In Scherben [2, 3]

Die Erzählung vom Tod deines Großvaters ging nahtlos in eine andere über. Der letzte Zug, den du gemeinsam mit einer Freundin bestiegen hattest, und ich war an diesem Abend wirklich eifersüchtig auf sie, ging um halb zwölf. Keine drei Stunden später hättest du zu Hause sein sollen, so wären bis zum Weckerklingeln wenigstens vier Stunden Schlaf geblieben.

Es kam ganz anders. Der Zug, schriebst du, verwandelte sich in eine Menschenfalle, immer wieder hielt er an, rollte ein Stück, um bald darauf doch für eine weitere halbe Stunde zum Stehen zu kommen. Niemand wusste, was los war. Die Schaffner sprachen von Zugumleitung, eine Katastrophe im Bahnhofsbereich, alle sonst am Ziel ankommenden Züge müssten nacheinander Platz auf verschiedenen Gleisen am Rande der gesperrten Strecke finden.

Der Anblick des morgendlichen Bahnhofs hielt keinem Vergleich stand. Die gläserne Kuppel bestand nur noch aus einem Stahlskelett, überall lagen Müll und Scherben herum. Blutflecken, von Sand nur mühsam dem Blick entzogen, säumten den Weg zum Ausgang. Das war, schriebst du, der Bahnhof deiner Heimatstadt an einem Freitagmorgen Anfang Oktober.

Gewicht [2, 2]

Ich zitterte. Dieser Brief lag in meiner Hand wie ein ausgetrocknetes Stück Schwemmholz, Reste einstiger Größe im Gedächtnis des Windes, der alle dem Meer anvertrauten Gegenstände irgendwann an ein Ufer treibt, wenn das Meer sie aufzunehmen nicht bereit ist. Du warst vorige Woche nach dem Konzert in den Zug gestiegen, und die Enttäuschung, inständiges Bitten, doch zu bleiben und die im Ohr wild aufgestapelten Klänge gemeinsam in einem abgedunkelten Zimmer auf die Sanftheit einer verstehenden Bewegung hin zu befragen, muss mir beim Abschied unübersehbar im Gesicht gestanden haben. Warum warst du nicht geblieben?

Ich riss am Papier. Eine Karte kam zum Vorschein: Siebdruck oder Batikimitat? Ein bedrohliches schwarzes Gespinst, sich ineinander verschlingende dunkle Linien, die in einer nicht näher ausgezeichneten Mitte aufeinander trafen, wohl nicht um sich an einem Punkt zu treffen, sondern eher in Anbetracht der Landschaft mit all ihren Wegen, die allesamt den Weg des Wassers mieden. Wer hat schon gern nasse Füße?

Dein Opa sei am Wochenende gestorben. Die Zeilen, in denen dies mitgeteilt wurde, klangen unendlich traurig. War er jung – war er alt gewesen? Ich kannte ihn nicht, du hattest nie von ihm erzählt. Er muss dir sehr nahe gestanden haben, Worte in einem auf ziemlich diffuse Weise strahlenden Sonnenschein. Hinter der Trauer aber saß ein aufgeschrecktes Tier, greller Fieberkrampf oder sich in einer Kuhle windendes Leid, dessen Schluchzen eine Hand breit unter der Kehle, knapp über dem Herzen seinen Ort zu haben schien.

Setzt ihr eure mütze auf

Hinter den wäldern : versteckt sich der bär +++ im kellerverlies : türkisch +++ ungarisch : sächsisch : rumänisch +++ der bär tanzt zu jeder musik : donauwalzer +++ hora : ferenc +++ jeder jesus ist für eine krönung gut : orthodox +++ römisch : griechisch katholisch +++ lutherisch : calvinisch +++ uniert & unitarisch +++ ihr habt jedes kreuz gekostet : ihr +++ ferdinanden : marien : teresen +++ hinter den wäldern setzt ihr eure mütze auf & der bär reißt sich von der kette

Brief von dir an mich [2, 1]

Die Steine des Gehwegs waren grau und glitschig. Der wilde Oktoberwind hatte alles Laub beiseite gefegt, bunte Reste einer noch vor kurzem atmenden Kopfbedeckung, und der Planet, dessen Urwälder nun direkt an ein stürmisches Meer angrenzten, hatte seine Mütze abgenommen. Wohin sollte dieser Weg führen?

Ich drehte den Brief unschlüssig in meiner Hand. Der dicke Umschlag setzte den Fingern einen sanften Widerstand entgegen, Gegendruck, der sich eher abzuschwächen schien, je stärker man drückte. Irgendwann aber stießen die Fingerkuppen auf jenen festen Grund, dessen deutliches Zeichen nur bedeuten konnte: Bis hierher und nicht weiter! Dann waren sich die Finger selbst begegnet, und mit dieser Begegnung wurde es für den fühlenden Fingermenschen offenkundig, dass es im physischen Spiel von Druck und Gegendruck unmöglich war, zwischen Drückendem und Gedrücktem zu unterscheiden.

Der Brief lag als massives Artefakt aus Papier in seiner Hand, und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, wusste er nicht einmal, ob er ihn öffnen wollte oder nicht.

Halali

Es schallt im Kopf und treibt den Fuß um Fuß voran, Handschlag auf Schlag vergeht der Tag, und keiner frisst sein Brot in Frieden, nicht nur die Männer auf der Jagd, erst recht die Frau, schon jedes Kind füttert sein Schwein, und nicht mit Mais, kein Wunder, weil man es ja weiß : es ist eine teure Angelegenheit geworden – das Leben unter den Toten, verloren wer es nimmt für bare Münze.

LIEB                                                                                                                                                                                                

LIEBKOSUNG                                                                                                                                                                                                 LIEBKOSUNGEN

LIEBKOSUNGENERBLÜHEN

LIEBKOSUNGENERBLÜHENIMSTILLEN

LIEBKOSUNGENERBLÜHENIMSTILLENALLEIN                                                           LIEBKOSUNGENERBLÜHENIMSTILLENALLEINDURCH                               LIEBKOSUNGENERBLÜHENIMSTILLENALLEINDURCHDICH    ICH   

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LIEBKOSUNGENERBLÜHENIMSTILLENALLEIN

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LIEBKOSUNGENERBLÜHEN

LIEBKOSUNGEN

LIEBKOSUNG

LIEB

Das Haus

Es kostete mich viele Jahre, ein Haus zu entwerfen, das all meine Anforderungen erfüllte. Ich weiß nicht mehr, wie viele Entwürfe ich gezeichnet, wie oft ich einen Entwurf geändert habe. Allein die Zeichnungen der Treppen füllen mehrere Kisten. Das Haus als Sphäre oder als Kugel – ich habe mir unzählige Formen vorgestellt, habe ihre Vor- und Nachteile bis ins letzte Detail geprüft. Gefiel mir ein Holz, war es nicht fest genug, das Dach zu tragen, war ich mit den Zahlen zufrieden, fehlte es den Räumen an Klarheit. Einige Entwürfe habe ich sogar gebaut und bewohnt. Ich musste sie abreißen, früher oder später, weil sich irgendwann ein Mangel zeigte, den ich nicht übersehen konnte. Einmal stimmte alles, ich fand keinen Fehler, aber ich konnte in dem Haus weder wohnen noch arbeiten. Mit dem Haus, das ich zuletzt errichtete, war ich zufrieden. Hier hatte ich mein Leben eingerichtet.

Während eines Gewitters schlug ein Donner in mein Haus ein. Ich fand die Spuren des Blitzes. An der Seite eines Baumes hatte er die Blätter und die Rinde des Stammes abgesprengt. Wochen später hatte der Baum auch die übrigen Bätter verloren; er war längst tot. Dass der Blitz das Haus nicht getroffen hatte, war Glück. Ich sah, was geschehen konnte. Ein Sturm konnte die Scheiben einschlagen, eine Flut aus dem Boden heraufbrechen, und Eis konnte ebenso wie die Strahlen der Sonne die feinen Strukturen in den Steinen auftrennen. Irgendwann würde mein Haus einstürzen, so, wie auch das größte Gebirge eines Tages verschwunden sein wird. Es begann schon: aus dem Laub, das die Dachrinne verstopfte, wuchs ein Baum. An ein Gebirge wagte ich mich nicht, aber das Haus verdiente es, bewahrt zu werden. Ich suchte nach Lösungen, und einige gelangen mir.

Auch im Haus waren Gefahren. Spinnen wohnten in den Ecken, die Wände wurden dunkel, ein Rohr brach. Nichts blieb so, wie ich es geplant hatte. Es war nicht die Frage, ob etwas verderben würde, sondern wann. Ich konnte die Spinnweben entfernen, die Wände neu streichen, die Rohre auswechseln, aber das würde nichts ändern. Ich selbst zerstörte das Haus. Wenn ich atmete, kroch die Nässe meines Atems in die Wände. Ich wohnte nur noch in einem Zimmer, verstopfte die Spalten unter den Türen. Dass jeder meiner Schritte das Haus erschütterte, dass mit jedem Auftreten ein Molekül abbrach, das wusste ich.

Es war die Zeit, die das Haus abnutzte. Ich riss es ab, und ich konstruierte ein neues. Ich projizierte es es auf die Wiese, wo das alte früher stand. Ich habe ein Haus aus Licht gebaut, dem kein Gewitter, keine Wurzel, keine Spinne etwas anhaben kann. Jetzt waren die Schatten vergänglich, die der Wind durch das Licht trieb.

Keine Vehikel & keine Mittel : Gedichte

Wir fliegen vorbei : wir fliehen

kein Kommunikationsmittel erreicht uns : was

für ein Wort : das paßt nicht

ins Gedicht : Gedichte sind keine

Kommunikation : Gedichte sind

Versuche (nein : ich wiederhole jetzt

nicht das abgeschmackte Spiel

um dieses Wort) Gedichte sind keine

Versuche : Gedichte sind vollkommen

vollkommene Ausdehnungen der Sprache

in die Musik : Gedichte loten

die Grenzen der Wahrnehmung aus : sprachlich

nicht mitteilbar : Gedichte sind

keine Vehikel & keine Mittel : Gedichte

wollen es wissen : Zwiegespräch sind sie

mit Höherem & Tieferen : sie fangen

dort an : wo Kommunikation aufhört

Wir

Aus den Marskanälen ließen sie das Wasser ab.
Air-conditioner überfluteten die Venus.
Mit dem Mondstaat schließen sie Verträge ab:
Eine neue Phase für den künftigen Aufbau;
Mit der Flut eindämmend zu reden,
Wo schon Ebbe ist, das Meer beschwören.
Nur der Vollmond ist noch immer rätselhaft,
Sein Verschwinden gilt als ausgemacht.

Katholische Kirche, Stinkende Kugelschreiber, faule Zähne, Ausflüge auf allen Vieren, Hallenbad. Mittags Rolladen, Ananas aus der Dose mit Schlagsahne zum Nachtisch. Bilder der Familien und der heiligen Jungfrau. Abwesende Väter, treusorgende, gutverdienende Söhne. Söhne ohne Ausbildung, Töchter auf Abwegen.

abfahrt : abfuhr

sie liegen zwischen ihren schönen frauen
fest eingewickelt & beim stich
können sie so süchtig nach dir schauen
& dir sagen : du : ich will nicht dich

es klingelt spät & sie ist wach
& wie ‘ne maus schnell an der tür
da steht der neue : flüsternd : schwach
er will sich vorstelln : du kannst nichts dafür

& sie löset ihre bänder & sie liegen sich
im arm & du siehst sie : funken
sprühn : berührung : du erinnerst dich
anfang : hey : was gibt es da : zu unken

Eugen Onegin: Kapitel drei, erste Strophe

Sie war ein Mädchen, und sie war verliebt.
Malfilatre

„Wohin? So sind sie, die Poeten!“
– Mach’s gut, Onegin, ich muss los.
„Ich halt‘ dich nicht, nur sag mir: wo denn
Soll’s hingeh’n so Hals über Kopf?“
– Zu Larins. – „Das ist eigenartig.
Mein Gott, wie viele Jahre war ich
Nicht mehr bei denen! Rotz und Gicht,“
– Schweig, Bruder! – „Ich versteh‘ das nicht.
Ich sehe dort nur Kraut und Rüben:
Als erstes (Sag mir, hab‘ ich recht?)
Wie war das Essen? War nicht schlecht.
Danach der Rundgang: Kommt, Ihr Lieben,
Hier also seht Ihr unser Vieh,
Gespräche, die vergisst du nie…“
 

DIE PANZERKOMMANDANTEN HABEN NEIN

DIE  PANZERKOMMANDANTEN HABEN NEIN
Gesagt, der Zug nach Prag fuhr in den toten
Oktober, Knast und Medizin nach Noten.
Das Bürgertum am Hang kämpfte allein. 

Gedichte von Bukowski, Biermann: Zittern,
Ob Republiken sich das bieten liessen,
Das Heldenepos vorher abzuschliessen:
Armeezeit, süsse Krankheit Gestern. Schlittern

In neue Aussichtslosigkeit, absurde
Groteske: Persönlichkeitsverklärungen
Im Westen Anlässe für Ehrungen.
Die DDR weiss nicht, was aus uns wurde. 

Nach zwanzig Jahren ist noch nichts zu Ende.
Erwarte nächstes Jahr Texte zur Wende.

Steißvogel (3)

Es ist Herbst. Sagte der Gärtner. Zeit – das Fleisch in die Erde zu bringen. Schon ? Fragte der Lehrling. Als hätte er nicht längst das gelbe Blatt auf seiner Schulter liegen sehn. Ja. Sagte der Gärtner. Und vergiss nicht : Ein Targifuß braucht Wüstensand, das Schottenauge – Moorheide, und wenn du die russischen Lebern nicht zweimal angießt, wird es nichts. Ich weiß. Sagte der Lehrling. Und machte sich an die Arbeit.

Widerwärtig. Rief ich aus. Einfach ekelhaft. Und schaffte es gerade noch bis hin zu einer Birke. Ich flog hinauf und kotzte runter. Die letzte Schlacht auf dieser Welt wird unter einer Birke ausgetragen werden.

Klapp an. Der Lehrling holte aus. Du gehst mir auf die Nerven Vieh. Er warf mit Dreck nach meinem Vogel. Und das zu recht. Warum konnte ich meinen losen Schnabel nicht halten, während andere mit Chip und Spaten für Innovation sorgten. Das Projekt war einmalig. Der Gärtner ein Genie. Zweifelsohne. Die Erfindung der Glühbirne nichts dagegen. Wer würde nicht gern seine vergammelte Niere loswerden oder das Pappmaché im Kopf tauschen gegen frische graue Zellen. Den Stein in seiner Brust geben für ein heilig glühend Herz. Die ausgefranste Zunge endlich an den Nagel hängen.

Auch ich hätte ja nichts gegen einen neuen unverbrauchten Schnabel. Und vielleicht ein etwas filigraneres Hinterteil. Das täte meinem Vogel gut. Ich hab sogar schon dran gedacht mir einen ganzen neuen Vogel zuzulegen. Einen richtigen sozusagen. Lieber eine echte Meise als einen anmaßenden Hühnervogel.

Ja. Es ist Zeit.

Seeluft vitaminhaltig

Hamburg : dammtordamm +++ große größe : der häuser & menschen +++ ist seeluft vitaminhaltig : wachstumsfördernd +++ seltsam hochgeschossen wirken die eng mit stoff +++ bespannten beine : die tief in stiefeln +++ stecken wie in keiner anderen stadt : haben sich +++ durchgesetzt auf dem beziehungsmarkt : unter den weiden an der außenalster

Das Fenster

Wenn ich einen Satz, ein Kapitel oder ein Buch beendet habe, dann blicke ich oft aus dem Fenster der Bibliothek. Sie liegt auf einem Berg; ich sehe Wald und Felsen, ein Tal, und am Fuße der Berge eine Stadt.

Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre auf der anderen Seite des Fensters, würde in die Bibliothek blicken und mir beim Schreiben, beim Lesen zusehen. Ich sehe mich, wie ich Zeitungen oder Bücher suche, sie aufschlage und sie wieder zurückstelle. Ich sehe, wie sie aus den Regalen genommen, nach draußen gebracht und mit anderen Büchern ersetzt werden. Vielleicht nach einem Jahrhundert ist die Bibliothek eine andere.

Und dann, eines Tages, sind die Bücher, ist die Bibliothek verschwunden. Zu beiden Seiten des Fensters: Berge, Himmel, Wind.

Eugen Onegin: Kapitel zwei, siebendreißigste Strophe

Ganz seiner Stimmung hingegeben
Besuchte Lenski dieses Grab,
Um trüben Sinns den Blick zu heben,
Wo seines Nachbars Asche lag.
Und lange war ihm schwer ums Herz.
„Poor Yorick! flüstert‘ er im Schmerz,
Du hast auf Händen mich getragen,
Wie oft hörte als Kind ich sagen:
Hier – alle meine Ehrenzeichen!
Wladimir, Olga – seht mich an…
Wer kommt an diesen Schleier dran?
Was wird uns wohl zum Glück gereichen?“
Und wie ein Licht in dunklem Saal
Verfasste er ein Madrigal.

Kürbiszeit

Verschwinde Sommer endlich geh – mit dir vertreib ich Zeit – die Boote bring an Land – die blauen Gondeln unters Dach – die Schaukel binde los vom Ast ich leg die Leiter an – sammle Früchte – staple Holz – auch Wolle soll mir nun ins Haus – die Morgen frisch der Abend kühl – nie klarer was zu tun ist Kürbiszeit

Die Posaunen von Jericho fliegen in den schwarzen Kosmos

Und wieder im Kopf so ein Glucksen
Womit vom gluckernden Bauch das
Ohr in der Stirn ausgeschaltet wird.

Dann Stille, zischend so stumm
Dass der Fische strudelnder Reigen
Nicht sichtbar die Netzhaut durchdringt.

Dann – nichts. Die Gedanken ringeln
Sich als Regenwürmer im Gedächtnis:
Schweigen, das den schwarzen Asphalt aufheizt.

Bis die Sprache am Ende des Sommers
Abgeerntet ist, mit Mondsicheln eingelagert
In die papiernen Sargdeckelschichten der Bäume.

Der Stift im Notizbuch ein Leuchtpunkt am Himmel:
Cursor irgendeines falsch programmierten Computers –
Liniengeplapper der Tinte in Liebe zum gestorbenen Papier.

liebenglieb

ich bin     liegengeblieben auf dem teppich habe mich nicht

gerührt als imaginärer staub meine linke schläfe kitzelte habe

nicht gezuckt als mein rechtes bein langsam kribbelnd einschlief vor

mir die ich hellwach liegenblieb

bis du     in mich eingedrungen bist von hinten in meinen schädel

durch die glieder gefahren taubheit zu schmerz gesteigert hast

mich zum stehen brachtest damit ich mir in die augen sehen kann

Rettet unsere Seelen!

Trink, Junge. So eine Geschichte
Hörst du nicht nochmal: Wir
Hingen kurz über dem Meeresgrund,
Rotglühende Augen starrten aus
Der Tiefe, im Raum gab es
Nur noch den Blick – unsere
Kleinen Bullaugen noch kaum
Geöffnet, pulsierende
Nabelschnur (und der Funker
Wie immer übernächtigt) da
Wurden wir urplötzlich überrollt
Von einer dröhnenden Feuerwalze, so
Muss wohl Latein-
Amerika entstanden sein,
Großer Gesang
Brennender Worte unter Wasser
Kurz über einem Gebirgskamm
Im Dunkel, schlammiger Stein
Araukanien – nicht mehr gefroren
Und noch nicht aufgetaut, Wind
Weißt du: diese neunzig Prozent
Wasserstoffsäure (…polar) aus den
Archiven des Weltalls entnommen

Eugen Onegin: Kapitel zwei, dreißigste Strophe

O rus!
Horaz
O Dorf!

Sie liebte wirklich Richardson:
Nicht im Ergebnis von Lektüre,
Nicht weil sie schließlich Grandison
Statt Lovelace huldvoll winken würde;
Weil ihre Moskauer Cousine,
Die schöne Großfürstin Aline,
Ihr oft genug davon erzählt.
Sie hatte damals sich erwählt
Zum Küssen einen Bräutigam,
Den sie nicht liebte; jede Nacht
Hat einen andern sie bedacht
Mit ihren Spielen, wenn er kam:
Ihr Grandison – ein stolzer Reiter,
Selbst Spieler und Garde-Gefreiter.

Der Mann mit Fellmütze seufzt und lässt sich erschöpft auf die selbstgebaute hölzerne Bank sinken

/…/

Tfuh, alle Sinne zerstreut über die dampfende Erde, murmelt das Bächlein ihm seine Amouren zu; er nimmt’s gelassen & freut sich über das klare Plätschern, dieses Geheimnis soll lange so plätschern im Blut! Plätschern durch himmlische Nieren – nun begossen wie der Pudel Europa, den die atlantische Missis an der Leine zum Frühstücksfest führt, Frühlingsnapf rührt.

/…/

Kleine Geschichte: Christian und Brigitte

Am Anfang alles ganz harmlos. Küsse, Worte, Speichelfäden. Allmählich Wolken, schneller & schneller. Der Himmel wird sich bald zuziehen, wie eine Schlinge sich über vielen Köpfen zusammenzieht. Leben, überleben & drunter durchtauchen. Nur keinen Fehler machen – der schlimmste von allen.

Ein Gedicht ist was übrig bleibt, wenn alle Messen gesungen, alle Tage gezählt, die Kinder zu Bett gebracht, die Wege in Gedanken noch einmal abgegangen & auf ewig unbegehbar geworden sind. Ein Gedicht ist was vor uns liegt, wenn wir nicht wissen, wohin.

gib mir das. gib mir das

gib mir das. gib mir das

aus deinem Mund. Worte

wie heruntergefallene Brösel

Krümel. Samen. deren Herkunft

keiner mehr kennt. die ich

in meinem Gehör versenke

Innerkopfleitung ins Geheim

die ich zusammenstecke. kreuze

züchte. scharfe Mutationen

an denen ich kaue. wiederkäu

die ich verdaue. die nachts

in schwarzem Tutu

über mein Kissen gehn

Balance und Révérence

Nicht die Balance verlieren – vor allem das – plié – tendu – relevé – Tanz mit der Zeit – Verbeugung – und immer wieder die Grundposition einnehmen – beiseite mit Spagat und Arabèsque – zu weit der Kopf vom Fuß entfernt – dann lieber rond de jambe par terre – die Beine auf dem Boden – und manchmal eine Pirouette – nur so gelingt die Kapriole