* * *

Auf einen Berg steigen & in Gedanken hinunterspringen : bis auf den Grund, ins Meer

Einen Stein in Bewegung setzen & zusehen, wie er hinunterrollt : in Gedanken weiterrollen, wenn er dann zur Ruhe kommt

Irgendwann hinabsteigen & sich gleichzeitig vorstellen, die Augen wären geschlossen : mit offenen Augen nach innen schauen, bis ins poröse Mark

Nicht mehr schauen & alles sehen, alles : die Bilder beerdigen

Immer weiter gehen, murmelnd gleiten, gleitend gehen : den Wind zum Gespräch auffordern

„Ich war ein großer Frauenjäger“

für Emil Cioran, den Meister der Launen

 

Sich nicht ablenken : ablenken

lassen : die Menschen sorgen überall

bienengleich für Brot & Kuchen

du kannst überall hingehen : ohne dich

 

zu sorgen : überall gibt es Bleibe

& Bequemlichkeiten für die Nacht : nimm Abschied

von der falschen Liebe : die du mit dir

herumgeschleppt hast : schwerer

 

als jedes Gepäck : von ihr hast du dich

schleppen lassen : sie klebte

an dir : du klebtest an ihr

hast dich nicht losgerissen : hast dich mit ihr

 

abgelenkt vom Einen : vom Eigentlichen

wer glaubt eigentlich noch : daß es das gibt

dir schien es von vorgestern : die existenziellen

Großväter : die immer unrasiert waren

 

glaubt man den Fotos & Lithographien : woran

glaubst du : das Heilige

ist die Genialität des Herzens in der Brust derer : die

keine Muße haben zum Lesen : keine Bedienungsanleitung

 

für ihren Denkapparat : leider hast du

als Kind schon Radios gebastelt & früh

an deinem Sendungsbewußtsein herumgelötet : jetzt

ist die Langeweile dein Antichrist & eigentlicher

 

Gott : du lenkst dich ab

das ist dein Leben : stürzt dich

in eine falsche Liebe nach der anderen : um die Zweifel

an deiner Existenz zu vergessen : reiner

 

Zufall wars : durch den du hinausgepreßt

wurdest : deine Mutter verriet es dir

als du acht warst : ihr Schmerz

hatte für sie keinen Wert : dabei macht er

 

die Existenz köstlich : nirgendwo

als im Schoß einer Frau : merkst du

daß du lebst : daher

seine Gravitationskraft : Erdschwere

 

du lenkst dich mit geistigen Wonnen ab : um

dich in deinen Schoßlieben nicht zu verlieren : in Schoßhündchen

verwandelst du die Objekte deine Begierde : die Liebe

selbst rettet sie vor dir & deiner

 

Unfähigkeit : dich von den Ablenkungen loszureißen

du gestehst es im letzten Satz vorm Tode

Bei Gudrun war immer alles dunkel

Kannst du jetzt erkennen, was das für eine Bude ist? Hohe Decken, große Fenster. Da mussten erstmal die Wände raus, da kannste von der Terassentür bis auf den Hof kucken. Nun gut, der Ausblick auf den Papiercontainer ist nicht schön. Aber da kommt ein Zaun hin. Ob die das gestört hat? Die hatten doch Vorhänge davor. Dicke Stores, bei denen war alles dunkel. Bei Gudrun war immer alles dunkel: die plüschige Sitzgarnitur, der Teppich, die mit Holz abgehängten Decken. Jahrzehnte wurde hier nicht rennoviert, eingesponnen im eigenen Mief haben sie da gesessen. Und gepennt. In der Speisekammer angebrochene Tiefkühlkost aus 30 Jahren, Eingekochtes von noch viel länger her. Blümchentapete. Das muss alles runter. Kuck dir nur das Bad an! Wie kann man das Klo neben der Badewanne aufstellen. Wenn da einer nen dicken Arsch hat, der passt da gar nicht drauf. Dieser schäbige 70er Jahre-Look. Die alten Fliesen in gelb und beige. Als ob da eine Schicht aus Schimmel und Fett drauf läge, Jahrzehnte alt. Das ist kein Bauland, wir sind hier nur geduldet. Aber danke für die Stummen Diener.

Versuchsreihe: Herr Klopsig und Frau Edelsüß (83. Folge)

Die Insulinspritze

Der Vormittag im Braunschweiger Cafe Wagner war immer etwas Besonderes. Herr Klopsig hatte sich auf einem Stuhl niedergelassen, der seinen schwerfälligen Körper nicht zu unterstützen schien. „Hm“, dachte er, „da werde ich mich wohl noch an Frau Edelsüß‘ Oberschenkel festklammern müssen, um ein Umfallen meiner Person zu verhindern.“  Dickliche Wurstfinger krallten sich in Frau Edelsüß hinein. Sie stöhnte, aber nicht vor Freude. Wir wissen nicht, weshalb sie stöhnte. Seit Monaten arbeitete sie im Café Wagner als Konditorin, schnitt Torten entzwei, schmückte Kuchenstücke mit künstlich roten Kirschen, schenkte Kaffee und Tee aus, löffelte Eis in Waffeltüten. So hoffte sie, ihr Studium zu finanzieren. Doch Herr Klopsig ahnte nichts von den finanziellen Nöten einer angehenden Studentin und hielt Frau Edelsüß für eine verkappte Krankenschwester, da die Konditorhaube, die sie trug, sich bis auf das fehlende Rotkreuz auf der Frontseite nicht von einer Schwesternhaube unterschied. Er bestellte, während er sich noch in die halbseiden bestrumpften Beine von Frau Edelsüß klammerte, (dass sie ihn nicht wegen sexueller Belästigung verklagte, verdankte Herr Klopsig nur ihrer von Geburt edlen Gesinnung), ein Diabetiker-Eis. Er registrierte enttäuscht, dass Café Wagner eine solche Spezialität nicht führte. Frau Edelsüß klapste dem korpulenten Gast zärtlich auf die Finger und deutete auf den Diabetiker-Kuchen hinter der verglasten Theke, in der die Wespen nach stundenlanger Schleckerei bereits von beginnendem Alterszucker heimgesucht wurden. „Werter Herr Klopsig“, sinnierte Frau Edelsüß, die niemals vergaß, sich wie eine Lady zu benehmen, „halten Sie nur einen Augenblick inne und betrachten Sie das brummende Getier hinter Glas. Es ist einer solchen Süßigkeit auf Dauer nicht gewachsen. So bedarf es einer Insulinspritze, um den Stoffwechsel wieder ins Gleichgewicht zurückzuführen. Wir alle, Sie genau wie ich, wissen zu gut, dass zuviel Süßes auf Dauer nur schädlich sein kann. Doch ebenso wissen wir auch, dass die Medizin genügend Chemie bereit stellt, damit wir weiter sündigen können. Warum also Verzicht üben?“ Herr Klopsig räusperte sich und betrachtete die künstlichen Wimpern von Frau Edelsüß. Dann bestellte er beherzt ein großes Stück Donauwelle mit Vanilleeis.

Der Himmel Anfang September

Gegenglück auf der Umlaufbahn, Trinker

Starren nach oben. Knirschen, Geschiebe.

Es quietschen die Achsen des Astrolabs –

Kunstblume an vergangene Zukunft: „Ich

Ich, der Astronom … “ Hinterm Rücken

Gescharre zwischen Möhrchen & Rübchen,

Schnabelkehlen rufen den Abend herbei.

Was Rhythmus sei? Antireim

Im Kurztraumgedächtnis, die Nullen

Addieren sich zum Nichts: … , Vorhang.

Die Maschine

Als ich die Maschine vollendet hatte, wusste ich nicht mehr, welche Aufgaben sie erledigen konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie man sie bediente, verstand nicht, wo und wie man etwas auf-, unter- oder hineinlegen konnte. Ich wäre schon froh gewesen, wenn ich gewusst hätte, was die Maschine verarbeiten konnte.

Eigentlich wollte ich eine der in der Halle stehenden Maschinen verbessern. Irgendwann hatte ich begonnen, mich nicht mehr an die Konstruktionspläne zu halten. Warum, weiß ich nicht, es war wohl keine bewusste Entscheidung. Es hat sich wahrscheinlich in der Arbeit ergeben, dass ich eine Schraube etwas anders setzte als geplant, dann folgte ein anders verdrahteter Kontakt, und so ging es weiter.

Ich habe versucht, die Maschine mit allem zu füttern, was ich in meiner Werkstatt finden konnte, mit Holz, mit Elektronen, selbst mit einigen Informationen. Ich beschädigte lediglich einige Organe der Maschine, ich habe sie ausgewechselt.

Dennoch, eine Maschine ist sie ohne jeden Zweifel. Ich weiß es, ich habe sie gebaut. Sie ist eine vollkommene Maschine, es gibt nichts, was an ihr verbessert werden könnte. Sie arbeitet leise, sie erzeugt weder Staub noch giftige Strahlen. Ich habe einen Summer eingebaut, der bei jedem Fehler schmerzhaft krächzen würde. Bisher blieb die Maschine stumm.

In einer schlaflosen Nacht habe ich es erkannt. Die Maschine gehört zu einer möglichen Zukunft. Dann wird man den Sinn der Maschine verstehen. Es ist möglich, dass die passende Zeit eintritt, weil ich die Maschine gebaut habe. Ich frage mich, wie ich die Maschine bauen konnte, ich, der in einer zu fernen Vergangenheit lebte. Vielleicht, weil die zukünftige Existenz der Maschine die Gegenwart verändert hatte.

Steißvogel (2)

Gut gekräht – Hähnchen. Und nun ? Herunterkommen zum Hofgetier ?

Hier sein. Beim Gras sein. Beim niederen Kraut. Nicht im wirren schwirrenden Flug hirngespinstfeiner Fäden verheddert im Netz im Nu – wie der fette Brummer ( wieso heißt der F l i e g e – und dann noch d i e ? ) – grad noch gesessen – gestanden hat sie – oder er – und wohlig gestampft den dampfenden Mist – schon aus und vorbei – so ein Höhenflug ist – kurz – das Gesummse – die Zeit – was hilft es daß sie nun zappelnd schreit :  ich hätte nicht fliegen wollen sollen ( seltsame Reue geflügelten Tiers – als ob man sichs aussuchen könnte – ihrs oder seins oder ich oder wir ) – dabei wollt ich doch nur – so glaubt es mir – bis zum nächsten Haufen – ( das war der Sinn ) – flüsterts und knisterts – und ist dahin.

Also :    Fliege besser nicht. Spinne dann schon lieber.

Traum [10]

Ich versuchte fieberhaft, einen Reißverschluss zu öffnen, der sich verklemmt hatte. Je mehr ich mich anstrengte, diese eine Naht aufzutrennen, mit der sich zwei offenbar gut zueinander passende Hälften aneinander gefügt hatten, umso schwieriger wurde es, überhaupt einen Fortschritt im eigenen Tun zu erkennen. Irgendwo in meinem Leben – gewaltige Gefahr – drückte es mit einer Kraft von tausend Pferden, die man auf enger Weide versammelt hatte und die nun versuchten, auseinander zu stieben. Die Luft war gesäuert von einer knisternden Elektrizität, und irgendwo in diesem Leib musste es einen Ort geben, an dem ein wildgewordener Zwerg ruckend und zuckend um ein qualmendes Feuer herumtanzte und jeden Versuch, ihn auf vernünftige Weise anzusprechen, mit einem schnarrenden Nein! beantwortete.

Wir lagen gemeinsam im Backofen – zwei Brote, deren Wohl und Wehe ganz vom Feuer bestimmt war, mit dem das Leben ihnen einheizte. Eben noch waren unsere Körper zwei labberige Stücken Teig, abhängig in ihrer Chemie vom Wohlwollen aller Dinge, die mit mehr oder minder hektischer Bewegung diesen ewigen Zustand der Welt ausmachen, den sie heute Temperatur nennen, und schon drohte unsere Kruste zu zerspringen – trockene Haut der Erde nach langer Dürre. Es zuckte und zitterte. Ich spürte, wie sich das Magma tief im Inneren einen Weg bahnte, und auf der anderen Seite der Welt heulte der Wind mit kindlicher Katzenstimme I’ve been to Hollywood I’ve been to Redwood.

Ich wachte auf und bemerkte, dass ich mörderisch fror. Zeit aufzustehen, der gestrige Tag begann schon mit seiner ganzen Ungewissheit im Gedächtnis aufzutauchen. Wo nur waren wir hingeraten? Höhen und Senken, Bäume verschiedener Gestalt, Äste und Zweige, feuchter Rauch in den Augen und das endgültige Verglimmen der Hoffnung auf Wärme und Licht. Ich steckte den Kopf aus dem Zelt und erblindete. Diesen Ort hier hatten meine Augen noch nie gesehen. Nichts Gestriges war mir bekannt. Es war still. Wenn man Stille sehen könnte, so sicher, wie ich jetzt sicher bin, dass du hier neben mir liegst, dann wäre auch wahrzunehmen, wie blitzartig aller Lärm aus der Welt verschwindet und die Farbe der Abwesenheit, die Stille des Auges von einem Moment auf den nächsten Besitz von ihr ergreift.

Herr Klopsig und Frau Edelsüß (2)

Die aristokratische Prüfung

Bereits in der bürgerlichen Gesellschaft gehörten Herr Klopsig und Frau Edelsüß einer Minderheit an: dem ehemaligen Adel. Doch während Herr Klopsig – mütterlicherseits – dem verarmten Landadel zugerechnet wurde (die Herkunft väterlicherseits war eine andere Geschichte), wurde Frau Edelsüß in ein Geschlecht hineingeboren, dem die europäische Hochkultur einige ihrer schönsten Blüten verdankte. Nach Ausrufung der liberalen Diktatur gelangte der Adel wieder zu alten Würden, doch dies geschah nicht automatisch. Die Vertreter, die behaupteten, der Aristokratie anzugehören, mußten sich einer Prüfung unterziehen. Herr Klopsig verzichtete freiwillig auf diese unnötige Strapaze. Frau Edelsüß war an ihrer Reputation dagegen einiges gelegen.

Sie lief zum Prüfungssaal in der Akademie der Künste (Ost – denn die Akademie der Künste West stand unter Wasser) einen endlos scheinenden Galeriegang entlang. Es war ein Gründerzeitgebäude, dessen Dach von verspielt wirkenden Atlasfiguren statt Säulen getragen wurde. Von Nahem sahen die Gesichter der Atlasfiguren martialisch aus wie antike Sklavenmasken, mit grob gekräuselten Bärten. Eine junge Studentin, die ihr Haar züchtig hochgesteckt und zu einem Zopfkranz gewunden hatte, geleitete Frau Edelsüß zum Tribunal. Auch sie war einst Prüfungskandidatin, bevor sie ihre Frisur änderte und es ihr auf Anhieb gelang, in literarische Kreise aufzusteigen.

„Wozu ist diese Prüfung nötig?“, fragte Frau Edelsüß, „wir haben längst unser Abitur.“ Die Studentin schwieg beflissen. Ihrem Gesicht war abzulesen, für wie naiv sie Frau Edelsüß hielt. ‘Arme Kleine, hat es noch nicht begriffen, worauf es in der literarischen Klassengesellschaft ankommt’, erwiderte die Studentin Frau Edelsüß im Stillen. Die obere Kaste der liberalen Diktatur schrumpfte. Sie dachte weder an Nachwuchs noch an Demokratisierung. Die Literatur war ihre letzte aristokratische Bastion und sie war die erste Adresse, wenn es galt, feine Unterschiede hervorzukehren.

Die säuberlich bezopfte Studentin warf überlegen den Kopf nach hinten und ließ Frau Edelsüß den Duft ihres seidig glänzenden Haares spüren. Frau Edelsüß erriet die Marke ihrer Spülung. Mit einem Mal fühlte sie sich selbstbewußt und sicher. ‘Mein Instinkt hat mich nicht verlassen’, dachte sie beruhigt.

Während des Gangs durch die Arkaden fiel der Blick von Frau Edelsüß nach unten ins Kellergeschoß: ein fensterloser Raum, wo zwei junge Männer in blauen Jacken mit Spitzhacke und Säge bewaffnet am Fundament des Gebäudes werkelten. Die literarische Klassengesellschaft.

„Wir haben gleich den Prüfungssaal erreicht“, erläuterte die Studentin. Sie hatte Frau Edelsüß’ neugierigen Blick ins Kellergeschoß bemerkt.

„Das sind die Versager“, klärte sie Frau Edelsüß auf, „wer durchfällt, bekommt einen Blaumann und darf sofort die Treppe nach unten nehmen.“

Frau Edelsüß warf einen letzten Blick in den Keller und identifizierte in den dunklen Ecken weitere ausgemergelte Gestalten, die vor sich hin schufteten. ‘Es sind ausschließlich Männer’, dachte Frau Edelsüß und schritt erhobenen Hauptes in den Prüfungssaal.

Herr Klopsig und Frau Edelsüß (1)

Geschwisterliebe

Frau Edelsüß war eine blonde Frau und etwas dunkelhäutig. Mitunter ärgerte sie sich über ihr natürliches Blond und färbte sich die Haare dunkel. Dann wirkte sie arabisch oder kaukasisch. Sie war jünger als Herr Klopsig und mit puber­tärer Lust ausgestattet. Die beiden flogen mit bloßen Armen durch die Lüfte, indem sie sich am Ellbogen einhakelten und mit der je freien Hand durch die Wolken paddelten. Wo sie landeten, be­fanden sich weit ausgestreckte Barockgärten mit Was­ser­spielen, Hecken, Labyrinthen. Doch sie hatten es nicht nötig, sich zu verstecken. Sie liebten sich auf offener Wiese. Ihnen war, als könnten sie viele andere einladen, sie zu begleiten und dennoch würden sie sich nicht verlieren. Wenn sie schlechte Laune hatten, nannten Herr Klopsig und Frau Edelsüß ihr Verhältnis „Liebe ohne Grenzen“, wenn sie gute Laune hatten nannten sie es „grenzenlose Liebe“.

Sonniger Strand

Im Hexenwäldchen sprangen die Jauchzer meterhoch in den schwelenden Himmel hinan. Der See kochte friedlich in seiner Schale, die menschlichen Krebse am Ufer rösteten in der Sonne. Plötzlich flog ein Sandklumpen. Irgendwann wechselte er die Richtung und flog zurück. Ein zweiter Sandklumpen entfloh den Händen seines Schöpfers, um bald schon in der Wildnis zu zerschellen. Kuhglocken läuteten den Nachmittag ein, es war zum Ausrasten: Der Tag schaltete in den Leerlauf, weiße Flocken tanzten vor den Augen, in der Nase tummelten sich glückliche Mistkäfer. Bald schon brach die Nacht herein und setzte dem Spuk ein Ende.

(Sommer mit Catull, 7/00)

Nacht in Czernowitz

Eine Nacht in Czernowitz : die archaische Hoffnung

auf Geistesübertragung : Jena ist nicht genug

die östliche Fruchtbarkeit : sie blüht in den Kneipen

in Spielautomaten betäuben mit Muskeln bepackte Arme

ihre Wut auf den Systemwechsel : der wievielte

ist es überhaupt : wer wünscht

die großväterliche k.u.k-Zeit zurück

als alles so märchenhaft geordnet war & die Züge

eine tägliche Verbindung nach Westen herstellten : während die Flüsse

nach Süden entlang der Grenzen liefen : wer

entgrenzt mich in dieser Nacht : in Czernowitz

das von allen guten Geistern verlassen ist : vertrieben

verfolgt : ich höre das Schweigen des Regens

er fällt unterschiedslos : zeitlos

& ohne Erbarmen für die Geschicke der Menschen : ich rutsche

aus auf dem basaltschwarzen Pflaster : ich rutsche nur aus

Königsgambit

Ich hieß damals Paul und war mit Capablanca auf Zigarren. Sie nannten mich Morphy. Wir waren jung und schon ziemlich kaputt. Unser Gedächtnis war ein ewiger Worksong – keine Weltgegend, in der die singenden klingenden Hammerschläge nicht in irgend jemandes Traum widerhallten. Oh Amigo, weißt du noch, diese Partie im „Ambassador“ – und der Onkel von Bobby Fischer schmuhlte vom Nebentisch wie ein wildgewordner Berserker.

Wir trafen uns rechts in der Mitte. Ich machte dir ein Angebot, wie es damals in aller Munde war: nur ein halbes Pfund, bei der rechten Herzkammer. Es würde auch heute noch unsittlich sein! Tja, und du nahmst an. Heute, heut wissen wir alle: ich begab mich damit in deine Hand. Nicht mit Haut und Knochen, noch nichtmal bis hinter die Lauchfelder, aber der Vorteil einer reichen Geburt wäre heuer mit diesem Zug endgültig dahin. Wir machten eine starke Partie – ich bestürmte dich, du mauertest par elegance. Bobbys Pate bestellte einen Whisky nach dem anderen.

Dann trat die Tänzerin hinter dir durch den unsichtbaren Vorhang, eine Pferdedecke, wie es sie hier nicht gibt in den warmen Gefilden. Ich blickte sie aus den Augenwinkeln heraus an. Sie war geschmückt wie ein König für das Ritual. Ich war am Zuge. Ah – Malinche, marry Cortez – engarde! Ich schloss kurz die Augen und rechnete. Nebenan der Onkel goss drei Volle weg in der Zeit. Sechs Züge, und der nächste wäre die Gabelung. Ich zog in jenem Moment, da sie an unseren Tisch herantrat und ihr gefiedertes Augenlicht im Saal verströmen ließ. Du hattest keine Chance mehr auf Erden.

Ich gewann die Partie und starb einige Jahre später, während des nächsten Krieges. Ich hatte alles erreicht in unserem Spiel. Du aber wurdest ewiger Zweiter und warst zur Lohnarbeit verdammt. Kortschnoi oder Lafontaine … immer das gleiche fortan. Deine Konten dampften auf der Grenze – doch wo das Gras wächst hattest du keinen Zutritt. Im Niemandsland feierten wir die Kunst der Freiheit, Fliederfittiche zu improvisierten Bratpfannenkonzerten – später wohltemperierte Telefonkonferenzen zwischen Aldi und Hinterhof, dich aber machten sie einige Jahrzehnte später zum stellvertretenden Dramaturgen an der Royal Metropolitan. Oh Ami-Ami-Go, Jewgeni Schwaniachwili, musste es denn wirklich, wirklich so sein?

Veseli

Marktflecken : fleckige Häute

ausgebreitet auf dem räudigen Gelb der Steine : unter

dem Pflaster nur Sand : die abgemagerte

Kirche kichert zu allem : was vorbei

zieht : die Zeit & die Zeiten

sie zuckeln an diesem Nest vorüber : jetzt

all the best from the west : waste

die Morawa spült ihn ans Ufer : den Müll

der Geschichte : wer lacht da

lustige Hirten sinds : die sich auf diesem

vergammelten Markt versammeln : fleckige

Gesichter : ausgehauchte Lichter

die ihren Witz im Namen hinterlassen haben

Am Morgen eines neuen Tages [9]

Es war schrecklich kalt. Träumte ich, dass ich schon wach sei und in einem eisigen Backofen darauf wartete, von hilfreicher Hand ins Hier und Jetzt sinnvoller Verrichtungen geführt zu werden, oder hielt ich wachend einen süßen Traum umklammert – die Überzeugung, dass es im Inneren des Schlafsacks noch wohlig warm sein müsste, während draußen der gefrorene Atem, einen eisigen Morgen anzukündigen, seine klirrende Kraft verströmte.

Ich wartete darauf, dass du deine Augen aufschlagen würdest. Mit vier Augen wären wir vielleicht in der Lage, einen Ausgang aus der vertrackten Situation zu finden: Zwei warme Körper in ihren Hüllen, die sich gemeinsam in einem Zelt befanden, dessen geschützter Innenraum durch eine dicke Eisschicht vom Rest der Welt abgetrennt wurde.

Das Zelt stand in einem Wald. Es war Februar, und wenn draußen nicht ein Wunder geschehen sein sollte, dann war der Wald nun tief verschneit. Dieser Wald war die Welt, in der wir uns gegenwärtig aufhielten, und die Aufgabe, die mit dem heutigen Morgen vor uns stand, die Aufgabe des beginnenden Tages, bestand einfach darin, einen Weg aus diesem warmen Innen hinaus in die weite, offene Welt zu finden. Und die Welt war ein stummer weißer Winterwald, dessen jungfräuliche Schönheit uns träumende Halbwesen so unwiderstehlich anzog wie ein nächtliches Feuer die Tiere des Waldes anzieht, Motten auf einer galaktischen Umlaufbahn.

Dämmern [8]

Danach waren Wände da ohne errichtet worden zu sein

der Winter verging und dort

wo alles versperrt ist

blieb der lautlose Kampf der Kleider mit dem Wald

auch der Ort des Gesichts an dem wir nicht weilen dürfen

Gennadij Ajgi, Requiem für ein Mädchen

Veronika, denn so werde ich dich, wie wir beide, wie wir zwei nun geworden sind, wir mit Verotschka, ja … so will ich dich, Schwester – von hinter dem östlichen Stadion, Großstadt in einer Mitte, Verse Nike mit spitzen Fingern aus südlichem Mitteleuropa, Traumgrenze – nennen: so lagen nun zwei nebeneinander in einem Raum ohnegleichen. Hast du mich wirklich nicht erkannt?

Ich erkannte dich nicht. Ich lag neben dir, lauschte erst deinen schwebenden Atemzügen, atmete dann synkopisch dagegen, wunderte mich über die Unterschiede in dieser Welt, schlug mit dem langsamen Licht – einem fröstelnd gereiften Entschluss plötzlich die Augen auf und erschauerte: War das wirklich unser Atem?

An den Wänden ringsum, im geschützten Bereich dieser doppelt eingewickelten Leiber starrte mit tödlichem Glitzern das Eis. Es war dies ein neuer Morgen – eingeschnürt in seine Hoffnungslosigkeit wie in ein Korsett. Sonniger Frost brach sich an Fingerspitzen, leuchtende Flechten klebten grell und flüchtig am niedrigen Acrylhimmel einer Zeltbahn, Atemgedanken, die schnell wieder eintauchten in die unsichtbare Tiefe des Schlafsacks. Es dämmerte.

Zettel für Golem

Es klingt gut. Was Golem da geschrieben hat. Und nimmt mich länger ein als lieb. Das apokalyptische Gemurmel, der kryptische Vers, die krude Vision vom MenschComputer. Selbstläufer. Funktionierendes System. Mystisches Gebräu aus Lehm und sciencefiction.

Golems sind der Sprache nicht mächtig. Wer hat dir das Plättchen unter die Zunge gelegt ?

Doch sein wir vorsichtig. Und gründlich. Im Denken und im Reden. Schließlich befinden wir uns hier abseits vom mainstream.

„Bauartbedingt“ weist der Mensch Schwächen auf, wenn man seine kognitive Leistungsfähigkeit mit Computern vergleicht. Gottseidank ! –  ist man verleitet zu rufen, und promt sitzt man in der nächsten Wortfalle, der Dichter als Dauermieter ohnehin. Wer andern eine Grube gräbt.

Wer sich aber ernsthaft mit Kognition als biologischem Phänomen auseinandersetzen will, kann dies ja tun, Maturana und der Baum der Erkenntnis stehen zur Verfügung, u.a.m. Und wer dann noch in der glücklichen Lage ist, den Trost annehmen zu können, der einem entgegenwächst, wenn man die Identität zwischen Erkennen und Handeln nicht mehr leugnet, der scheint doch nahezu erlöst. Zumindest von der Agonie.

David Sylvian and You

Judy required a
high resolution graphics
from the chain store girl.
A wedding picture
she wanted to send
to her mum.
I was pointing at her.
And the sublime portrait
she threw on the counter.
Dressed up in a feather boa,
pictured from a magazine,
I was out to teach poetry.
Putting Judy
quaintly off her stride
when asking her
(oh, my god, a lesson you should have learned)
if she was married
to David Sylvian

while I knew

It was You.

A feeble attempt to compose a worldwide poem

The modern poet of the keys
today inscripts his frieze
on the sketchy fleeting screen
with the tongue of the Queen.

By the strange words, far born,
he uses for his poetry,
he can not get a simple bread
nor ticket for the local train.

He will not write a Scottish play
nor put in words one Irish day
but with working and allies
he could win the Austrian prize.

He left his home, it’s going to decline
like all the other empty hives,
it remains the worldwide one,
a lonesome bee, the swarm is gone.

trug : ich werde

diesen ort ließ ich aus : den versammlungs- +=+ ort : agora fahrender jünger +=+ junger fahrer : eingereiht & nach wartemarke sortiert +=+ es geht so friedlich zu : in hierarchien +=+ diskussion überflüssig : zeigen sie +=+ ihre papiere : schweigen & nicken +=+ durchschwirrt den raum : versammelte langeweile +=+ nur ich bin aufgewühlt & trauere : den zügen nach +=+ den zugigen bahnsteigen : als ich in schatzkisten +=+ die gestohlene zeit mit mir trug : ich werde +=+ mein leben ändern : ich werde +=+ erwachsen & mitglied der fahrenden zunft : ich werde +=+ wie ihr irre am menschsein