sagenhaft

die vielen kartoffeln sie purzeln wie die worte über den rand der lippen

die förderbänder stehn nicht still

zu boden zu boden große haufen

türmen sich vor dir und mir und anderen

an jedem ort aufhören

wo ist das mädchen mit dem

e i n e n wort hilfe das ist ja die

reine gehbehinderung wartet auf mich

wie sie es nur machen

sagenhaft :

durch den süßen brei sich fressen ohne

verdauungsproblem

ich glaub mir fehlt ein enzym

Schon kleben die ersten Kommentare dran

Neulich wollte ich mal ausprobieren, wie es denn wäre, wenn mein Herr Hornberg mir plötzlich auf dem Bahnhof begegnen würde. Nun, von vielem verstehe ich ja nichts. Von meinem Hornberg eigentlich auch nicht viel. Ich habe ihn erfunden, das muss genügen, gehen muss er allein – oder vielmehr: rennen. Hornberg rennt durchs Leben. Heute ist er mit einer neuen Frau zusammen, morgen geht er ins Kloster. Gestern war Ostern, heute verdient er großes Geld. Wie er das macht? Weiß ich nicht. Weiß er es denn? Wie gesagt, ich habe keine Verantwortung für das, was mein Hornberg tut. Ich bin trivial: ich erfinde. Und schon rennt er. Von ganz allein. Wahrscheinlich hat er Rhizinussöl getrunken. Oder es hängt Fliegenpapier in seiner Wohnung. Ich habe keine Ahnung. Mir geht es nur darum, dass am Text schon bald die ersten Kommentare kleben.

Wellen & Bäche

Ich lasse die Hügel hinter mir : vor mir

liegst du mit deinen Wellen & Bächen : im Regen

des Worts verstummst du : ächzend

ein Berg : auf dem der Wein reift

laß uns trinken : du schüttelst

die Schafherde ab : alle Felle

fallen zu Boden : wir stürzen

die Falle schnappt zu : gefangen

sind wir frei : wir haben

nur uns & unsere unendlichen

fließenden Landschaften

160°C

3. April, 13.30

Der Tag beginnt gut. Ich gehe in die Küche und heize den Backofen auf 250°C vor. Da meine Füße heute nicht ganz so klamm sind, lassen sich die Hausschuhe leicht abstreifen. Ich bin zufrieden. Ich öffne die Ofenklappe und lege einen Hausschuh hinein. Die Hitze verteilt sich gleichmäßig, das Thermostat zeigt bereits 160°C an.

14.00

Jetzt ist der Hausschuh richtig knackig. Das freut mich. Ich prüfe wiederholt die Konsistenz. Nix zu meckern. Ich nehme die Küchenzange und hole den Schuh heraus.

16.00

Am Bücherregal zaudere ich, nehme dann einen Band Goethe zur Hand und lenke meine Schritte wieder in die Küche. Der Duft von gebratenem Hausschuh schlägt mir entgegen. Ich wende mich dem Gefrierfach zu, öffne die Klappe und lege den Goethe hinein. Bei minus 18°C wird der Werther bestimmt schön hart.

18.00

Ich bin mir sicher, heute was geschafft zu haben. Es könnte nur hier und da noch effizienter werden.  

Advent

Er kommt, mit Garantie und all dem Gerassel wie jedes Jahr. Die Schneeflocken bleiben aus. Aber er kommt. Unerbittlich reißt er die Schubladen auf. Vom ersten bis zum letzten Tag. 24 mal öffnen. Was für eine grandiose Idee. Jeden Tag ö f f n e n. Die Fenster und Türen, Augen, Nase, Mund und Ohren, die Hand, das Buch, das Klavier, den Zeichenblock und das Briefpapier, mein Gott. Was man alles öffnen könnte.

Aber nichts da. Im Gegenteil. Wir schließen und schließen. Wie immer. Das geht mit 14 los. Da schließen wir uns aus. Die Ahnen stehn am andern Ufer und winken mit dem Tannenzweig. Umsonst. Mit 16 schließen wir uns an. Und zwar der Schar der coolen Räuchermännchen auf der zugigen Parkbank. Mit 18 schließen wir ab. Die Kindheit, das Zimmer und den Vertrag mit der Volksbank. Halleluja. Mit 20 sind wir die meiste Zeit eingeschlossen. In Bibliothek, Hörsaal oder Werkstatt. Und verkaufen am Abend mit klammen Fingern Kerzen auf dem Weihnachtsmarkt. Mit 30 sind wir dann weggeschlossen. Vorübergehend. Wir rotieren in einer überheizten 3-Raum-Wohnung und basteln an der Unruhe fürs Kinderzimmer. Mit 40 schließt man rück. Das kanns doch nicht gewesen sein. Und schwingt sich auf, sweet chariot, und fährt zur Mitternachtssauna mit Plätzchen und Glühwein. Mit 50 sind wir kurzgeschlossen, der Fernseher gibt die nötige Spannung, stille Nacht. Und mit 60 ist auch noch nicht Schluss mit dem Schließen. Wir verschließen die Tür nicht nur 2 mal, sondern hängen auch noch die Kette ein, ehe wir den Schwippbogen anknipsen und den guten Stollen mumpeln. Mit 70 endlich ereilt uns eine unangemessene Sehnsucht nach dem Christkind. Ja, ein KIND soll her, ein Kind. Her damit unter den Tannenbaum. Das Kind, das man mal war, oder ein Enkelkind, wir nehmen auch ein anderes, Hauptsache so richtig klein, und diese großen Augen, wie sie leuchten, und diese süßen Patschhändchen, ach, lasst uns das Kindlein wiegen, das Herz zum Kripplein biegen, lasst uns das Kindlein benedeien und uns im Geist im Geist erfr—Doch da ist meist schon SCHLUSS. Er kommt. Mit Garantie.

Grauzonen

Grauzonen

Ich bin
ein rastloser Nomade,
verliebt in die Abgründe
zwischen den Grauzonen des Herzens.

Ich bin ein Wanderer
auf den Irrpfaden fremder Hoffnung
und zwischen den Splittern
gebrochenen Rückgrats.

Dort, –
wo keine Wahrheiten mehr gedeihen,
nur diese wunderschönen Laster,
die ein Leben tief aus dem Innern sprießen,

befingere ich meinen Seelenspiegel,
taste nach seinen Rändern
mit blutigen Kuppen.

Ich will alles erfahren über den Schatten
hinter dem Glas
und in meiner Brust.

Schweinegeometrie [4, 2, 1]

Am Anfang war der Kot, jene Eigentümlichkeit der körperlichen Verfassung eines revierbildenden Gattungswesens, die dieses in die Lage versetzte, aus der Gesamtwahrnehmung eines Hier und Jetzt die ungemein gefährdenden Momente herauszulösen, den Umstand nämlich, dass in jenem Teil der Welt bereits ein Lebewesen, dessen körperliche Ausstattung der eigenen um keine Klaue und keinen Zahn nachstand, siedelte. So zerfiel die Oberfläche der Welt in Territorien.

Aus dem Kot wurde ein Code, etwas, das nicht nur stinkend oder duftend in Erscheinung tritt – je nach der Perspektive des Betrachters, ob sich die Rede nun um fremde Eigentümlichkeiten oder die Thematisierung des Eigenen in den gemeinschaftsbildenden Aspekten einer selten zum Problem werdenden Geruchsidentität dreht – sondern in seiner konkreten Geformtheit so eindeutig wiedererkennbar ist wie eine Gerade als kürzeste Verbindung zweier Reviere im Flachland. Diese Erscheinung wurde derart bedeutsam für das Zusammenleben der Gattungswesen innerhalb ihres Reviers, dass sie fortan verdoppelt zur Ansprache aller möglichen bzw. als unmöglich hinzustellenden Verhaltensweisen herhalten musste. So entstanden Scheiße und Trüffel, die Welt aber zerfiel in Tag- und Nachtwesen.

Bei Tage besehen war alles ganz hübsch hier im Revier. Die Blumen blühten, ihr Duft wehte zuerst in der zarten Andeutung des Frühlings, später voller Wollust und eigenartig wie Code über die wiegenartigen Behausungen. Bei Nacht aber verwandelte sich der Raum in eine Haut von der Beschaffenheit gespannter Trommelfelle, und der Geruch nahm nun die Form unzähliger Nadelspitzen an, die dann und wann von einem lidlosen Auge überdeckt wurden, in ihrer gleichzeitigen Nähe und Ferne diesem auf eigenartige Weise gleichermaßen gleich und ungleich, so als würde der Geruch pulsieren.

paranoia, pink

Der Wühltrog läuft über, ich tauche meine Finger ein. Nasowas. Bücher. Schwarze Molche hinter Glas, Guppys im Aquarium. Die Meerschweinchen huschen von einer Sägemehlecke in die andere. Gegenüber erhebt sich ein Tütenberg. Tulpenzwiebeln. Magenta. Grünkittel tragen Töpfe. Von links nach rechts und gradeaus. Blattpflanzen. Ich halte mich an den bunten Blättern fest. Blättere und blättere und suche das – weiß nicht was. Etwas das mich anspringt, hält, verzückt für einen Augenblick.

Im Augenwinkel bemerke ich ein kleines Mädchen. Sie steht neben mir und hat ein strahlend rosa Buch herausgefischt. Innig streicht sie über die rosavioletten Bilder. Barbie in pink. Barbie in bleu. Barbie in weiß. Sie murmelt wohlklingende Namen vor sich hin. Stella, Bella, Gwenyver. Etwas unsicher sieht sie zu mir herüber. Immer wieder. Spricht und spricht, nachdrücklich in meine Richtung. Ich will nicht reden. Das helle Blau vom Vormittag im Kopf, stiere ich noch eine Weile in meine rötlich schimmernde Pappe. Fische im Atlantik. Das stört sie nicht im geringsten. Sie spricht die Namen wie Beschwörungsformeln. Tippt mit dem Finger in das Buch. Und sieht zu mir herüber. Stella, Bella, Gwenyver. Der Singsang fällt mir in die Ohren. Ich hebe kurz den Blick in ihre Richtung, schon bricht der Damm. Es sprudelt aus ihr heraus : ob ich sie kenne – die blaue ? Die lilane. Und die weiße. Sie kennt sie alle. Die rosane – das ist ihr Lieblings. Sie hat den Film gesehn. – Kannst du lesen – frage ich. – Nein. Aber bald. Nächstes Jahr. – Dann interessiert sie sich brennend für meine Fische im Atlantik und will es wissen. – Wie heißt der hier ? Und das hier mit den vielen Beinen ? Bereitwillig buchstabiere ich. Sie lacht und freut sich an den wunderlichen Worten. Es sind die nettesten fünf Minuten seit fünf Tagen.

Bis mich aus der Entfernung ein Pfeilblick trifft. Curare. Ich spüre es so deutlich, daß es mir die Zunge lähmt. Hot pink. Die Mutter des Mädchens steht bei der Monstera und durchbohrt mich mit ihren scharfkantigen Augen ( eckig ? ) . Ehe ich begreife worum es sich handelt, nimmt ihr gespannter Körper die Form eines Projektils an. In weniger als drei Sekunden wird das Geschoss einschlagen. Die rosige Nase des Meerschweinchens vibriert. Das einzige was mir noch einfällt – ich klappe mein Visier auf und schaue sie frontal an. Weiß. Reinweiß. Sie hat den irren Blick der neuen Dekade. Traukeinemaußermeinem. Da begreife ich. Ihr flackernder Projektor wirft die verzerrten Bilder nun auch auf meine Mattscheibe. Großer Gott, doch nicht DAS. Seh ich so aus ? Sind denn schon alle wahnsinnig geworden, und ich habe es bloß noch nicht bemerkt ? Das Herz auf dem falschen Fleck, mit fremden Kindern spricht man nicht und wer andern eine Grube gräbt hat wohlgetan.

Grellrosa Stimme aus dem off : – Arabella ! Komm weg da !

– Languste ! Sage ich zum Abschied und hebe fast unmerklich den Zeigefinger. Arabella kichert ein letztes mal, ehe sie sich abwendet und in den Schatten der Monstera geht.

Narrenliteratur (1)

Geburtstag

Wünsch mir Gesundheit Glück und Geld – ich will ein Tor sein in der Welt – Denn so ein Tor kommt selten vor – der Torheit liebt und davon gibt – das bisschen Törichtsein noch teilt – wo alles nach der Weisheit eilt – Lasst mich probieren obs noch geht – ich dreh an meinem Hals – und seht : Ich steh manierlich auf dem Kopf im Kreis der vielen Lieben – Das Huhn springt aus dem Suppentopf – und wird zum sechsten male

sieben

Im Vektorraum [4, 1, 1]

Vers la fin d’une nuit, au moment idéal
Où s’élargit sans bruit le bleu du ciel central
Je traverserai seul, comme à l’insu de tous,
La familiarité inépuisable et douce
Des aurores boréales.
Houellebecq, Die kontrahierenden Operatoren

Es begann mit einer einfachen Bewegung. War es jenes Hin- und Her einer pinselhaarigen Bürste, gefärbtes Schweinehaar in ehrenhafter Erhöhung der Nützlichkeit eines ansonsten ausschließlich zum Verzehr bestimmten intelligenten Wesens, die als späte Erinnerung an den Rüsselblick des Hungers jene Gewohnheit zu ersetzen hatte, deren feuchte belebende Wirkung darin bestand, dass die Zunge einer Schnüffelmaske die Füße des Herdenführers mit dem Rachentau des auf die Verdauung dieser Welt spezialisierten Innenraums einer Grenzbestimmung zwischen fremden und körpereigenen Eiweißstrukturen benetzte und daraufhin aller Staub, wie die Reste des entropischen Prozesses zwischen unten und oben genannt werden mögen, von der Oberfläche der in sich gekehrten Organansammlung verschwand, die selbst wiederum ihr Bild im Nervenzittern der Pixel eines sogenannten Sehfeldes fand, das dem gemeinsamen Untergrund des einen und des anderen, Kreisform mit zwei Löchern, aufs Haar glich. Blickte man aber von oben auf diese Bewegung, so wurden Richtungen unterscheidbar. Der Punkt, an dem sie sich treffen würden, ist Teil des Horizonts, jener Linie, hinter welcher der Himmel im Meer versinkt. Hinter dieser Linie öffnet sich ein Raum, den keines Menschen Auge je erblicken kann, ohne dass die Füße ihre eigene Existenz vergessen und mit ihr allen Staub und alle Feuchtigkeit, die ihnen auf den langen Wegen zwischen dem Hier und dem Horizont zu begegnen pflegen. Dieser Raum ist ideal: er besteht aus Punkten, unendlich kleinen Nichtigkeiten, so wie sie ein Leben im Ganzen ausmachen können und dabei dennoch eine Richtung aufzeigen. Einen Vektor eben, das gedachte Ganze eines annähernd nichtigen Lebens zwischen der universalen Dachkonstruktion mit dem Namen Himmel und einem dunklen, aber nicht unerreichbar fernen wasserbedecktem Grund.

Besuch in einem alten Zimmer [2, 9]

Ich zeigte dir voller Stolz mein Domizil: die Bücher, gesammelten Schriften und Kinderzeichnungen, zwischen denen einzelne Fotos wie graugestrickte Bildideen zur Illustration einer Tageszeitung steckten. Wir erforschten den Rauminhalt der Schränke, maßen mit Blicken die möglichen Verwandlungen der darin aufgestapelten Schichten, und wenn das Auge an einem außergewöhnlichen Detail hängenblieb, gab es keinen anderen Weg, als das zunächst als taub erscheinende Gestein drumherum in einer Folge mühseliger, aber in ihrer Geduld stets auf das verfolgte Ziel bezogener Handgriffe abzutragen. Ich zeigte dir mein Museum. Du warst hingerissen – die mir so vertraute Welt war offenbar in deinen Augen ein unerforschter, geheimnisvoller Planet in einer noch nie von Außerirdischen besuchten Gegend des Universums. Ich wunderte mich über deine Begeisterung. Und in gewisser Weise war sie mir peinlich. Je weiter wir gruben, desto leuchtender wurden die zu Tage tretenden Visionen und desto seltsamer die wie aus dem Nichts auftauchenden Artefakte. Neben einer Blättersammlung aus heimischen Gefilden fand sich ein Herbarium fremdartiger Gewächse. Etikette und Fahrkarten mit unbekannten Schriftzeichen deuteten auf die Existenz fremdartiger Intelligenzen. Als wir bei der Käfersammlung anlangten, war mir für kurze Augenblicke zumute wie dem vom Feuer eines Zündholzes besuchten, sorgsam verpackten Inneren eines Treibsatzes von explosiver Zusammensetzung. Es hätte nur noch gefehlt, dass sich die Streichholzschachteln von selbst geöffnet hätten und die gedrungenen oder zartgliedrigen Wesen in Realisierung ihrer eigenen Lebenskraft daraus hervorgekrochen wären.

Eis essen [2, 8]

Da standen wir also an dieser Straßenecke, sie blickte mich an, wie ein Kind die Geschenke ansieht, die unterm Tannenbaum liegen, ich ergriff ihre Hand und zog sie sanft in eine Seitenstraße hinein, die von grünen Bäumen bestanden war, und sie ließ es geschehen, ohne zu fragen, wohin ich sie denn führen würde. Wir landeten an einer Eisdiele. Es war ein heißer Tag. Mit dem ersten Wort, das die Unnötigkeit aller folgenden betonte und einen Redeschwall einleitete, in welchem ein Naturwesen wohl hätte ertrinken müssen, begann ein Nachmittag von der gedämpften Helligkeit eines seiner Zeit enthobenen Spaziergangs durch ferne, sommerliche Waldgegenden, wenn zwei ruhig dahinsegelnde Körper, ganz vom Wind fortgesetzter Rede getrieben, Schritt um Schritt voranstreben ohne zu wissen, wohin sie eigentlich gehen. Es war das Ereignis andauernder körperlicher Nähe, die wie in einem Strudel immer neue Worte aus den Untiefen der bereits gesagten hervorquellen ließ, Worte, die sich auf die Haut legten und als unterschwellige Wahrnehmung in der Luft hängender Feuchtigkeit die Augen unwillkürlich im Raum schweifen ließen, Worte, die schließlich auf der Haut kondensierten und immer wieder die stummen Blitze abzukühlen vermochten, mit denen sich unsere Gesichter in einer plötzlichen Art durchsichtigen Rausches verbanden, Worte, die auf der Zunge zerschmolzen und mit ihrer cremigen Süße den Sommertag in ein kühles Gedächtnis erwartungsvoll gespannten Nichtstuns eintauchten. Irgendwann landeten wir in meinem Zimmer.

Kreuzung zweier Linien [2, 7]

Wir hatten uns an einem gesichtslosen Ort getroffen, vielleicht einer Straßenecke, die als Kreuzung zweier Linien auf einem Stadtplan die potentielle Vereinigung zweier Namen im Assoziationsraum eines lebenden Wesens bildet, um fortan eine lose Gestalt, vielleicht eine Mauer, vielleicht ein Haus oder – so etwas gab es damals noch in jener Stadt, die den Ort dieser Geschichte abgibt – gar einen freien Raum, eine Lücke in der Bebauung des ansonsten dicht bei dicht von Mauerwerk angefüllten Grundes, zu bilden: Doppelform aus namentlicher Bezeichnung und bezeichnender Gestalt, wie sie ein lebendes Wesen ausmacht, das zumindest einen Körper mit einer Stimme in Einklang zu halten hat, solange es als Bestandteil des den Sinnen zugänglichen Raums gelten will, in dem sich die Frage nach der Bedeutung des Geformten in jedem Augenblick neu stellt. Diese Frage nahm nach unserer erneuten Begegnung, die als Zusammentreffen zweier Körper in der Dreidimensionalität Euklids zumindest das Problem der Unterscheidung verschiedener Umstände dieses Zusammentreffens stellt – Zufall oder Notwendigkeit, welcher zufällige Beobachter vermochte das schon zu sagen an einer Straßenecke wie dieser? – die Form des Mundes an, der sich unwillkürlich mit Flüssigkeit füllt, so wie ein Glas, das in einem Garten auf einem Tisch im Regen stehen gelassen wurde, sich Tropfen für Tropfen mit Himmelsspuren füllt, und dementsprechend mag unsere erste Umarmung auch Begegnung zweier Wolken in einem tropischen Regenguss genannt werden.

Es ist dunkel draußen. Anrufer erzählen mir von Schnee, viel Schnee. Manche hören sich glücklich an, manche nicht. Hier bei uns blieb nix liegen. Da wo ich mal hergekommen bin, irgendwie südlicher und ein bisschen weiter noch im Osten, da ist alles weiß. Hier bei uns sind die Häuser und Straßen zu warm. Es blieb nix liegen. Aber am Morgen, da hat mich helleres Hell als sonst geweckt. Es kam vom Dach gegenüber und ich war kurz glücklich. Auch wenn ich es sonst sehr gern hier mag. Es blieb nix liegen.

Hitze und Kälte [3, 1, 1]

Es war die Zeit am Ende des Jahres. In der Küche stand ein Geruch, dessen Plätzchenfährte das Gedächtnis unfehlbar in jene Richtung geleitete, wo die Geheimnisse der Kindheit in einem Schrank verwahrt liegen, aus dem es in wechselnden Schüben duftet und duftet, mal nach Zimt oder Rosmarin, mal nach Safran und Lavendel. Es war wohlig warm in dieser Küche, und wenn man das Fenster öffnete, um etwas frische Luft in den vom Backofen überheizten Raum zu lassen, dann kam es vor, dass man zugleich die Hitze, vom werdenden Kuchen über die Nase direkt bis in den Bauch getragen, spürte, in dem es kribbelte und wippelte, und unterhalb des Kopfes jene Kälte, die von draußen hereinwehte und die die Vorstellung zu allerlei Mutmaßungen darüber anregte, wie es wohl den Tieren gehen mochte, die den ganzen Winter über im Walde wohnten und dort doch bitterlich frieren mussten. Dann geschah es auch, dass ein kleines – ob in Gedanken oder körperlich klar, wer vermag das schon zu sagen angesichts des Zweifels, des universellen Lehrmeisters dieser Welt – fliegendes Vögelchen den Rand des aufmerksam lauschenden Bewusstseins streifte, flüchtiger Schatten einer anderen Welt, die vor dem Fenster der Küche ausgebreitet lag wie ein frisch bezogenes Laken am Ende eines Zimmers, dessen unsichtbare Wände bereits den Schlaf von Millionen irdischer Nächte gesehen hatten unter einem flimmernden Himmel aus Licht und Nadelspitzen.

Entropie [3, 1]

Der Minister saß in seinem Arbeitszimmer und spürte noch den Krampf, der vor fünf Minuten seinen Bauch heimgesucht hatte und nun seinen Körper mitsamt der Gliedmaßen in eine elastische Starre versetzte, als sei das harte Parkett unter seinen Füßen eine Tierhaut, über den Hohlraum dieser Welt gespannt, um den stummen unendlichen Weiten des Raums, den sie anderswo Himmel nennen, wenigstens die Andeutung einer wirbelnden Reaktion zu entlocken, von Trompeten oder Fanfaren ganz zu schweigen. Der Minister war bereits ein ziemlich alter Mann, doch wenn er sich aufregte, konnte es gut und gerne geschehen, dass er auf die anderen Anwesenden einen Eindruck hinterließ wie ein dreijähriger Junge in der Blüte seines Willens. Der Minister galt als jähzornig, und wenn sich einer der Gegenstände auf seinem Schreibtisch wirklich einmal seinen Zorn zugezogen hatte, war es sehr schwer, den Status quo der Dinge dieser kleinen Nische innerhalb des Gebäudes, das die Ordnung der Welt begründete wie ein Skelett die Stabilität der Haltung eines Wirbeltiers, auch nur im Entferntesten aufrecht zu erhalten. Genauer gesagt, in solchen Augenblicken pflegte sich alle Raumstruktur aufzulösen, und der Mensch, welcher da inmitten der kreisenden Mühlräder seiner Arme stand und ein tüchtiges Stück Arbeit in der Zerkleinerung diverser Materiebrocken leistete, glich einem Dämon, der als Werkzeug der Entropie seine Daseinsberechtigung zumindest darin haben musste, dass er half, den gesetzmäßig herankommenden Zustand des Wärmetodes, in dem sich dereinst alle Teilchen unseres physikalischen Universums wiederfinden werden, bereits hier und jetzt mit der Ahnung seiner Realität zu versehen, getreu der menschlichen Einsicht: Aufräumen können wir hinterher – jetzt aber gilt es, den fernen Blaumann hoch oben, falls es ihn immer noch geben sollte, endlich einmal zum Erzittern zu bringen.

Wesen und Schicksal der Dichtung in den „neuen Ländern“

für Alfred Margul-Sperber

In diesem Beitrag komme ich nicht auf die Dichtung – die Texte und ihre Verfasser – zu sprechen, sondern wende mich den Umständen, den Kontextbedingungen zu, die die dichterische Produktion in den neuen Ländern bestimmen. Diese Dichtung leidet – hier sei an ein Wort von Martin Buber erinnert – an ihrer Tragik, die zugleich ihre Größe ist: Warum nennen wir uns Dichter? Nennen wir uns Dichter, weil wir dichten, oder werden wir Dichter genannt, um uns als „undicht“ aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen?

Wir sind Dichter in einer Zeit, in der die einen aller vorübergehenden Finanzkrise zum Trotz überlegen, ob sie noch flugs das dritte Auto fürs großgewordene Kind anschaffen. Die anderen drehen und wenden jeden Heller, neuerdings auch hier Cent genannt, bevor sie ihn zur Tafel tragen. Beide betrachten Gedichte mit geringschätzigem Achselzucken: Lieber Freund, wer liest heutzutage noch Gedichte? Und: Mein Lieber, wer kauft heutzutage noch einen Gedichtband?

Wir sind Dichter, weil wir aus der Mode und aus der Zeit gekommen sind. Wir sind Dichter aus den sogenannten neuen Ländern und das heißt, daß die sogenannten alten Länder nicht allzuviel von uns wissen wollen. Ja, wir haben, wenn man sie als Dichter bezeichnen will, einen Schulze und wir haben einen Tellkamp, manchmal in der Erinnerung einen Hilbig – kaum erringen diese Namen im Westen einen Herbst lang Aufmerksamkeit, schon murmelt Frau Radisch in Hamburg: diese ewigen Ostdeutschen, haben wir kein anderes Thema? Man kann nicht sagen, daß der Westen seine Dichter verhungern ließe. Wer einmal im Stipendien-, Stadtschreiber- und Preiskarussell Platz genommen hat, dreht sich und schwingt von einem Ort zum andern, daß ihm übel werden kann.

Nun hat der Handel die „Wende“ als verwertbaren Topos entdeckt, sie hat den Krieg als Generationenthema abgelöst. Dennoch kann Herr Lüdke aus Apolda vermeintlich glaubhaft behaupten, die Ostdeutschen wären zur Lektüre von Dostojewski gezwungen worden und daher würden sie heutzutage überhaupt nicht mehr lesen. Daß einst die Zensurbehörde mit dem Statement „Es solle keine Dostojewski-Renaissance forciert werden“ (Barck et al., S. 99) das Interesse an Dostojewski weckte, gehört zu den dialektischen Bumerangwürfen, die in der Marktgesellschaft außerhalb des Fokus liegen. Nun soll der Zensur hier nicht das Wort geredet werden. Der Markt schafft sich seine eigenen Filtermechanismen, denn kein Mensch kann all die überflüssigen Neuerscheinungen auf den halbjährlichen Buchmessen konsumieren.

Die ostdeutschen Dichter schreiben deutsch, doch man hat den Eindruck, als wirkten sie – aus rhein-mainischer Perspektive – randständig: als Vertreter einer fremden kleinen Sprache, die man unter Artenschutz stellen sollte, denen aber kein Beitrag zur deutschsprachigen Literatur zuzutrauen sei. Die westdeutsche Literaturszene verschluckt sich an ihrer eigenen Größe. Seit 1941 ist der deutschsprachige Kulturraum sprunghaft geschrumpft. Galizien und die Bukowina, einst junge und tonangebende Zentren der jüdisch-deutschsprachigen Kultur, sind beinahe vergessen. Nach 1989 verkleinerte der Exodus der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben den deutschsprachigen Kosmopolitismus. Dieter Schlesak hat Italien dem deutschen Exil vorgezogen. Es ist übersichtlich geworden. Die DDR-Literatur mit ihren Heyms, Hermlins, Brauns und Wolfs wurde als Fußnote in den Annalen vermerkt. Der bundesdeutsche Feuilletonblick kann wie gewohnt über seine Provinzen schweifen. Die Städte, in denen er Literatur wahrnimmt, lassen sich an anderthalb Händen abzählen. Wieso über den Grenzzaun schauen, der ist doch abgerissen – und wir haben selber seit fünfzig Jahren eine Überproduktionskrise.

Die eigentliche, vielleicht wesentlichste Tragik der Literaturszene in den sogenannten Neuen Ländern besteht darin, daß es für sie in der eigenen Region kaum ein Echo und kaum ein lesendes Publikum gibt, weder nennenswerte Verlage noch unabhängige Tageszeitungen, die sich vom vermeintlichen Marktdruck nicht davon abhalten lassen, das geschriebene literarische Wort als Medium der Demokratie zu verteidigen. Lieber wird der neue alte Grass oder Walser rezensiert – das verspricht Hoffnung auf potente Anzeigenkunden -, als ein Gedicht von Ulrich Zieger, Thomas Kunst oder eine Geschichte von Utz Rachowski abzudrucken. Ohne daß der Moderator widersprach oder das heimische Publikum grummelte, konnte Herr Greiner in Leipzig die Hosen herunterlassen: Auf die Frage, wonach er Bücher zur Rezension in der ZEIT auswähle, behauptete er unverfroren, wenn ein Titel von Suhrkamp oder ein Titel des Lehmstedt Verlages auf seinem Tisch lande, dann sei doch klar, daß er ersterem den Vorzug gebe, Suhrkamp sei eben ein Name. Zu Suhrkamp verbinden ihn gewachsene Beziehungen, das sei Vertrautheit des Kritikers mit seinen Lieferanten, auf die Vorauswahl dieser Lektoren könne er sich eben verlassen – welch eine Offenbarung, derart deutlich hatte ich es gar nicht erwartet. Nicht der Text und seine Qualität entscheiden, sondern der Name des Verlages. Lieber keiner als Greiner! Nennen wir es Faulheit, nennen wir es Urteilsunsicherheit, nennen wir es strategische Ignoranz. Im Gefolge einer hohen Auflage herzuschwimmen suggeriert nach Marktlogik garantierte Aufmerksamkeit, und das ist die Währung, nach der hier gehandelt wird. Der Rückschluß lautet: Wenn alle nach dieser Logik verfahren und es allen an Entdeckermut mangelt, sticht keiner heraus und wir haben den sattsam verbreiteten, feuilletonistischen Einheitsbrei. Liebe Kritiker, dient doch dem Markt, begeistert eure Chefs und grabt literarische Schätze aus, die noch nicht allerorten beschrien wurden …

Quelle:

Simone Barck, Martina Langermann & Siegfried Lokatis, Jedes Buch ein Abenteuer, Akademie Verlag, 1998

Erinnerung [2, 1, 1]

Und überall siehst du das Bild
Der glücklichen Begegnung vor dir;
Ein Bild, das dich am Ziele zeigt:
Dem sich dein ganzes Suchen neigt.
A.S. Puschkin, Eugen Onegin (Kap. 3, 15. Abschn.)

Die Vorstellung von der Einheit zweier Gruppenstrukturen war eine Sehnsucht nach Verschmelzung: So wie die Bewegung der Fingerkuppen entlang eines lyrisch gestimmten Saitenraums nebeneinander in der Luft hängender Tiersehnen eine zunächst unüberschaubare, eine ornamentale Formung jenes Gebildes bewirkt, das schon dem winzigen, geschützt in einer Bauchhöhle schwimmenden Wesen als Glucksen unbekannter Gegenstände vor dem inneren Auge Zukunft atmender Intuition steht, ganz als sei die Sichtbarkeit der Welt eine Dauer verheißende Ewigkeitsfunktion kreisender Flüssigkeiten und ihre Spur im Wasser sich stetig verändernder Materie der Weg zum Bei-sich-Bleiben der Knotenform, die kein Herz je kalt lassen wird, so steht die Vorstellung vom Glück ohne Ende in der Pflicht, sich selbst als das zu erkennen, was die Grenzen der Raumbezirke einem Gebilde von der Beschaffenheit des Menschen als Aufgabe stellen, will er seine als Haut manifestierte Isolation in den Drei-Kelvin-Weiten der endlos strahlenden Welt jemals überwinden – und sei es auch nur für einige seltene Augenblicke von der Dauer eines Akkords oder der Ewigkeit jener Erlebnisse, die in den verschiedensten Sprachen in der charakteristischen Gestalt eines Prozesses erscheinen, der die Bezeichnung sterben trägt.

Kein freier Raum [2, 6]

Warum zitterte ich eigentlich? Du warst doch daheim angekommen, übermüdet, geschockt, deine Freundin hatte dich durch Raum und Zeit gelotst wie ein erfahrener Steuermann, und dein Opa würde dir als grelle Erinnerung erhalten bleiben bis ans Ende deines Lebens.

Ich zitterte. Deine Erzählung, in der dieser Bahnhof vor meinen Augen lag wie eine ausgebreitete Landkarte der Seele, war zweifellos ein mythischer Ort. War er ein Schlachtfeld, Wohnstatt unsichtbarer Wesen, die längst hinüber gegangen waren in jene Welt, von wo aus die ungeträumten Erinnerungen vergangener Tage noch immer uns in einem kleineren Körper Atmende mit den nur im Licht sichtbaren Schatten unserer Form ausstattete? Oder war er selbst eines jener Wesen, die sich in der Zeit verändern und noch Hoffnung hegen auf den guten Ausgang jener Kämpfe, die der eingezäunte Ort in den unendlichen Weiten des Universums zu bestehen hat beim eher unwillkürlichen Versuch, sich selbst treu zu bleiben?

Nun lag dieser Bahnhof in Scherben, und du warst durch ihn hindurch gegangen. Auch ich hatte auf den Wegen dieses Sommers, die mich immer wieder in deine Nähe geführt hatten – ohne dass wir uns ein zweites Mal begegnet wären – diesen Ort mehrfach besucht. Er war eine Kreuzung, an welcher sich die Zukunft entscheiden sollte, die da vor drei Monaten in einem Park begann und noch immer nicht zu Ende war.

Zwei unsichtbare Wesen [2, 5]

Ich zitterte. Dieser Bahnhof war ein Ort des Jüngsten Gerichts. In meiner Phantasie malte ich mir aus, wie auf der einen Seite, weitab vom Eingang des riesigen Gebäudes, eine Gruppe Reisender, gerade dem Zug entstiegen, versucht, zur Straßenbahn zu gelangen, die doch sonst immer den Schwall der von den Schnellzügen ausgespuckten Gestalten an ein Ziel im weiträumig ausgebreiteten Rund der Häuser dieser Stadt verteilte. Heute aber gab es kein Durchkommen. Die Leute drängten sich dicht an dicht in der großen Halle, während draußen Lautsprecherdurchsagen tönten und mit dem blechernen Klang ihrer Schallverstärkungsmaschinerie jedem Anwesenden klar machten, dass die gewohnte Ordnung der Dinge an diesem Nachmittag Anfang Oktober außer Kraft gesetzt war. Wer aber setzte mit der Kraft seines Willens, und wodurch hatte er überhaupt diese Kraft? Wer wurde hier versetzt, wer geriet ungewollt in Bewegung, in welche Richtung wurde er gedrückt vom Strudel der Ereignisse? War denn dieser Ort tatsächlich zu einem riesigen Schachbrett geworden, an welchem zwei unsichtbare Wesen unerbittlich um die Vorherrschaft in Raum und Zeit kämpften, wissend, dass jeder ihrer Züge unwiderruflich und das Ende nur darin bestehen konnte, entweder die Spielfläche ganz leer zu räumen – so leer wie eine Wüste – oder aber eine der beiden menschlichen Hauptfiguren, zu viel der Ehre für einen Namen wie den des Königs, in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken bis auf den eigenen Atem, der die Fülle neuer Gedanken gebiert?

Herr Klopsig und Frau Edelsüß (4)

Künstler und Angestellte

Eine Gruppe wartete auf Herrn Klopsig, zwei oder drei Frauen und drei oder vier schwule Jünglinge. Herr Klopsig wußte nicht, woher sie wußten, daß er genau an dieser Stelle vorbeikommen würde. Sie warteten beim Zwischenhändler, wo er zwei neue Sorten Märkischen Weines bestellt hatte. Offenbar handelte es sich um eine Vorkostertruppe. Seitdem Berlin von Exilanten aus Niedersachsen und Hessen überflutet wurde, bildeten sich jeden Tag neue Berufsstände heraus. Die meisten konnten sogar ein Diplom oder einen Meister vorweisen. Sie gaben sich als freischaffende Künstler aus. Insgeheim aber strebten sie in ein Angestelltenverhältnis mit festgelegten Urlaubstagen und Weihnachtsgeld. Letzteres gab es schon lange vor der Sintflut nicht mehr. Cyrano Tyranno, der sich erinnern konnte, daß seinerzeit derartige Zuschüsse gezahlt wurden, außerdem Urlaubsgeld, hatte Herrn Klopsig einmal davon erzählt.

Herr Klopsig lebte nicht schlecht von seinen Märkischen Weinen, doch Angestellte konnte er sich nicht leisten. Er war froh, wenn er Frau Edelsüß nicht zu sehr auf der Tasche lag. Ab und zu kam es vor, daß er einmal klamm war. Materielle Abhängigkeit festigt die Beziehung. Davon wußte man vor der Sintflut nichts, oder man wollte es nicht mehr wissen. Bis zu einem gewissen Grade. Herr Klopsig wandte sich den freischaffenden Künstlern zu, die sich ihm als Vorkoster in fester Anstellung anboten. Unabhängig von Geschlecht und sexueller Ausrichtung teilten sie ihm ihre Ideen und Eindrücke von den sagenhaften Märkischen Weinen mit. In Wirklichkeit schmeckten sie leicht säuerlich, ein bißchen nach halbvergorenem Apfelwein.

Um sich von dem schmeichelhaften Geschwätz zu erholen, trabte Herr Klopsig aufs Klo. Dort hatten die Jünglinge eine neumodische Installation aus Plastik angebracht. Die Brille war hochgestellt und vollgepißt. Ein Klebestreifen sollte verhindern, daß man runterrutschte. Herr Klopsig benötigte eine Weile, ehe er mit der Installation zurecht kam.

„Wie lange braucht der denn?“ fragte einer der Jünglinge.

„Laßt uns irgendwo auf einer Sandbank in der Stadt treffen“, schlug Herr Klopsig vor.

„Sie wollen also von uns nichts wissen?“ erwiderte eine der Frauen.

Die Gruppe trollte sich, und Herr Klopsig hatte seine Ruhe, mit einem Gefühl von Verlassenheit im Magen.

Oxyrhynchos

Was schimmert dort so golden
Unterm Licht? Ist es
Ein Vogel, Flug-
Gestalt an eines fernen Ufers
Märchenhafter Küste?
Tönende Himmelskehle?
Ein neuer Wolkenbruder, Schwester
Späten Abends vor den Toren dieser Stadt?
Nein,
Ein Fischlein ist’s, das seine Schuppen
Zur Sonne hin geöffnet hat

***

Zwischen den Schuppen
Liegt der Wald
Dieses Leibes verborgen:
Geh hinein,
Du wirst alles
Finden, finden das
Was du immer gesucht hast
Und alles andere auch

bis es vorbei ist

die schnürsenkel straff ziehn – bis es vorbei ist

zwiebeln schneiden – bis es vorbei ist

den schlüssel im schloss drehn – bis es vorbei ist

vögeln – bis es vorbei ist

das kleingeld empfangen – bis es vorbei ist

tasten drücken – bis es vorbei ist

die zunge ach unser sportlich organ

bewegen – bis es vorbei ist

wir funktionieren wie mikroben

und EINE hängt die schelle um

lässt ihren sturen köter vor sich traben

und spielt die mundharmonika

Kinderzimmer [2, 4]

Happiness is a warm gun,
Yes it is…
John Lennon

Sommerabend im dunklen Viertel einer großen Stadt, Urlaubsbekanntschaft am Ende der Kindheit oder einfach nur die Erinnerung an eine gemeinsam auf einer Parkbank durchwachte Nacht, Speichelfäden von Mund zu Mund und die Augenpaare ineinaner, durcheinander, zwischen Händen und Armen, die nicht wissen, wohin mit sich, so dass es nicht mehr die Augen als Teile eines Gesichts sind oder die Fingerkuppen am Rande des fühlenden Leibes, die es geben mochte oder nicht, sondern nur noch der Blick, die stille Liebkosung. Jeder Mensch trägt in sich dieses Kind, das ein stilles Auge ist und mit seiner ganzen, seiner dünnen Haut ein fühlendes Ohr, so groß wie das Universum.

Dein Besuch kam unverhofft. Natürlich war ich die drei Wochen, die seit unserer nächtlichen Begegnung vergangen waren, Tag und Nacht wie betrunken gewesen. Ich hatte dir Briefe geschrieben, hatte deine Briefe beantwortet, hatte voller Ungeduld auf die Antworten gewartet, die den Antworten folgten und neue Fragen mit den Gedanken an dich in die Welt setzten. Meine Lebenstätigkeit war nun ein einziger Kreislauf unfassbar vieler Elemente gewesen, allesamt in fieberhafter Bewegung begriffen und plötzlich – deine Stimme am Telefon: „Wollen wir uns heute Abend treffen? Ich bin bei meinem Vater zu Besuch…“ Für Augenblicke schien es, als würde dieser ganze Kreislauf strudelnder Bewegung stillstehn, als sei der Abend dieses Tages das Tor in jene Landschaft, die ihren Ort außerhalb der Zeit hat: Glück.

Letzte Zeugnisse – Brüssel 1873

Mein Freund ist eine trotzige Maske,
die der Welt vor die Füße spuckt.
Er hat mir nie ein Lächeln geschenkt,
nur Provinzküsse und rissige Lippen, –
mein Adonis unter den Bauern.


Mein Freund trägt die Künstlermaske
wie eine Trophäe durch die Gassen,
den Absinthlachen folgend.
Er liebt es, sich darin zu spiegeln, –
der Salonschreiber seiner Tage.

Er ist ein Kind der Ufer;
ruhelos die Wellen bestaunend,
tragen ihn doch nur seine Verse
über den Horizont hinaus.
Er fürchtet die nassen Füße,

Unter seinen braven Bourgeois-
Lumpen ist es heiß
wie in einem Viehstall.
Wenn er mich begehrt,
stinken sogar seine Metaphern.

doch liebt er den Aufbruch,
der große Schattenwanderer.
Unzählige Visionen und jede unbezahlbar
wie ein feuchter Traum. –
Eine Odyssee mit heruntergelassenen Hosen.

Immer ein Versprechen in der hohlen Hand,
immer ein warmer Ort im Rücken.


Immer ein Protestlied auf den Lippen,
immer diese leeren Augen.