* * *

Wind – Gesang
Wessen wovon?
Kindes Gang
Durch die Sehnsucht des
Schwerts, Schmerz zu sein.
Die Menschen hegen den Tag des Todes
Untrüglich: Liebster Blüte Duft
Hohe Saiten, glaubt mir,
In der Hand des Ostens
Lassen heute erzittern die Luft.
Und sein kann es, dass neuen uns
Mut die Mutter vom gleißenden Berge
Schenkt, und, vieler Menschen eingedenk
Und von vielen betrachtet
Lege ich an die Vernunft,
Meine Tracht, die weiße,
Wie ein Gletscher sein Eis bewegt.

„… verse näher an sich heranlassen …“

für Christoph Meckel (* 12. Juni 1935, † 29. Januar 2020) 

wir halten die wasser an
den wind
wir halten den schnee an
wir unterbrechen die blutspur des pumas in den bergen
wir folgen dem formationsflug der kraniche
auf der gekräuselten wasseroberfläche eines fremden meeres
wir lauschen dem surren eines immenvogels
im kelch einer glockenblume
sie läutet den frühling den herbst
im sommer ruht sie sich aus
wir stimmen ein in die wintergesänge
die uns wecken aus unserem letzten schlaf
zwischen fischen
kastanien akazien
in deren schatten sie sich sonnen
mit dem durchdringenden licht der poesie
wir heben an zu einem abschied
am grab eines unbekannten poeten
geben ihm steine mit auf die reise
damit sie leichter wird für ihn.

.

[geschrieben am 31. Januar 2020, Freiburg-Herdern]

göttlichkeit | das göttliche

für C. M.

tragen wir einen vers ins haus
legen wir ihn
neben die post die briefe
aus einem anderen lebenschuppt der himmel sein blau ab
die kindheit ihre letzten unbeschwerten tränen
sind des himmels treiben gratwanderungen
der kindheit verseaufschauend ins wolkenleere
gießt sich ein tag über den anderen
eine nacht über die andere
ein leben über eine kurze verschnaufpause

wolltest du dieses einerlei an rhythmischen störungen
feilst du zeile für zeile worte
treibst du sie wie man silber treibt
oder gras oder noch viel unerklärbarere dinge

wir zögern
warten auf ein klingeln an der tür
aber es kommt keiner
wieder nicht

trommeln die nachbarn ärzte herbei
magier schamanen sogar einen zwerg
der singen kann
schaurigschöne töne für die einsamkeit

rabenrufen am abendhimmel
gottgewimmer

.

[geschrieben im Sommer 2019, Waldkirch]

kreide fressen

hinter den tellerrändern warten
die suppen die brühe
kocht
in meinem stadtviertel liest einer diogenes
alles für die tonne
ein essenstreff schließt
ein neuer öffnet
spezialität: braune soße!

ich gehe weiter
einmal um den block
der wart grüßt
barsch

beäugt er mich seit langem
wo ich wohl meine mahlzeit nehme

sicher nicht bei dir mein wolf

antianti

Und am schlimmsten war immer noch der uneingestandene Neid der Erwachsenen auf die Kinder, der sich in der Rede ausdrückt, etwas müsse so sein.

Nein: noch schlimmer als der uneingestandene Neid war das irgendwann auf ihn folgende

Bekenntnis

..

wozu auch immer

(..Waren.)

n.a.d.M.

Zwischen den Zähnen
Unter den Bäumen
Quillt es hervor
Träume
Eines unbekannten
Körpers, Sternbilder
Ohne Sterne –
Geraden
Abstrakte Unendlichkeit
Kurz vor Erfindung der Geometrie

* * *

Ein Geschehen
Dessen Eckpunkte
Wir sind und nicht sind
Kinder
Von Eltern, deren Eltern Kinder

Novemberlicht (für M.)

Die Pappelallee vergoldet.
Wortfetzen hallen
über den See.
Glitzernde Wellen
im schrägen Schein
der blassen Sonne.
Letzte Blumen
begleiten Gedanken
an den Sommer.
Fröstelnd zieht
der Boden sich zusammen,
atmend in den Nebel,
bedeckt sich mit Laub,
– wie die Jungfrau
mit dem Laken –
alt und doch wieder
unschuldig nach
getaner Ernte.
Vertrocknete Äpfel
im Geäst, bewacht
vom zeternden
Hüter den Waldes.
Rote Beeren im
hellen Grüngelb.
Vogelschar – fliehend –
mit Sehnsucht
nach Wärme.

Nov. 2019

Am Rosenberg (Sorbisch Kemnitz)

Über Berge in die Klamm geraten
Barock thront die Kirche auf dem Fels
Rosa Mandelblüte im Dezember
Kohlestaub rieselt leise durchs Fenster

Die Sonne hab ich im Nebel gesehen
Auf dem Vulkan mit vier Geistern getanzt
Weiße Dämmerungen über geklöppeltem Schnee
Haltet inne : Freunde : kehrt ein

Papierschlangen kreiseln vom Himmel
Munter murmelt das Wasser im Tal
Kleine Welten : eingekästelt von Fichten
Einer Umgebindehütte im Wald

Grün leuchten die Berge im Januar
Die Glöckchen bimmeln : wie immer
Wir wissen nicht : wie es früher war
Schön oder hart oder wunderbar

nachweihnacht

gebratene ente oder gans
der unterschied ist marginal
jedenfalls kein hähnchen
gestern war in der küche noch zärtlichkeit
im bratrohr
warten die träume

das backsteinhaus nahe der schnellstraße
hat wieder geweint
der garten legt seine plane aus licht über die alte mauer

sag nicht
dass es dich nicht interessiert
vor kurzem noch gingen wir gemeinsam in die nacht

Fische und Fahrzeuge

Der Fisch hat Stoff
Der Fisch bringt Stoff zum Menschen
Der Mensch speist Stoff

Der Mensch arbeitet
Der Mensch stellt Dinge her
Dinge aus Stoff

Dinge verteilen sich
Dinge werden erworben
Werbung wirbt

Menschen werben
Menschen heiraten

Die Dinge werden verteilt
Die Dinge verteilen sich
Und werden Stoff

Der Stoff ist ein Teil
Der Stoff wird geteilt
Teile bilden Körper

Menschen heiraten
Bekommen Kinder

Kinder wachsen auf
Kinder werden Menschen
Der Mensch wirbt

Der Mensch denkt
Der Mensch stellt Gedanken her
Wahre und falsche

Stoff zum Denken
Stoff zum Arbeiten
Arbeit an Dingen

Menschen werden Kinder
Kinder werden Menschen

Der Mensch speist Stoff
Der Mensch bringt den Stoff zum Fließen
Der Fluss wird zum Meer

vorbereitung

versehentlich
wurde ein wolf angeschossen
gestern am nachmittag
in der fußgängerzone
zwischen dem gebäude der warenhauskette und dem feinkostimbiss
erschraken die kauflustigen passanten
und fremden weihnachtsmarktbesucher
beim knall des schusses beim anblick
des blutes
verschüttete ein mann seinen glühwein
versehentlich gestern
fing es kurz darauf an zu schneien
die spur des angeschossenen tieres
führte in die tiefgarage
eine hetzjagd begann
jeder wollte als erster den wolf erlegen
vor dem festbeginn
am abend rief der bürgermeister
den notstand aus
forderte er truppen der streitkräfte um hilfe an
der örtliche fernsehsender schickte ein kameratea

grauzeiten

nun entblättert sich der baum
still ist es draußen
in der dämmerung atmen wir frieden
berühren unsere sprache
mit den küssen des fallenden regens
ich erzählte dir von den herbsttagen
der wind torkelte ums haus
und auf dem tisch lagen
gedichte von Hesse und Kästner
die sehnsucht hängt schief im raum
nächte fallen ins leere
du fragst dich
nach dem grund meiner abwesenheit

luzid

Wir spielten uns selbst und gerieten beim Sprechen in Verse.
(Peter Kurzeck)

 

die treppenstufen gezählt
21   22   23
die herzschläge
24   25   26
oben angekommen und wieder nach unten
alles noch einmal von vorne
die treppenstufen der herzschlag

am ende die müdigkeit

und schließlich fingen wir an zu leben
im häuserschatten der jordanstraße
schwammen wir stadtauswärts
auf der bockenheimer landstraße
wuchs das gras hoch über den kopf
die menschen sprachen französisch
in unserer botanisiertrommel

nur reste von gräsern und blüten

klack klack klack
schlugen die boulekugeln aneinander
und spritzten in alle richtungen
nach staufenberg lollar gießen
tachau franzensbad frankfurt uzès
wieder einmal standen wir am anfang eines neuen lebens
erst ein regen- und dann ein schneewinter *

viel später der vorige sommer und der sommer davor **

 

———————————————————————-

* aus Peter Kurzeck: Übers Eis, Roman, Frankfurt am Main (Stroemfeld), 1997
** Peter Kurzeck: Der vorige Sommer und der Sommer davor, Roman, Frankfurt a. M. (Schöffling&Co.), 2019

Im Gedenken an
 Peter Kurzeck (*10.6.1943 Tachau, +25.11.2013 Frankfurt a.M.)

S.

Tränen netzen
mein Gesicht.
So nah wie einst,
so fern doch jetzt.
Nicht mehr eigen
Fleisch und Blut.
Unbekannte Fremde,
aufgebrochen ins
Land ohne Halt.
Zerstörung des Selbst
auf unbekanntem Pfad,
jenseits von Sinn
und Verstand.
Tastend ins Nichts,
begleitet von
düsteren Gestalten,
ohne Liebe.
Verlierend das eigene Ich.
Trostlos rücklassend mich.

nachahmung

der dichter ahmt vogelstimmen nach
……
der dichter ahmt steine nach
……
                                              (aus Zbigniew Herbert, Gleichnis)

ihre textur ist seine handschrift
auf einem blatt des welkenden bergahorns
in seine rinde ritzt er chiffren der zeit
da ist eine klinge aus tönendem erz
die schneidet die glasfaserkabel und kehlen
der braunzungigen und braunzahnigen werwölfe
aus dem osten kommen sie in riesigen rudeln
da ist ein gefäß aus irdenem steinzeug
darin bewahren wir auf die schlagenden herzen unserer feinde
stellen sie aus in museen und liveshows
um nachahmer abzuschrecken
kein gedicht ist die nachahmung des todes wert

atemübungen mit lungenfischen

wir machen atemübungen mit den lungenfischen
survivaltraining im schlamm
was das anbelangt
sind sie uns voraus
mindestens 200 millionen jahre
auch beim totenkult den liedern und gebeten
lungenfische glauben nicht an ein jenseits
eine wiedergeburt oder auferstehung
ewiges leben dauert bei ihnen höchstens 100 jahre
von ihren ahnen haben sie die lungen
und die traurigen augen

lungenfische

messe ich die welt mit dem maß der lungenfische
sind drei nächte noch kein vers
sieben kein gedicht
öffne ich die tür zum totenreich für die stimmen
formen sargnägel einen fluss
heilige finsternis bleibe
verdammte finsternis weiche

atmen die lungenfische die tage
stehen sterne immer am firmament
krümmen sich ihre schatten gegen die unendlichkeit
ewig ist ein kurzes wort
wie viel länger sein sinn
GIWE
kehrst du zurück

in ein trockenes flussbett legen wir uns zu den lungenfischen
und warten auf wasser
dass es benetzt unsere lippen unsere zunge unsere stimme
dass wir singen gegen den sturm
der aus dem felsenschlund kommt
dem menschenschlund
in deinen händen hältst du die enden der welt

gib mir ein leichentuch und ich zeige dir ein grab

V.

Nicht gesehen von dir,
schmerzte,
trieb mich weiter und weiter.
Nie wirklich gekannt,
gehalten von dir,
machte mich haltlos.
Zeitlose Ewigkeiten in der
Vergangenheit,
Längst vorbei, vermeintlich,
Ruhelosigkeit bis heute.

Endlose Zeiten heute
lassen dich sehen.
Im Jetzt.
Aber das Vergessen
ist schneller
als das Verstehen.
Langsames Verschwinden,
Verblassen,
ohne Wiederkehr,
ohne Abschied.

Heimweg

Manchmal falle ich
in Zwischentöne,
die drängender hallen
als Menschen und Züge.
Gedanken sterben an Ampeln.
Wenn ich alles auf Rot setze,
zerfällt mein Kopf
über Unebenheiten
der Zeit, hält der Atem nicht inne
über unerledigten Dingen.

Manchmal stoße ich
ans Innere der Müdigkeit.

_ _ *

Das Perfide an der Rede vom Krieg der Geschlechter ist der Umstand, dass die Männer ihn erfunden haben. Frauen hätten also überhaupt nur eine Chance, ihn zu gewinnen, wenn sie ihn sich zu eigen gemacht hätten. Sie taten das, indem sie ihre Nachkommen als Waffe einsetzten. Aber: „… niemals nur als Mittel, immer auch als Zweck.“ (Kant) So kam es, dass sogar die Menschheit als Ausdruck des Bedürfnisses, sich seines Verstandes ohne Leitung durch einen anderen zu bedienen, in Verruf geriet. Stattdessen bräuchte es einen weiblichen Arminius, der das männliche Imperium zu stürzen als seinen Stern über sich hängen weiß.

Mandellikör

Du wolltest nicht zahlen.
Der Klempner kam nicht. Der
alte Gigolo, und wir
badeten in
der Wanne
aus den Fünfzigern,
deren Rand
bereits braun war, aus
der wir die Füße
über den Rand baumelten,
damals, in unserer
Wohnung mit dem
Teppich im engen Flur,
du sagtest,
ich mach jetzt
was Tolles,
und gingst noch mal
um kurz vor Sechs,
im Winter, bei Dunkelheit
in den Discounter, um vorne,
ziemlich weit vorne im
Regal unten links zwei
Flaschen Faber zu greifen
und auf meinem Bett
zu zerschlagen, aber –
für die Wanne kauftest du
Mandelliqueur.

Nothhaas trifft Kohlhaas im Himmel

erinnerung : vater johannes

– Wir sollen das Dehnungs-h abschaffen.
– Was? Nein. Das geht nicht…
– Kolhaas, ich soll es dir sagen.
– Wer schickt dich?
– Er.
– Und Sie?
– Weiß davon.
– Ah – äh – aa. Aha. (Pause) Und die doppelten Selbstlaute?
– Kommen erst mit Hofmanns Erzählungen dran.
– Warum?
– Kleist.
– Das verstehe ich nicht.
– Erst müssen Sie die Unmöglichkeit der Mitlautverdopplung begreifen.

Ilo

Sie war das Paradies mit der Welt die sie erschuf.
Sie war das Paradies.
Sie war das Para dies.
Sie war das Paradies mit der Welt die sie erschuf.
Sie war das Königreich.
Sie war der Boden, der herabfallende Stern.
Aus ihren Lippen brach die Musik.
Aus ihren Augen sprachen Herzen.
Sie war das Königreich der Sonne.
Des herabgleitenden Gletschers, aus tiefsten schneeweißen Bergen.
Sie ist die glitzerndste Träne im Sternenteich.
Sie war das Paradies mit der Welt die sie erschuf.