbisslokal an der Ecke, das erst seit kurzem geöffnet hatte. Es war fast leer. Zwei Fastbetrunkene verdeckten den Tresen, hinter dem der Mann einen Vietnamesen bemerkte, mit dem Spülen von Gläsern beschäftigt. Er war schon an der Tür, als er sich anders entschied.

Der Mann war auf dem Weg zu seiner Wohnung, einer leeren Wohnung, in einer der Seitenstraßen. Dass er auf das Bier verzichtet hatte, mochte Gründe haben, er dachte nicht darüber nach. An der menschenleeren Kreuzung musste er warten. Lächerlich, dachte der Mann, nachts an der Ampel warten. Aber er wartete, er hielt viel von Disziplin, auch wenn sie heute nacht niemandem auffallen mochte. Vielleicht saß irgendwo jemand vor einem Bildschirm mit der Kreuzung und war es zufrieden, dass die Ampel funktionierte. Er sollte nicht enttäuscht werden, nicht von ihm.

Es war eine Flucht. Er hasste es, sich verstecken zu müssen. Aber es war eine Flucht.
Heute nacht war er aus seiner Familie geflohen. Aus einer Familie, die er nicht mehr wollte und die er verabscheute. Das war nicht ganz richtig, er verabscheute nicht die gesamte Familie, nicht den Sohn und die Tochter, er verabscheute nur seine Frau. Er hatte sie auf die Bahn gesetzt, um Ruhe zu haben, vielleicht zwei Wochen lang, so lange würde sie sich bei ihren Eltern mit den Kindern aufhalten können, ohne dass sie Verdacht schöpften.

Er hatte die Scheidung eingereicht. Die Kinder, noch zu jung, um Mitleid mit ihm zu empfinden, aber schon zu alt, als dass sie nicht begriffen, gehörten zur Mutter. Er wusste nicht, ob er den Jungen liebte, sicher würde er zur Mutter halten. Anders die Tochter. Er sei ihr Lieblingspappi, sagte sie. Aber das war schon egal, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, wusste er, dass er kein Vater war, nicht mehr ihr Vater, sondern nur noch der Schlafbursche, dem die Wäsche gewaschen und das Essen vorgesetzt wurde. So ähnlich hatte sich seine Frau ausgedrückt, als sie darüber sprachen. Auf keinen Fall, hatte sie gemeint, ihre Einwilligung in die Scheidung behalte sie sich vor, sie hänge von der Höhe des Unterhalts ab. Es war das längste Gespräch, das sie seit vier Jahren miteinander geführt hatten. Er hatte seine Einsamkeit und Verlassenheit in diesem lächerlichen Zustand, den sie noch immer ihre Ehe nannte, nicht erwähnt. Sie hätte ihn ausgelacht. Sie verstand nichts. Wenn ihre Ehe noch eines war, dann war sie absurd.

Der Mann hatte sein Haus erreicht, ein Berliner Mietshaus mit Vorder- und Seiteneingang, auf dem stand: Nur für Personal. Er nahm den Personaleingang und stieg die drei Treppen hinauf, bemüht, leise aufzutreten, damit die Nachbarn hinter den braungeschnitzten Türen nicht aufmerksam wurden. Die Treppe hatte einen roten Kokosläufer. Der Mann stolperte immer auf derselben Stufe. Wie jedesmal, fluchte er auch heute nacht. Dann fluchte er, weil er zu laut geflucht hatte.

Als er den Flur betrat, fühlte er sich endlich frei. Es war eine Freiheit, er wusste es, die nicht lange währen würde, er musste sie auskosten. In der Küche roch es nach Basilikum, das seine Frau auf dem Fensterbrett züchtete. Der Duft war ihm angenehm. Aber dann fiel ihm ein, dass auch dieses Kraut ein Teil seiner Frau war, und er nahm die beiden Töpfe und warf sie in den Mülleimer.

Im Wohnzimmer schaltete er den Fernseher ein und suchte lange nach einem Programm. Endlich fand er einen Sender, der ihm zusagte. Eine Frau, nur mit einem Pullover bekleidet, den sie über die Brüste gezogen hatte, saß breitbeinig in einem Sessel, und der Mann hoffte darauf, dass die Kamera länger auf der Frau weilen würde, aber sie schwenkte ab auf das Gesicht der Frau. Das Frauengesicht schien ihm zu raffiniert, zu ausgekocht, ihn interessierte nicht mehr, welche obszönen Verrenkungen die Frau auf dem Bildschirm noch anstellen würde. Er schaltete den Fernseher ab.

Die Zeitung lag an ihrem Platz neben dem Fernseher. Er suchte die Seite mit den kleingedruckten Anzeigen, fuhr mit dem Zeigefinger über sie hin, blieb dann an einer hängen.
Swetlana. Der Name gefiel ihm.

Es war nichts los. Die Nacht war halb vorbei. Morgen, nahm sich der Mann vor. Er würde sehr lange duschen und sehr lange frühstücken und dann ans Telefon gehen. Morgen, sicher erst mittags. Ja, er war einsam. Einsamer als er war niemand.

Die Hornissage

Gummiuniform hieß das unmögliche Theaterstück, in das Hornberg am folgenden Sonntag mit Iva gehen sollte. Er fürchtete sich davor, er wusste nicht, was ihn erwartete, der Titel sollte wohl die Farce eines Sprachwitzes sein, wahrscheinlich war das Stück Avantgarde oder ein Experiment für die eigene Kunstproduktion, ein Softwaretest, wie Iva am Telefon lachend gesagt hatte. Hornberg fürchtete sich vor schlüpfrigen Anspielungen, er fürchtete sich vor verbalen Angriffen unter der Gürtellinie, die er nicht zu parieren wusste. Oder es war von alledem nichts und das wäre noch unverständlicher gewesen. Iva hatte das Wort putzig gebraucht. Je länger Hornberg darüber nachdachte, desto weniger wollte er dorthin gehen, später sondierte er schon eine passende Ausrede.

Hornberg sagte nicht ab, und es geschah nichts von dem, das er erwartet hatte. Das Stück war ein Volksstück, aufgeführt auf einer kleinen Bühne außerhalb von Dresden. Er und Iva wurden begafft wie Außerirdische, Ihre Jacken geben Sie bitte an der Garderobe ab, mit Jacke in die Vorstellung, das ist bei uns nicht üblich. Iva amüsierte sich sichtlich. „Na, was sagt denn ein IT-Profi zu so etwas.“

Die unappetitlichen Lügengeschichten des Herrn Kreon

Teil II

Sexueller Missbrauch in DDR-Jugendheimen

Quelle: ZEIT ONLINE, Matthias Schlegel

Immer durchzuckt sie diese Angst, wenn der Erzieher in den Gruppenraum tritt, in barschem Ton ihren Namen ruft und den militärischen Befehl hinzufügt: „Raustreten“. Heidemarie ist 16 Jahre alt. Sie wird in eine der Arrestzellen geführt. Sie weiß, was kommen wird, aber sie hat keine Chance, sich dagegen zu wehren. Sie ist hier im Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau an der Elbe gelandet, weil sie immer wieder versucht hat, aus der Hölle ihres Kinderheimes im mecklenburgischen Waren an der Müritz auszubrechen. Nun ist sie an der Endstation des Erziehungssystems der DDR angelangt. Ohne ein Gerichtsverfahren, ohne ein Urteil, fremdbestimmt vom Willen der staatlichen „Jugendhilfe“. 

Langsam und mit leiser Stimme spricht die heute 52-jährige Heidemarie Puls das Unvorstellbare aus. Aber es kommt ohne Stocken, ohne Unterlass aus ihr heraus, so als hätte sie es hunderte Male in ihrem Innern formuliert, ohne dass es sich jemals zuvor Bahn brechen konnte. „Der Erzieher hat gesagt, was ich machen soll. Ich habe es gemacht.“ Denn an diesem Ort ist sie eine Rechtlose, der Willkür der Erzieher ausgeliefert. Manchmal will Herr K. Geschlechtsverkehr. …Danach habe ich meistens ein paar Schläge mit dem Stock gekriegt, damit ich schreie und die anderen in der Gruppe annehmen, ich sei bestraft worden, weil ich gegen irgendeine Regel verstoßen hätte.“

Fünf unendliche Monate muss Heidemarie Mitte der 70er Jahre in Torgau ausharren. Zehn bis zwölf Mal, so erinnert sie sich, habe sie diesen Missbrauch über sich ergehen lassen müssen. Neben Herrn K. vergeht sich auch ein zweiter Erzieher an ihr. Da auch ein zweites Mädchen aus ihrer Gruppe mehrmals, auch nachts, herausgerufen wird, nimmt sie an, dass es ein ähnliches Schicksal erlitt. Gesprochen haben sie darüber nie. Aus Scham, aus Angst, und weil ihnen sowieso niemand geglaubt hätte.

Heidemarie Puls hat ihre Vergangenheit schon intensiv aufgearbeitet. Sie war 15 Jahre lang in therapeutischer Behandlung und hat ein Buch geschrieben über ihre traumatischen Erlebnisse in Torgau, diese brutale Umerziehungsanstalt für junge Menschen, die nicht ins Bild des sozialistischen Staates passten. Sie hat über körperlichen Drill, psychische Repressalien und Zustände geschrieben, die schlimmer waren als im üblichen DDR-Knast. Neuerdings führt sie auch Besuchergruppen durch den Ort des Schreckens, der seit 1998 Gedenkstätte ist. Doch über diese eine Sache hat sie nie so detailliert reden können. Erst als in jüngster Zeit in den Medien bundesweit das Thema des sexuellen Missbrauchs an Kindern in Schulen und Internaten aufgegriffen, als – wenn auch aus ganz anderer Richtung – Licht in eines der dunkelsten Kapitel des Umgangs mit Schutzbefohlenen geworfen wurde, konnte auch Heidemarie Puls die verdrängte Wahrheit ans Tageslicht holen.

________________________

Achtung! Schüttel- und Ekelgefahr!

 

Fürstliche Verse

Das Fernsehn überrascht uns alle Tage.
Zum Beispiel damit, was die Promis machen.
Ob Royals oder Beatrix – ganz ohne Frage,
das sind gewaltig relevante Sachen.
Der Mensch legt sein Gedächtnis kurz mal weg,
jetzt weiß er nicht mehr, wo er’s hingelegt.
Und so bestaunt er noch den letzten Dreck,
stiert auf den Bildschirm, königlich bewegt.

Ein Hohenzollernspross von Gottes Gnaden
reißt seine Gusche auf, dass man nur staunt.
Schmeißt der denn heute noch den deutschen Laden?
Die Majestät blickt mild und gutgelaunt.
Wie herrlich spannend erst die Bettgeschichten,
wer wen und wie und welchen da gezeugt.
Solch Fürsten haben ihre Nachwuchspflichten,
drum wird dann auch ins Kuschelbett geäugt.

Ja, haben denn die Deutschen ganz vergessen,
woher der ganze goldne Plunder stammt,
mit dem das Pack nach Regeln und Finessen
sie ausgepresst für Kriege allesamt?
Dass wir den Wilhelm jagten bis nach Doorn?
Dort durft er doch noch siegen, vielmehr sägen.
(Der Deutsche ist bekanntlich immer vorn,
kriegt er auch tausendfach was auf den Bregen).

Der Glamour und der Glitter nerven mächtig,
wenn’s alle Naselang vom Bildschirm schallt:
Ach, anno dunnemals – wie wunderprächtig!
Man denkt, es käm schlicht mit Naturgewalt.
Mir reicht der ganze Rotz, ich kann nicht mehr.
Gestrichen steht das Zeugs mir überm Kragen.
Ich pfeif auf güldnen Protz und diesen Schmer!
Das muss ich hiermit echt genervt mal sagen.
_____
Mal ein anderes Thema nach diesem unappetitlichen, verlogenen Text des Herrn Kreon.