Paulus spricht zu den Chinesen:
Tun wir, als sei nichts gewesen.
Paulus tröstet die Chilenen:
Das liegt alles an den Genen.
Paulus schimpft auf die Osmanen:
Immer muss man zweimal mahnen!
Paulus spricht zu den Chinesen:
Tun wir, als sei nichts gewesen.
Paulus tröstet die Chilenen:
Das liegt alles an den Genen.
Paulus schimpft auf die Osmanen:
Immer muss man zweimal mahnen!
featuring robert gernhardt
Erdogan und Ötschalan
trafen sich beim Bier.
Der eene war’n Terrorist,
Der an’re nich‘ von hier.
Erdi sacht zu Ötschalan:
Wat trinkst’n du für Suppe?
Ötschi saacht zu Erdogan:
De Sorte Izmir-Schnuppe…
featuring fried gomringer etc.
sofa profanica
fehlt das
i
lässt sich der
: : : : : : : arsch
hemmungslos
darauf
nieder
ein zeichen ein zeichen
stumm
visuell
i
die stimme
im innern
bricht hin
aus / /
au
ssssssssssssssssss
in
schreibschrift niedergelegt
spürt
man die kette-kette
kett-e-e-e-e-e
stimm
Apparat in Bewegung
„ist das nicht obszön?!“
i-a, au, U
der Abschlus
ein Schuss
i-n-s/d-u-ng-k//l
kl
vice versa
Irrtum schlechthin
oder
konkrete Musik,
Artikulation des eigenen Herzschlags bei 50 Hz, Brummen
auf der Leinwand / des
Auges oder Blatt//Pa
pier, frei
händig durch ein Bullauge gehalten
wand geflecht knoten
du (aporizmo Nr. 67)
solltest endlich aufhören
von den falschen leuten
geld anzunehmen
oc:
Es (Aporismo ’68)
riecht nach kinder
kacke und heil
igem geist
* * *
heiligem stockendem
stinkigem fauligem
odem
odem, atem –
autem
aut.at
(serie #1)
Vogelvau, Treppenwitz und das Kettensägenmassaker
pulst blut im ohr
und der atem hält an
die stimme gelähmt
die stimmbänder gedehnt
reise ich
in eine zeitlose zeit
Tränenflug
Sternenpflug
champ
contrechamp
Regung, keine Regung
Zitternde Luft, Bewegung
ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett
(Nancy Hünger)
werden begleitet heute von oboen die wörter
fadenscheine in der nacht zwischen straßenbahnschienen
stolpert einer über das kopfsteinpflaster
gucken aus den häusern fenster
aus den fenstern leute
welche leute
haben abgestellt um die hausecken einsamkeit
ein zwei einsamkeiten für jeden
holt sie am morgen vor der ersten dämmerung
im regen die städtische müllabfuhr
lauschst du den klängen der wörter und oboen
die durch die straßen wehen
sich ausruhen in hauseingängen
warten sie auf das ende der nacht
wir tragen eine glut in uns
ein flammendes feuer aus quecksilber
das uns sein lässt
murmelnde nomaden
[tastsinne fallen mir ein
wenn ich mich bewege als schuppentier]
Heute: Die Omelette Surprise genannte Nachspeise
– „Kaltes unter dem heißen Eierschaum“, ein philosophischer Erguss Castorps, der wieder einmal nur Stirnrunzeln bei seinem Vetter Joachim hervorbrachte.
– Dem Sonntag mit der unnatürlichen Herbstwärme war ein kühler, nebliger Morgen gefolgt, und die Sonne sollte sich nun für länger kaum zeigen.
– Außerdem handelte das Seminar nicht von Süßspeisen, sondern von den Sonderformen des Todes in Thomas Manns Zauberberg.
(Vorschlag: Ändert doch endlich mal diese öden Genrebezeichungen!!!)
Ich saß im Lauterbach und wartete. Nicht im hauptgeschäft in der Sprem, sondern in der filiale in der Fürst-Pückler-Passage, gegenüber dem bahnhof, gleich neben dem schwedischen hotel, in dem ich wohnte. Ich wartete auf P, wir waren verabredet. Ich war zu früh. Ich nahm sein manuskript und las.
Wir haben den krieg schon lang vergessen, das ist wahr. Und wahr ist auch, dass ich die menschen liebe, ich habe viel für sie übrig.
Ich hatte mich entschlossen, den fotoband zu machen. Die idee stammte von Gary, und eigentlich auch wieder nicht. Gary hatte auf der party davon gesprochen. Ihm schwebte ein band mit schwarz-weißfotos vor, nur schwarz-weißfotos. Man müsse einfach eine kamera nehmen und damit durch die stadt laufen, überall gebe es motive. Ich hatte Gary auf der party von meinen spaziergängen erzählt. Tagelang hatte ich mich in den gassen und winkeln der historischen altstadt herum getrieben, hatte die außenbezirke durchstreift, war über die gelände der stillgelegten tuchfabriken gestolpert.
Warst du schon im Museum für Neue Kunst? fragte Corinna und fuhr fort, die haben da ein irres gemälde! Und dann beschrieb sie es in allen einzelheiten, ich kannte das bild. Gary meinte, ich müsse gleich am nächsten tag die ersten aufnahmen machen. Fotografiere alles, was dir vor die linse kommt, und überlege nicht lang, wähle nicht aus! Einfach draufhalten und abdrücken, das genüge für den anfang. Aber ich hatte da meine eigenen ideen.
Das bild führt die vergänglichkeit vor augen. Im linken bildvordergrund sieht man die grablegung Christi. Weiße tücher umhüllen den leichnam des Heilands, des erlösers der welt, den sein vater in der stunde des todes verließ. Der verdrehte kopf Christi mit dem vom betrachter abgewandten gesicht weist in den rechten bildhintergrund. Eine stillende mutter mit kind wohnt dort einer kreuzigungsszene bei. Eine menschenmenge aus soldaten in kampfuniformen, alten herren im frack, badegästen und freizeitsportlern bindet eine nackte, farbige frau an einen holzpfahl und peitscht sie aus. Die geschlechtsteile der frau sind überdeutlich abgebildet. Über allem schwebt eine riesige dornenkrone mit der aufschrift vita e morte! Den leichnam Christi trägt ein nacktes paar. In der bildmitte sieht man eine größere, unregelmäßige stelle, die unbemalt ist. Die rohe leinwand bildet dort einen markanten fleck. Vielleicht wollte der künstler damit das unausdrückbare nichts ausdrücken? Seitlich rechts und links von dem gemälde befinden sich große fotocollagen aus fetzen von werbeplakaten, illustrierten, modejournalen, politischen magazinen, tageszeitungen und anderen schriftstücken. Das gesamte ensemble gleicht einem tryptichon. Der titel des kunstwerkes lautet dreieinigkeit oder der sechste schöpfungstag.
Die tage wurden kürzer, die nächte kälter, das wetter schlecht, es war november. Genau die richtige jahreszeit für die fotos, grau und kälte standen der stadt gut. Da waren das nasse kopfsteinpflaster in der Bautzener, dort, wo sie die bahngleise querte, das gras neben dem bordstein, die letzten hundeblumen blühten zwischen den ritzen der pflastersteine, da waren die spiegelungen in den pfützen. Nichts in der stadt war eben und glatt. Da gab es verfallende fassaden der bürgerhäuser aus der gründerzeit gleich neben neu herausgeputzten fassaden.
Kontraste, licht und schatten, ideal für schwarz-weißaufnahmen, rauhe oberflächen, gebrochene strukturen. Mauerwerk ohne mörtel, putz, der nicht haftete, ornamente bis zur unkenntlichkeit verwittert. Gehwege aus fest getretenem erdboden neben neu asphaltierten straßenbelägen. Ich fotografierte alles, arbeitete konventionell, altmodisch: eine sucherkamera, manuelle belichtungsmessung, grobkörniges filmmaterial, unscharfe konturen. Die besten motive wollte ich in einem zweiten gang mit einer mittelformatkamera, makroobjektiv, blitzschirm und feinstem filmkorn noch einmal aufsuchen. Jede einzelne ecke, rauhigkeit wollte ich wie in studioatmosphäre festhalten.
Die Friedrich-Ebert-Straße und die beiden kirchen, die kleine wenden- oder landkirche des ehemaligen klosters und die große bürger- oder stadtkirche, hatten es mir als motive besonders angetan. Es schneite, als ich in die Sprem einbog, die mit matten, hellen granitplatten neu ausgelegt worden war. Futuristische straßenlaternen mit graphitfarbenen masten aus hohlprofilstahlblechen säumten die fußgängerzone. Gary war fasziniert von meinen bildern, Corinna wollte mit mir schlafen.
Warst du schon im fußballstadion? Gary meinte, dass ich da unbedingt bei einem heimspiel hin müsse, die idee hatte ich vor seinem vorschlag auch schon gehabt. Ich wollte die menschen in der stadt fotografieren, die gesichter, mit einem normalobjektiv. Nur kein tele! Ich wollte den menschen ganz nah sein, ihnen auf die pelle rücken. Ich wollte ihre körpertemperatur und ihren atem einfangen, die hautfältchen unter den augen und auf den handrücken festhalten.
Gary tupfte sich mit einem in gesichtswasser getränkten wattebausch die schminke aus dem gesicht, ich stand hinter ihm und beobachtete ihn im spiegel. Die ganze garderobe roch nach isopropylalkohol, schweiß und vaseline. Hast du mich gesehen?
Ich wollte lügen und ja sagen, aber Garys gesichtsausduck merkte ich an, dass er mich durchschaut hatte.
Du warst nicht in der vorstellung, sag es frei heraus!
Ich schwieg.
Gary beendete das schweigen: was hältst du von Corinna, gefällt sie dir, hast du bemerkt, dass sie in dich verknallt ist, verknallt ist nicht der richtige ausdruck, dass sie versucht, dich anzumachen, und mit dir schlafen will?
Hast du schon die probeabzüge der fotos aus dem stadion angeschaut, wie findest du sie?
Gary schminkte sich weiter ab und sagte nur: jetzt lenk nicht ab!
Er begann, sich auszuziehen.
Natürlich habe ich bemerkt, dass Corinna es auf mich abgesehen hat! Und, weil ich Gary nicht belügen wollte, sagte ich es frei heraus: es ist auch schon passiert zwischen uns, zwischen Corinna und mir!
Er sackte bei meinen worten innerlich zusammen.
Nach einer weile sagte er: hast du alles vergessen?
Er war nackt und stand direkt vor mir. Ich schämte mich und wusste nicht, wo ich hinschauen sollte.
Schau mich nur an, schau mich an! schrie Gary.
Früher hast du es oft getan, und noch mehr, du hast dich nie geschämt! Es hat dir sogar gefallen!
Weißt du, dass Corinna es mit jedem und jeder treibt? Und nach einer kurzen pause: warum wirfst du dich so weg?
Und dann fiel er über mich her wie ein tier, wie ein dürstendes und ausgehungertes tier, genau wie damals, beim ersten mal, und ich hatte nicht die kraft, mich zu wehren, erinnerte mich an damals, an unseren sommer, der nicht enden wollte und dann doch geendet hatte. Auf einmal hatten wir genug voneinander gehabt und uns schließlich sogar gehasst.
Als wir aus unserem taumel aufwachten, beide nackt am boden dieser schäbigen garderobe eines drittklassigen provinztheaters, stand Corinna in der tür. Sie musste schon eine weile dort gestanden haben.
Die fotos sind großartig, sagte sie, drehte sich um und ging.
Auf dem weg zurück in mein hotel wartete ich lange vor der geschlossenen schranke des bahnübergangs an der Bautzener und stierte über das nasse kopfsteinpflaster. Der mann im stellwerk beobachtete mich. Nass vom regen erreichte ich das hotel.
Erinnerung und vergessen liegen manchmal ganz nah beieinander, manchmal sind sie aber auch sehr weit voneinander entfernt.
Ich legte das manuskript beiseite und schaute aus dem fenster: grau. P kam noch immer nicht. Ich bestellte einen kaffee. Ein theaterstück fiel mir ein, das ich vor jahren verlegt hatte.
In dem ersten bild des stücks, einem vorspiel im paradies, war es auf der bühne zuerst ganz dunkel gewesen. Eine männer- und eine frauenstimme hatten im wechsel freiheit, die ich meine, gleichheit für alle, brüderlichkeit, schwesterlichkeit gesagt. Beim spielen der Marseillaise war das licht angegangen: eine aufrecht gehende, nackte frau hatte einen gebeugt gehenden, nackten mann an einem lederhalsband mit leine über die bühne geführt. Der mann hatte versucht, sich aufzurichten, war aber mit peitschenhieben von der frau daran gehindert worden. Auch seine hilferufe hatten ihm nichts genützt. Dann war das licht erloschen, und über lautsprecher hatte man den John-Lennon-Song woman is the nigger of the world gehört.
Im weiteren verlauf des stücks war eine inzestgeschichte zwischen vater und tochter vorgekommen. Die tochter hatte über ihr seelisches leiden gesprochen, der vater war in form eines geistes, eines gespenstes erschienen.
Gespenster, überall gespenster. Geister.
Jedes korn in der sanduhr des lebens ein traum. Sie rieseln langsam und beständig, nach jedem umdrehen des glases neu. Reiben sich aneinander, reiben sich ab, gegenseitig, nach jedem umdrehen des glases, langsam und beständig, jeder mensch ein korn. Und der sand ist der sand im getriebe der geschichte, ist der sand, auf den wir träume bauen, der sich abreibt nach jedem umdrehen des glases, ist treibsand, fließsand, der zerschwimmt unter dem druck der geschichte, die über ihn hinweg fließt, langsam, beständig, immer wieder neu, nach jedem umdrehen des glases.
Dies waren meine gedanken, als ich knietief im nassen sand stand, der unter den füßen zerrann. Ich stand bis zu den hüften im sand, stand im wasser, der sand wurde unter meinen füßen zu wasser, wurde wieder zu sand, je mehr ich strampelte und kämpfte, um mich zu befreien. Wasser und sand um mich herum. Was zunächst wie fester boden ausgesehen hatte, entpuppte sich mehr und mehr als flüssigkeit, als treibsand, fließsand, in den ich einbrach, in dem ich versank, in dem ich unterzugehen drohte.
Erich hatte uns damals am bahnhof abgeholt, es war schon dunkel gewesen. Er hatte uns mit dem alten wartburg zu dem dorf gebracht, wo die mutter meiner mutter geboren worden war, die aber nicht mehr gelebt hatte, die jahre vor meiner geburt gestorben war, und wo die urgroßmutter noch gelebt hatte, bei ihrer tochter Ella, der frau von Erich, der schwester meiner großmutter. Ella war eine nachzüglerin gewesen, nur zwei jahre älter als meine mutter. Großmutter, die in der nahen kleinstadt verheiratet gewesen war, hatte sich damals geschämt, dass ihre mutter mit Ella zur gleichen zeit schwanger gewesen war wie sie mit meinem onkel, dem älteren bruder von mutter. So hatte es mir mutter später einmal erzählt.
Es war ein sehr kleines dorf gewesen, 500 seelen hatten dort gelebt: eine ländliche gegend. Ich erinnere mich an das plumpsklo über dem hof.
Einmal war Ella mit uns auf besuch zu anderen verwandten gegan¬gen, zwei dörfer weiter in einen anderen landkreis. Unser aufenthaltsvisum hatte dort nicht mehr gegolten. Mutter und ella hatten deshalb angst gehabt. Das hätte schwierigkeiten geben können, hatte mutter später gesagt, wenn man ohne gültiges visum erwischt worden wäre. Man hatte sich immer und überall polizeilich zu melden, selbst wenn man bei verwandten übernachtete. Aber gottseidank war nichts passiert.
Und keine zehn jahre später — Erich war inzwischen gestorben, ein unfall, eine rauchvergiftung beim verbrennen von feuchtem holz im garten — hatte Ella, weil sie rentnerin gewesen war, frührentnerin, uns jedes jahr für ein paar wochen im westen besucht.
Die republik wuchs und zerschwamm wie der sand unter meinen füßen, der treibsand, fließsand war.
Rin in die kartoffeln, raus aus die kartoffeln! Fernsehantenne über die balkonbrüstung, fernsehantenne unter die balkonbrüstung! Heute hüh, morgen hott! So ähnlich könnte man den zustand und die entwicklung der republik beschreiben. Immer getreu dem alten motto der partei – und die hat ja bekanntlich immer recht! – und ihres großen vorsitzenden: den westen ein- und über-holen! Und was wir schon zu überholmannövern ansetzten. Aber im grunde genommen wurden wir bereits beim start abgehängt, das war ein glatter fehlstart, wir kamen einfach nicht aus den startlöchern. Auf der ersten geraden, der gegengeraden, sahen wir euch im westen nur noch ganz klein und von hinten. Und dann standen auf unserer bahn immer wieder hindernisse, hürden, während bei euch alles glatt, geebnet war, einer lief immer voraus und machte den weg frei. Inzwischen sind wir mehrfach überrundet.
Aber freut euch nicht zu früh, bis zum ziel ist es noch lang. Nicht, dass es euch am ende so geht wie dem hasen mit dem igel, dass wir schon dastehen im ziel, oder einer von uns, der sagt: bin schon da!
Reginald, lass doch den jungen in ruhe damit, das versteht der sowieso nich! Gell? Ihr im westen seid doch alle ein bisschen blöd, und wir hier sind die einz’schen gescheiten! Naldi, was mussde dem jungen immer die ohrn volljammern, mehr als fressen und scheißen können die da drüben ooch nich!
Darauf trinken wir erst mal einen, und spüln den ganzen sozialismus runter! Und dann trinken wa noch een, und spüln euern kapitalismus gleich hinterher!
Jetzt lang aber mal ordentlich zu, sonst sagsde drüben im westen noch, bei uns hier gibt’s nischt zu essen! Nimm nur kräftig viel, das sind grüne klöße! Gell, die macht dir deine mutter nich? Die is ja ooch schon zwanz’sch jahre weg von zuhaus. Wahrscheinlich würden die thüringer klöße mit euren schwäbischen, oh pardong, badischen kartoffeln sowieso nich gelingen. Ihr esst ja am liebsten spätzle oder maultaschen, und trinkt dazu sauren schprudel!
Ja liebes patentantchen, das werd ich daheim erzählen, wie ich hier verhungert bin und keinen sauren schprudel gekriegt habe.
Selters! Heißt das, selters! Nicht saurer schprudel!
Nu setz dich mal, Karin, und iss auch was mit, und lauf nich immer nur in der küche rum!
Die grünen klöße waren hervorragend gewesen. Keine hatte sie so gut wie Karin kochen können. Und dazu hatte es hasen gegeben, richtigen, keinen falschen. Naldi hatte ihn bei sich zu hause im vogtland extra für uns westbesuch organisiert. Es hatte auch gestimmt, dass meine mutter, seit sie rüber gemacht hatte, keine thüringer klöße mehr gekocht hatte. Aber sie war ohnehin keine begeisterte köchin gewesen und haushalt nicht ihr ding. Nur meine schwester hatte beim essen die nase gerümpft. So derbe kost war sie nicht gewöhnt gewesen.
Am nachmittag hatten wir alle zusammen einen bummel in die stadt gemacht und kaffee im interhotel getrunken, gegen westgeld, mutter hatte bezahlt.
Überall in der stadt waren spruchbänder mit politischen parolen aufgehängt, es war kurz vor dem ersten mai gewesen:
Kampftag der internationalen arbeiterklasse, für den aufbau des sozialismus, seite an seite mit dem sowjetischen brüdervolk, kampftag der befreiung vom faschismus, die werktätigen aller länder, die soundsovielte internationale, die jugend der welt, die fdj, veb, die partei, der staatsrat, das zk, die sed … Und so weiter, und so weiter … !
Da kann einem schon mal ein kloß im halse stecken bleiben, vielleicht ein echter thüringer, ein grüner … Wie ihn der gute alte herr geheimrat (gott hab ihn selig!) Seinerzeit auch gegessen haben mag!
Lang leuchte der sozialismus, lang lebe die halde von ronneburg, wismut, missmut, mit mut! Solang noch ein kumpel einfährt in den schacht, solang bleibt die hoffnung, dass er auch wieder ausfährt, drunten bleibt nur das uran, das deutsch-sowjetische!
In Cottbus angekommen, fuhr ich sofort in mein hotel. Es war leicht zu finden, lag beim bahnhof, und außerdem hatte ich einen stadtplan.
Ein paar steine fehlten bereits, fehlten schon lange, nur hatte es bis dahin keiner bemerkt. Konnte es nicht bemerkt haben, weil der blick in eine andere richtung gelenkt war, nicht auf die steine in der mauer, die unsichtbaren und die sichtbaren, sondern nach westen, nicht nach osten, wo der feind stand. Wir hatten uns gewöhnt an die stacheldrähte, die elektrozäune, die gitter, die mauern, die selbstschussanlagen, die minenfelder. Und die wachtürme waren unsere eigenen wachtürme, die unsere gedanken bewachten. Die grenzen waren unsere eigenen grenzen. Alles war in uns, kam aus uns heraus, um wieder in uns zu verschwinden. Manche hatten ursache und wirkung verwechselt, und so hatten wir, was wir verdient hatten. Aber das ist vorbei. Vorbei?
Und plötzlich, eines tages im november, waren alle steine in der mauer weg. Nicht lange, und die ganze mauer war nicht mehr da. Verschwunden waren die stacheldrähte, die elektrozäune, die gitter, die mauern, die selbstschussanlagen, die minenfelder. Alles war aus uns heraus, um wieder in uns zu verschwinden. Ein paar verwechselten von neuem ursache und wirkung, und nicht lange, und wir hatten wieder, was wir verdient hatten. Aber das ist … Kein stein blieb auf dem anderen!
Verkehrsprojekt deutsche einheit hatte als überschrift auf dem baustellenschild gestanden, das ich ein paar kilometer zuvor passiert hatte, irgendwo in der gegend von Bayreuth. Ich wunderte mich auf einmal darüber. Hatte ich doch seit langem aufgehört, mich zu wundern, aufgehört, mir fragen zu stellen, die ich mir früher gestellt hatte und die immer die falschen fragen gewesen waren. Ich war nicht der einzige gewesen. Ich hatte im trend gelegen, keine antworten zu suchen, nicht zu fragen, falsche fragen zu fragen und falsche antworten zu erhalten. Ich hatte die situation hin zu nehmen, wie sie war, nicht nach der versprochenen verfassungsreform zu fragen, die längst überfällig, hinfällig war, von der niemand mehr redete, das land hatte andere sorgen, dreizehn jahre nach dem fall der mauer.
Himmelkron, Marktschorgast, Gefrees, Münchberg, Hof: die namen der autobahnausfahrten. Rechts einordnen tempo 100, rechts abbiegen tempo 80, einspuriger baustellenbereich tempo 60 in der überleitung. Und dann bergauf, bergab, weit geschwungene kurve rechts, weit geschwungene kurve links, bergauf, bergab, rechts, links.
Seit dem fall der mauer war ich nicht mehr im osten gewesen, das heißt, so ganz genau stimmte das nicht. Einmal, im mai fünfundneunzig, war ich mit dem auto durch die ehemalige DDR gefahren, die neuen bundesländer, von Nürnberg-Hof kommend über Plauen, Chemnitz, Dresden, Görlitz weiter nach Kattowitz und Krakau. An einer autobahnraststätte im Vogtland hatte ich getankt und bei dieser gelegenheit gleich mittagspause gemacht. Das mobiliar in dem rasthof, die bedienung, das geschirr und das essen hatten alle noch von vor der wende gestammt, nur der belag auf den straßen war neu gewesen: eben, glatt, ohne schlaglöcher.
Früher, vor der wende, war ich öfters drüben gewesen, auf besuch bei verwandten. Heute? Heute fahre ich nicht mehr hin, Süditalien reizt mich mehr.
Wie ich den fall der mauer erlebt hatte? Rotz und wasser hatte ich geheult!
Ich hatte damals im ausland gearbeitet, in der Schweiz. Genau am tag der ersten grenzöffnung war ich mit dem auto unterwegs gewesen, in einem vorort von Bern. In der mittagspause war ich nach hause gefahren. Aus den zwölf-uhr-nachrichten im autoradio hatte ich von der grenzöffnung gehört und sofort am straßenrand gehalten. Die gefühle waren aus mir heraus gebrochen, den ganzen körper hatte es geschüttelt.
Daheim hatte ich zu meiner frau gesagt: du, die mauer ist offen! Sie hatte es erst gar nicht geglaubt. Nach dem essen hatten wir die ein-uhr-nachrichten gehört und alles noch einmal, dass die mauer offen wäre. Abends, in der tagesschau im fernsehen, hatten wir dann die bilder gesehen: wie sie aus dem osten mit ihren Trabbis in den westen gefahren waren und von den menschen im westen gefeiert und beklatscht worden waren. Alle hatten getanzt und gesungen und gelacht und geweint und gerufen: die mauer ist weg!
Ich hatte an meine verwandten gedacht, drüben, ob sie wohl auch dabei waren? Wie lange hatten wir alle auf diesen augenblick gewartet!
Am nächsten tag auf arbeit, im büro, hatte ich erst einmal nichts zu meinen schweizer kollegen gesagt. Zwei slowaken aus Bratislava, die kurz nach dem prager frühling in die Schweiz geflohen waren, hatten sich mit mir gefreut. Die meisten schweizer hatten auf die ereignisse in Deutschland mit angst reagiert und geäußert, dass das wiedervereinte Deutschland zu stark und zu einer gefahr für die nachbarländer, besonders zu einer gefahr für die Schweiz werden könnte. Zwei jahre nach dem mauerfall waren meine frau und ich wieder nach deutschland zurück gekehrt.
Meine verwandten aus dem osten, die nach der wende drüben geblieben waren, hatten mich nie in der Schweiz besucht. Ich hatte sie erst vor vier jahren bei der hochzeit meiner schwester wieder gesehen. Sie hatten mich auch im westen nie besucht, bis heute nicht.
Er stand unauffällig, wenige zig meter links neben der fahrbahn, auf einer anhöhe, bei einer gruppe sträucher in freiem feld. Fast wäre er mir nicht aufgefallen: der ziemlich vollständig erhaltene überrest einer vergangenen zeit, ein schmuckloser grauer betonbau mit quadratischem grundriss, ohne fensterrahmen und -scheiben in den aussparungen. Seine frühere funktion war mir sofort gegenwärtig und warf mich weit zurück in eine zeit, die ich schon längst vergessen geglaubt hatte. Und ich wunderte mich plötzlich, dass ich so ruhig blieb und so selbstverständlich vorbei fahren konnte an dem ehemaligen wachturm, der unauffällig neben der autobahn stand, wenige zig meter links neben der fahrbahn, auf einer anhöhe, bei einer gruppe sträucher in freiem feld. Und er sah aus wie noch in betrieb, wie wenn die mannschaft gerade auf ablösung fort gegangen wäre, und die neue mannschaft noch nicht auf posten.
Ich fuhr langsamer und wartete, dass die straßensperren auftauchten, dass man mir nachschösse, dass die minen hochgingen, über die ich fuhr, dass die grenzer mich stoppten im todesstreifen, im niemandsland. Aber nichts von alledem!
Es ist kalt, sehr kalt, ein wintertag in zeiten des kalten krieges. Ein zug, der interzonenzug, fährt in dieser kälte von west nach ost, ich erinnere mich noch genau, wie wenn es erst gestern war, und ich noch ein kind. Im zug sitzen meine mutter, meine kleine schwester und ich. Wir fahren auf besuch zu verwandten in die zone, wie meine mutter immer sagte. Das erste mal zurück in den osten, seit meine eltern rüber gemacht hatten. Die mauer steht seit drei jahren, meine schwester wurde im westen geboren, vor der mauer, einen monat vor ihrem bau.
Ich spüre genau den geruch des zuges, züge riechen immer so. Ein bisschen nach kaltem zigarettenrauch, nach kunstlederbezügen der sitze, nach toilettenmief, der über die plattformen in die gänge dringt, in die abteile. Nach fußboden, über den viele menschen gegangen sind … Meine erste große zugfahrt, an die ich mich erinnere.
Und dann fährt der zug langsam, und noch langsamer, bis er schließlich anhält. Und ruckartig wieder anfährt, ein stück rollt und wieder stehenbleibt. Und alle müssen aus dem zug aussteigen mit ihrem gepäck. Die reisenden stehen auf dem bahnsteig, in dieser kälte, es dämmert bereits. Alle schauen, was los ist, wo sie hin müssen, und drum herum stehen männer in uniformen, schmucklosen uniformen. Die männer tragen maschinenpistolen, und da sind schäferhunde, suchhunde, und wachtürme, auf denen männer in uniformen stehen. Mit ferngläsern suchen sie die gegend ab, auch den bahnsteig. Ich sehe zäune, hohe zäune, mit stacheldraht darauf, sehe masten mit scheinwerfern, die die schienen und den bahnsteig anstrahlen, obwohl es noch nicht dunkel ist, nur neblig und grau. Die reisenden müssen in die flachen holzbaracken gehen, auch wir, mit dem gepäck, der reihe nach, einer nach dem anderen, von den wachmännern begleitet. In den baracken werden die ausweise kontrolliert, ich habe schon einen eigenen, einen kinderausweis, und meine kleine schwester ist nur im pass meiner mutter eingetragen. Das visum wird kontrolliert, und meine mutter befragt. Ich schaue durch das fenster nach draußen: der zug auf dem bahnsteig wird von den männern in uniformen und von den schäferhunden durchsucht. Die koffer werden kontrolliert, auch innen, gerade innen, dort sehr genau. Der grenzposten, der unseren koffer durchsucht, entfernt das zeitungspapier, in das die schuhe eingewickelt sind, und gibt es dem zweiten grenzposten. Meine mutter hat angst, auch die anderen reisenden haben angst, ich beobachte alles mit neugier. Die geschenke, die wir unseren verwandten mitbringen wollen, werden ganz genau kontrolliert. Alles dauert sehr lange. Als die kontrollen vorbei sind, dürfen wir wieder hinaus auf den bahnsteig mit unserem gepäck, auch die anderen reisenden kehren auf den bahnsteig zurück. Wir dürfen wieder einsteigen, alle, und man hat die lok gewechselt, eine alte dampflok ist jetzt vor die waggons gespannt, und der zug setzt sich in bewegung und rollt eine weile, bis er richtig fahrt aufnimmt. Ich strecke den kopf aus dem fenster, schaue den zug entlang nach vorne zur lok, die ich in den kurven sehe. Ich schmecke den rauch.
Warum rattern und schlagen die waggons? frage ich mutter, und sie antwortet: weil die schienen alt sind und schlecht aneinander liegen!
Ich schaute in den rückspiegel, war schon lange vorbei an dem wachturm, sah nur landschaft, autobahn, keine grenze. Und der wachturm war der wachturm, war nicht der wachturm, der meine gedanken bewacht hatte, der die grenze bewacht hatte und wieder nicht, die meine eigene grenze gewesen war, sie nicht gewesen war. Alles war in mir gewesen, aus mir heraus gekommen und wieder in mir verschwunden. Ein übrig gebliebener, schmuckloser grauer betonbau.
Wo war die wachmannschaft? Wohin waren die offiziere gegangen, die der mannschaft befohlen hatten? Kein stein war auf dem anderen geblieben. Ich fuhr weiter auf der A 72 in richtung osten.
Es ist kalt, ein kalter wintertag. Eine frau sitzt im zug, der von ost nach west fährt. Bei sich hat sie ihr kleines kind, ein säugling noch. Alles ist vorbereitet und genau durchdacht. Es gibt nichts, das sie im osten hält. Die frau ist im besitz einer erlaubnis zum besuch ihres bruders, sie hat ein visum für sich und ihr baby. Sie wird die rückfahrkarte nicht mehr brauchen und erst einmal für eine weile bei ihrem bruder bleiben, bis sie eine arbeit und eine wohnung im westen gefunden hat.
Ihr mann wird wenig später über Berlin nachkommen. Er wird im ostsektor der stadt in die s-bahn steigen und im westsektor aussteigen. Ja, gefährlich ist es schon, es ist nicht erlaubt. Die bahnhöfe werden kontrolliert. Man muss aufpassen, dass man nicht erwischt wird und ins gefängnis kommt, es ist republikflucht. Aber alles geht gut.
Später, beim bau der mauer werden sich die frau und der mann an ihre flucht erinnern. Dann werden sie froh sein über ihren schritt. Als flüchtlinge werden sie nie anerkannt werden, sie waren nicht verfolgt gewesen. Sie hätten genauso gut drüben bleiben können, es gab keinen grund zum weggehen, ihr leben war nicht bedroht, werden sie während des antragsverfahrens auf den behörden zu hören bekommen.
Und die autobahn führte mich weiter auf meiner reise, vorbei an Plauen, Zwickau, Chemnitz, Dresden. Wilde Sau, Wilder Mann, Dresden Flughafen, dann nach norden auf der A 13, richtung Berlin, und rechts hinter den kiefern- und birkenwäldern tauchte der erste tagebau auf, man sah nur die obere spitze des auslegers, ahnte nur den dazu gehörigen, riesigen bagger und das gigantisch große loch, in dem er stand. Neben der autobahn lagen die stahlrohre für das viele wasser, das weg muss aus dem loch, und am himmel der formationsflug von kranichen, die nach süden zogen, in wärmere gefilde. Dreieck Spreewald war erreicht, rechts einordnen tempo 100, rechts abbiegen tempo 80 in der überleitung. Irgendwo links in der ferne musste der Spreewald liegen.Und nicht lange, da tauchte der nächste tagebau auf, diesmal ganz nahe der autobahn. Davor, in freiem feld, der neu errichtete nachbau einer slawenburg, sie war noch nicht eröffnet, wie ich später erfuhr. Die autobahn in richtung Polen war fast leer, mein ziel Cottbus ganz nah.
Hilde wohnt jetzt im Briefzentrum 39. Gestern kam ein brief von ihr, und mein erster blick geht immer auf den poststempel. Sie reist viel und ist immer unterwegs.
Hilde schreibt über die zurückliegende landtagswahl, den zunehmenden egoismus in der politik, den rechtsruck, die rückkehr der faschisten: ein spiegelbild der zeit und der zeit zwischen den weltkriegen.
Gestern, eigentlich vorgestern, ging Hilde auf den markt und diskutierte mit ihrem obst- und gemüsehändler über die deutsche sprache und flüchtlinge. Heimatliteratur sei wieder ganz groß in mode.
Heimat sei sowieso ein seltsamer begriff, der nur ausgrenze, sagte eine frau, die sich ins gespräch eingemischt habe. Sie zitierte einen schriftsteller: Und heimatlos sind wir doch alle.
Hildes sohn, der in Finnland lebt, ist schwer krank. Sie will zu ihm fahren und ihn pflegen. Alles klang sehr traurig.
Ich kenne Hilde jetzt schon seit fast 50 jahren. Wir wohnten nicht weit auseinander und besuchten dieselbe schule. Sie war zwei klassen über mir.
Mit 18 war ich in Hilde verliebt.
Schlag dir das aus dem kopf! war ihre einzige reaktion.
Freundschaft kann manchmal liebe überdauern.
Lange zeit hatten wir uns aus den augen verloren, bis wir uns mit 30/32 wiedertrafen.
Wo warst du so lange? war ihr erster satz.
Und du? fragte ich.
Nirgendwo und überall, antwortete sie. Seitdem schreiben wir uns fast regelmäßig oder treffen uns spätestens alle zwei drei jahre.
Los, geh in die knie, bück dich, du hure! Was lachst du so? Hast noch nicht genug? Warte …
Dann schlugen sie auf Hilde ein, bis sie stumm am boden lag, traten sie blau und blutig und rannten davon. Die umstehenden rückten näher und schauten auf sie hinab. Als der leblose körper plötzlich einmal zuckte, gingen sie weiter.
Ich mache mich auf den weg zum Briefzentrum 39.
Bewußtseinspreziosen
voller Herz
in Fabeln;
nacherzählend
vom Tränenflug
im Rätselspruch
In der Grundschule, die ich heute im Rahmen einer Veranstaltung besuchte, hingen selbstbemalte Pappen aus. Die Sechs-bis Zehnjährigen, die sie erstellt hatten, besaßen offensichtlich ein ausgeprägtes Gespür für den ihren Alltag beherrschenden Zeitgeist und seine massenmedialen Abgesandten.
Mir wurde ein wenig kulturrevolutionär zumute, als ich die Kunstwerke näher zu betrachten begann und erahnte, was sie wohl gesellschaftspolitisch Bedeutsames zu verraten schienen.
Da war es, ein eher seltenes Gefühl, das sich in der oberen Magengegend einstellt, wenn einer Person bewußt wird, dass gerade etwas Wichtiges bezeugt wird, etwas, das prägend ist und die Wahrheiten jener Zeiten für immer tief in ihre Seele brennt.
Das Bonmot, die Revolution fresse ihre Kinder im Sinn, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Diese Grundschulkünstler: die Revolution, ich: ihre Kinder. Was ihre Plakate implizierten, war deutlich. Das neue Gebot: Fahrräder (grüner Haken). Die Verbote: Fleisch, Käse, Autos, Kreuzfahrtschiffe, Flugzeuge und dass Schlangen Plastik fressen.
Soweit, so radikal. Als ich jung war, kamen mir Gleichaltrige oft zu unpolitisch vor, zu konsumgeil und zu gemein.
Doch in den Hinterlassenschaften der hiesigen demographischen Repräsentanten schwelte offensichtlich noch etwas weitaus Düstereres – Angepasstheit, gepaart mit gleichgeschaltetem Eifer. War es eine junge Lehrerin vom Bund deutscher Meisenliebhabex, die das Feuer entfacht hatte? Oder vielleicht ein Geschwisterkind in der Hipsterjugend? Ihre glutenbefreiten, veganen Mütter? Schwer zu sagen. Der fanatische Eindruck bekommt jedenfalls ein identitär-religiöses Göring-Eckhardt-Moment: „Wir gehen auf die Straße und sagen: Bitte Klima! Verzeih uns doch!“
Ich muss einschieben, ich bin keiner von den „eigentlich bin ich ja keiner von denen“-Typen.
Wenn also die forenflutenden Rechtspopulisten, diese saublöden Arschlöcher, mit Stichworten wie „Klimareligion“ polemisieren, dann triggert das nicht, oder würde mich das mit Wut im Herzen unterschreiben lassen. Aber dieser Begriff kam mir nun tatsächlich in den Sinn.
Ist da vielleicht etwas Messianisches im Gange? Mit Greta existiert immerhin eine Prophetin, inklusive Autismus – anstelle der klassischen Epilepsie – als modernes „Gott-nah-sein“, die das Wasser überquert hat, dazu die Verklärung einer, von den Anhängern als Dogma anerkannten, jedoch kaum en detail nachvollziehbaren Wissenschaft und, last but not least, die Hinwendung zu einer inquisitorischen Durchdringung aller Gesellschaftsbereiche mittels der reinen Lehre. Den neuen Kinderkreuzzug nicht zu vergessen.
Ich lebe in einem Bezirk, in dem die Grünen die absolute Mehrheit errungen haben und bin insofern einiges gewohnt. Gerade gestern habe ich etwa erfahren, dass die umgebenden Straßen für Durchgangsverkehr gesperrt werden und auf allen größeren Straßen Tempo 30 herrschen soll, an Wochenenden allerdings Tempo 0, da dort dann Spielstraßen auf eimsbüttler Biomütter mit ihren kleinen Emils und Lenas im Schlepptau warten. Wie Schwerter zu Pflugscharen, werden Nebenstraßen nach und nach zu Sackgassen umgewidmet. Und jedes neugebaute Haus muss nun eine Solaranlage vorweisen, sonst wird der Zutritt zur schönen, neuen grünen Wohnwelt von bauamtlichen Hohepriestern verwehrt.
Was mir sauer aufstößt, was mich wirklich nachdenklich macht, ist, dass die ursprüngliche Verzweiflung „todkrank ist dein Weltenerbe!“ sich in Wahn verwandeln kann „und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“, dass sich ein Mitläufertum, das den Totalitarismus begünstigt, herausbildet und Antistagnativ-Anarchisches in Kindern mithilfe frömmelnder Zombies (Mangelerscheinungen) früh, allzu früh erstickt.
Selbst wenn mit den Grundlagen und Zielen hunderprozentig übereingestimmt wird, wenn also die Differenzen nur den Stil betreffen würden, so ist es doch dieser Stil, der am Ende die Gesellschaft nicht nur umweltpolitisch, sondern gesamtheitlich – eben auch und gerade – verhaltensoktroyierend transformiert.
Die schwarze Pädagogik, hat sie sich ein grünes Fell übergezogen, lauert der Ökofaschismus tatsächlich hinter der nächsten Fahrradstraße?
Das sicher nicht, nur ein Aufmarsch der grünen Garden.
Heute schreiben wir
Freitag, den zwan
zig sten
septembre
anno domini 2019,
Festtag der Geometrie:
(Konstruktion)
Vom Nabel des Himmels
ziehe man eine Gerade
hierher,
wo es am kältesten ist –
Der Begriff ist ein
Gott in Bewegung.
Man warte.
Messe.
Bete oder nicht.
Atme! Ein und aus,
„wie es sich gehört.“
Man baue eine Welt
a priori
und warte, warte
auf die richtige
(passende)
Wahrnehmung:
Festakt des Denkens –
politische Natur.
Heute laufen wir aus, ein, aus – –
und die Erde rotiert.
Der Mond ist ein Schaf
in Elysium, der Begriff
ein Gott, ein Fühl en
– Was man nicht alles gelesen haben muss, um dazu-zu-gehören
– Die Regeln der Kommasetzung, Getrenntzusammen- und Kleinschreibung, bes. nicht am Anf.
– Die Zeichensetzung als Beispiel für das Verfahren der Setzung, zus. die Fristenregelungen im Wid.falle
– Die Gebührenordn.
– Manches andere, der Allseitigkeit wegen
– Plusminusmalgeteilt und den Dreisatzansatz
– Wie man Dinge richtig auswändiglernt
– Anstelle des Sütterlins eine liberale Schönschrift
– Kurvendiskussion als kreatives Minimum für den rationalen Diskurs
– Eine Fremdsprache eigener Wahl außer Russisch, Türkisch, Arabisch oder Chinesisch
– Bedingungslosen Respekt vor der Oberprima
– Heidelbeerwein
– Bugwellen in den Stoßzeiten, immer mehr in immer kürzerer Zeit
– Die Kunst der Atteste
– Die Kunst, eine angefangene Seite vollzuschreiben
– Die Fähigkeit, Neukonkurrenten rechtzeitig zu beklatschen (auszulachen)
– Die Fähigkeit, sich auf die eigenen Fähigkeiten nicht zu wenig einzubilden
– Die Kunst der Konversation
– Dreimal die Kunst im Namen der Wissenschaft
– Das Einjährigenfreiwilligenzeugnis samt der Stiefel
– Respekt vor dem Kaiser auch nach seiner Abdankung
– Und optional Kenntnis von den Zustimmungswerten bei den Volksentscheiden über die Landesverfassung 1946 in Hessen und Sachsen oder über das Gesamtgewicht der 1947 über der alten Hauptstadt abgeworfenen Rosinenbeutel
– Fähigkeit zu beweisen, dass das alte Neue und das neue Alte zwei sind und dass Einheit von Odin-Otschestwo stammt
Frühmorgens kommt der Stinkefuß
Verpaßt mir einen Hinkekuß
Es trillerpfeift ein kleines Maul
„Papa : lieg nicht rum so faul“
Ob tot : ob foht oder lebendig sind sie
Meine Kinder : Mara : Ulf & Thomas
Wenn sie sich um mich versammeln
„Papa : hör jetzt auf zu gammeln“
Spätabends wenn ich fallend lalle
geil & giftig : Galle genschelnd
Stoltern durch die Klingklanghalle
Wo die Kinder stehn & stammeln
„Papa : laß uns endlich strammeln“
Für August, Mara, Ulf & Thomas
6
Des Nasenberges Höhlenraum
Saugt bis ans Zwerchfell
Die Düfte Rasins ein,
Meeresluft.
Ich, in Bewegung.
Winde, Prüfungen
^
für Jürgen Becker
und
es ist ein gröbkörniger tag
wie sand kies moränen im blick auf den einen schatten
der lange still steht und sich dann
plötzlich bewegt
ums haus
über die straße vor dem haus
bis er weitergeht
in eine andere fotografie
[die im abend verschwimmt
mit deinem eigenen leben]
auf der du keinen mehr kennst
.
für Nicolas Born
unterwegs die häuser alle hatten weiße fenster
gelbe drehkreuze in den scharnieren
eine rote zeichnung unter dem neuen lack
schaut piwitt aus rom herunter auf die straße
ich beobachte die radfahrer mit ihren gefetteten ketten
wie sie am flussufer gegen die strömung fahren
talwärts ziehenden lastkähnen entgegen
beladen mit schwermut die einen
die anderen mit leichtem licht aus den bergen
lang fallen die schatten der lenker und räder
hinaus auf die treibende flut
ich gedenke dem wasser
der stadt
.
für Pier Paolo Pasolini
die zeichnung auf dem käferflügel wies scharfe konturen auf
filmschnitte im grauen chinin
marschierten junge faschisten durch ein drehbuch pasolinis
er schrieb es in erinnerung an ein treffen in weimar
später am strand von ostia
die stelle ist bekannt
fehlte ihm die zeit für ein letztes gebet
[verschwamm im abendhimmel
graues chinin]
was stört
kann weg
und wenn’s
die
letzte
Zeile
ist.
Sonntage sind zum Sonnen, so
wie Renntage zum Rennen
sind.
Renntage sind zum Sonnen, so
wie Sonntage zum
Rennen sind.
blaskapelle gehirn:
austritt(s) – und eintrittselemente: durchzug. ungelenkig, (immer morgens; im schlafanzug), kommt (mich) (das) an. danach: fließend. wartend. (und immer diese ungeduld beim essen). der geist ist unruhig, aber das fleisch muss
wir sind alle
gebaut nach einem
programm:
und die programm-
gestaltung
lässt uns. nachgehen.
(aber mit diesem gehirn)
Stierkampf muss weg!
In der pädagogischen Provinz blüht der Rost auf den Klingen. Entelechie wird Lebenslauf, die Gestirne
Es blinkt ein weißes Segel, leer
Im bläulich-grauen Nebelstück!..
Was sucht es draußen auf dem Meer?
Was ließ es hinter sich zurück?..
Es knallt der Wind mit voller Wucht
Ins Tuch, bis dass der Baum sich biegt…
Uf! Glück ist’s nicht, wonach es sucht,
Und Unglück nicht, wovor es flieht!
Darunter – himmelblauer Strom,
Darüber – Spiegelglanz des Meers…
Und es, das Wilde, fleht um Sturm,
Als ob darinnen Ruhe wär‘!
Das also ist Berlin : ein Hinterhof
Berliner Ballhaus : schwarz
Biergarten : innen verwirbelt
Farbig : alle Kontinente tanzen
Hier : außer Australien
Skepsis weicht der Sepsis
Lächeln weicht dem Schwächeln
Schnelle Schritte : fitte Mitte
Zehweh dreht ums Viehknie
Der Drink ist ein Wink : link
Morgens um drei sind wir dabei
Warten : warten : bis die Flieger starten
New York : Helsinki : Shanghai
Preußen : Sachsen : Walachei
Das Leben : halb vorbei
Die Stadt Heidelberg schreibt in Zusammenarbeit mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg auch in diesem Jahr wieder den mit 10.000.- Euro dotierten Clemens Brentano Förderpreis für Literatur aus. Er wird 2020 in der Sparte „Lyrik“ vergeben. Prämiert werden Autorinnen und Autoren, die bisher nicht mehr als zwei literarische Publikationenin deutscher Sprache veröffentlicht haben; das einzureichende Werk kann somit die erste, zweite oder dritte literarische Publikation darstellen. Das Veröffentlichungsjahr des in Frage kommenden Textes muss 2018 oder 2019 sein.
Texte, die für den Clemens Brentano Förderpreis geeignet sind, als Pdf-Dokument und als Buch in drei Exemplaren bis spätestens 12. August 2019 an folgende Adresse einzusenden:
Per E-Mail: brentano@gs.uni-heidelberg.de
Postalisch: Prof. Dr. Michaela Kopp-Marx
Germanistisches Seminar der Universität Heidelberg
Hauptstr. 207-209
69117 Heidelberg
dort wo ich
deinen raum betrete
in einer sprache
die aus den augen fällt
sozusagen ein liebesschweigen
genau dahin
möchte ich
wie ein morgengedicht
das den tau
auf den lippen trocknet
und die stürme
des vergangenen sommers
meiner kindheit
schläft noch die einäugige puppe
zeichnet die nacht
eisblumen ans fenster
schon damals träumte ich
vom leben vor dem tod
Manchen Metaphern sieht man ihr Innerstes unmittelbar an: Metatheorien subatomarer Gespinste, der Geist von Hamlets Vater tritt auf. Der Geist befiehlt dem Willen, der Wille befiehlt dem Körper. Wenn es dann so richtig heimelig geworden ist in der Arena, vielleicht ein Sonnenuntergang oder der Aufgang eines neuen Sterns, schauen alle in die gleiche Richtung: Soll das etwa Ausdruck der Algorithmen des Herzens sein?