Self-help First

Der alte Mann liegt mitten auf dem Weg.
Wie’s aussieht, gut rasiert und situiert.
Was ist dem armen Kerl denn bloß passiert?
Und hat der denn dafür ein Privileg?

Wie peinlich, geht es dir durchs Hinterhirn.
Das tut man einfach nicht. Was denkt der sich?
O Gott, das ist ja fast schon unmenschlich!
Liegt hier herum in seinem feinen Zwirn.

Wenn man schon mal die Erste Hilfe braucht!
Vom Rettungswagen weithin nichts zu sehn.
Wär wohl das Beste jetzt, man würde gehn,
man fühlt sich von dem Anblick bloß geschlaucht.

Blickst noch mal hin und überlegst dann kurz:
Kein Blut. Ein Unfall kommt nicht in Betracht.
Der liegt in tiefem Schlaf! Bis der erwacht!
Entscheidest dich: Tangiert dich keinen Furz.

Ein kurzes Weilchen stehst du noch herum
und tust dann das, was hier noch jeder macht.
Was soll’s, wen kümmert denn die Niedertracht:
Steigst drüberweg und siehst dich nicht mal um.

Replik zum Nutzen der Kunst

Hallo Rapunzel, was stellen Sie uns denn hier ein? Das Geschwafel, eines bürgerlichen Bildungsprotzes, das noch nicht mal zu einem Prozent wirklich etwas zum Nutzen oder Nichtnutzen der Kunst auf wissenschaftliche Weise sagt. Die Stoßrichtung, obwohl etwas versteckt, ist klar: gegen die DDR. Eine Anhäufung von Gefühlchen, Vermutungen und Diskreditierungen. Die Wissenschaft von der Kunst sieht eben anders aus, als sie sich dieser Olbertz vorstellt. Was er schreibt, entspricht etwa dem Bildungsgrad des Abiturienten mit Auszeichnung eines bundesdeutschen Gymnasiums. Leider nicht mehr. Von einem Herrn, der sich anmaßt, den Titel Professor zu tragen, wird in informierten Kreisen eben etwas mehr als nur dieses kleinbürgerliche Geseire erwartet.

Ich selbst bin der Ansicht, obwohl keine Professorin, dass jede Kunst den Atem der Zeit ausdrückt.
Und wenn die politische Welt nach rechts rückt, rückt auch die Kunst nach rechts. Bekannt ist das Wort Lessings: „Die Kunst geht nach Brot.“, womit ausgedrückt wurde von ihm, dass die Kunst keinen monetären Profit bringt, den sie aber selbst nötig hat, um überhaupt als Kunst existieren zu können.
Wirkliche Kunst dient dem Menschen, sie stärkt das noch in jedem Kind vorhandene humanistische Potential und kann es zur Reife bringen. Nutzlose Kunst ist die, die den gesellschaftlichen Fortschritt in Richtung Humanismus behindert oder gar verhindert. Wenn also der Herr Professor indigniert anmerkt, in der Humboldt-Universität seien noch Reste des sozialistischen Realismus vorhanden, entpuppt er sich als reaktionärer Konservativer, dem es am liebsten wäre, es gäbe nur den reaktionären Konservatismus auf der und sonst nichts. Über die „Erkenntnisse“ solcher Herrschaften zu reden ist überflüssig. Man geht zur Tagesordnung über und macht Kunst, die die Menschen menschlicher macht.

Die Intrigantin (2 Stanzen)

Die Intrigantin (2 Stanzen)

Wem ist solch Frauentyp noch nicht begegnet,
der immer nur das Böse will und intrigriert,
und wenn man dem ein Widerwort entgegnet,
wird es sogleich ins Gegenteil frisiert –
ein übles Weib, dem’s in die Suppe regnet,
das liebend gern die andern kommandiert?
Das kollert nichts als nur gestanztes Blech,
und wem es übern Weg läuft, der hat Pech.

Man sollte diesen Frauentyp schnell meiden.
Man geht ihr aus dem Weg, sofern man kann.
Und ist man klug und außerdem bescheiden,
spürt man im Nu, die mimt hier den Tyrann
und kann nur Stiefelküsser wirklich leiden,
vom selben Schlag, egal, ob Frau, ob Mann.
Wer seine Zeit mit der nicht will vergeuden,
der pflege andern Umgang und in Freuden

Leben spüren

Leben immer nur Traum,
hin zu den Meeren, den Bergen
im Schnee, zum stillen See
in verschwiegener Landschaft,
in die Ebenen weit.

Hier das Häusergrau,
die Hektik des Straßenverkehrs,
das Pseudodasein im Großraumbüro,
die ehernen Marktgesetze,
seltsam fremd fühlst du dich.

Du trittst neben dich,
begreifst das Irrationale des Heute,
dein ungelebtes Leben, bohrend
der Verdacht, dass die Welt
dir etwas vorenthält.

Du vergräbst dich in die Suche,
ahnst etwas von der Größe und der
Kleinheit des Lebens, grübelst
und kommst zu keinem
Ergebnis.

Erst der Schatten
eines herbstlichen Ahornwalds
belehrt dich, und schmerzhaft
erinnerst du dich der Abendsonne, rot
wie deine Sehnsucht ins Freie.

8´ libre

Du hast mich mit Jil Sander –
da ich hatte Clandestine Liebe liber –
bestraft wie meine deine wettergöttin wasser
wild –

Dein Jackett war schwarz aus
schwärzer noch als die
Tremoloperlen Lust auf
Schalen Lack
auf der Scheibe –
in Genuss vor dir – tier.

an – aus.

Du hast mich nicht
oft im grünen (wie palmengärten)
geführt, nicht schlenderte ich
so leicht, verlegen war,
Konfetti, Glitzer, Zeit auf Schritt
lang, vor, zurück, kurz, hin-
weg, und weit weiter weit –

schöne marie mit der goldenen scheibe.

pracht du warst die schönste hier
und nicht, aber auch wirklich nicht -s-
jenzeits deiner goldumflorten sonnigen berge
konnte, war, siebenmal haare, ein kreis sein –
aus korn
und kammer

und brei mit löffel drin
gekocht noch schöner
sonor cooler
collar – colour – in unseren an unserem
mund, lippen, augen
brauen und flog schatten,
als mit dir-

du hast dir Jil Sander auf die
Haut gesprüht
als die morgensonne silbern schien
wie eine scheibe, und die laken
an deinen tentaklen
ich vergaß, verzeih, ein halbes,
ganzes bis mittag
mich dahin

über glatten lichten bühnen
dünen nicht aus sand
aus licht waren

goldene worte marie

glutähnlich
rot und golden
nicht von hier nicht vom sand vom wasser
und nicht mehr geschwungen gezogen
nicht die passenden
nicht für deine füße
mit dem eck-zahn-förmi-gen

mintnichten minzegrün
schöner noch als Clandestine
für meine valentin-
-e- liegt komma, koma-
tös – bom-bast-ulös
Jil Sander 6/& Clandestine
ein – ein halb mal
schleife, armreife, umgreife
lieb- liegt- au fond – auf und in der scheibe – liegt –

aufond de

la

bal

let

Au
fond ce

sont deux langues
différentes

en tout

Rapunzels Pläsier

Sie reden viel zu viel, meist über nichts.
Da staut sich irgendwas, das muss jetzt raus!
Das reißt den Schnabel auf, hofft auf Applaus
von wegen seines innern Gleichgewichts.

Sie sind aufs viele Reden schwer erpicht,
begeistern sich wie wild an dem Erguss
und wissen selber doch, es ist bloß Stuss.
Egal, Sie sind gemacht fürs Rampenlicht.

Es klingt so schön, sie hören selbst sich zu,
sind auch noch ausgesprochen sattelfest,
wenn schon der letzte Hörer Sie verlässt.
Doch schweigen – nein, das ist für Sie tabu.

Nun wäre es ja mal nach etlichen Rezepten, Binsenweisheiten und Zitaten angebracht, wenn Sie mal in Ihrer Inspiration graben und ein, zwei selbstgeschöpfte Sätze von sich geben würden, Verehrteste. Oder fühlen Sie sich dazu nicht in der Lage, hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Wäre schön, hier würden einige aufatmen können.

Du hast die Kommentare feige deaktiviert. Aber ich möchte dir trotzdem mitteilen, verehrte Rapunzel, dass du völlig recht hast: Was du hier einstellst, das ist profan. Und ich füge hinzu: Ausgerechnet Sie haben es nötig, Verehrteste, hier über Profanität zu schwatzen. Sie haben doch alles getan, dass dieser Blog profan wurde! Sie sollten sich schämen für diese bodenlose Heuchelei!

Da war doch was

Wie nichts fällt uns die Zeit so durch die Hände.
Man blättert den Kalender um und staunt:
Schon wieder ist ein ganzes Jahr zu Ende!
Man denkt ans Geld und ist gleich mies gelaunt.

Es wird sortiert, die mürben Fetzen fliegen,
man macht im Lebenshause Inventur.
Den großen Rest, den lässt man besser liegen –
so ist der Mensch in seiner Grundstruktur.

Dann blickt man in die Politik und schauert.
Der eingelatschte Stiebel triumphiert.
So mancher fragt, wie lange das noch dauert,
doch oben wird jetzt tapfer durchregiert.

Wer keine Bleibe hat, lebt unter Brücken,
der ist die Sorgen mit der Miete los,
schleppt seine Last des Lebens auf dem Rücken,
genießt die deutsche Freiheit ohne Moos.

Die Alten lässt man in der Suhle liegen,
die merken nichts mehr, die sind ohne Wert.
Die mümmeln bloß von längst vergessnen Kriegen
und wie es war an Mutters Küchenherd.

Wir andern aber trösten uns mit Hoffen,
vertrauen treu auf Gott und die Regierung.
Ein wenig, weiß man, bleibt da immer offen,
doch braucht man das als eigne Selbstgarnierung.

Nun ja, dies Jahr ist uns nun auch gestorben.
Wie alles, das sich nicht sehr lange hält.
Das hat der böse Putin uns verdorben.
Und doch, noch hält sie ja, die Erdenwelt.

Reisen bildet eben doch

Vorausgesetzt, er hat ein bisschen Geld,
das leider, leider nicht vom Himmel fällt,
dann kommt der Deutsche ziemlich weit herum:
Er reist. Und dafür legt er sich fast krumm.

Gesamtdeutsch reist er durch die ganze Welt.
Die Mauer weg, die man ihm hingestellt.
Ihm blieb bloß Ungarn, was für eine Schmach!
Wobei es ihm recht oft an Geld gebrach.

Heut so wie jedermann schwimmt er in Geld,
heut reist und reist er um und durch die Welt.
Heut kann er reisen, und das Herze lacht,
das Reisen ist ihm eine Himmelsmacht!

Der Deutsche ist recht gerne ein Tourist.
Und muss es sein, ist er auch Alpinist.
Doch ach – sein Thailand, wo er neulich war!
Dort war bereits er mehrmals auffindbar.

Genau weiß er, wie’s auf Mallorca schmeckt,
dort hat er manches Herzchen abgeschleckt.
Der Strand ist seiner, ist doch sonnenklar!
Demnächst fliegt er bestimmt nach Miramar.

Nur auf Tahiti war er bisher nicht.
Steht im Kalender, echte Mannespflicht!
Muss sich mal wieder in Paris umsehn,
die Stadt ist ja so wunder-, wunderschön!

Paris ist unter Städten sein Olympia,
und ausnahmsweise liegt es günstig nah.
Und was das Essen angeht: Exklusiv!
Davon schwärmt er gewaltig positiv.

Das nimmt dem Manne keiner: Er kommt rum.
Bloß, manchmal wird’s ihm einfach doch zu dumm.
Denn fragt man ihn, was in der Welt er sah,
dann winkt er ab, meint mies gelaunt: Aaa-ha!

Amtliches

Ich kenn ein Haus, das hat so viele Fenster.
Wer reingeht, wird stracks von der Welt verdammt.
Dort hausen schreckliche Papiergespenster –
Sie ahnen’s schon: Es ist das Arbeitsamt.

Die oben sagen: Prima Arbeitslage!
Weshalb das Amt auch meistens überfüllt.
Das kommt, das weiß man ohne Gegenfrage,
weil man dort alle Wünsche eifrigst stillt.

Nicht oft genug kann man das Amt nur loben.
Wer rauskommt, hat die Stelle schon in petto,
er schwenkt Bescheide freudig hocherhoben
und summt ein Hoheliedchen im Larghetto.

Auch ist Hartz IV Millionen eine Wohltat,
wenn’s mit der Stelle nicht gleich klappen tut.
Laut Grundgesetz herrscht hierorts der Sozialstaat
mit allem Drum und Dran und absolut.

Wer jetzt noch meckert oder Aufstand predigt,
der ahnt nicht, wie das Arbeitsamt ihn hebt.
Der ist für Wohlstandsbürger glatt erledigt,
der hat für die doch fast umsonst gelebt.

Das Testament der Gräfin Ulrike, Kapitel 7

Kapitel 7

Ein Taxi fuhr vor dem Schloss vor. Eine junge, sehr schlanke Frau entstieg ihm, einen Handkoffer als Gepäck, das blonde Haar hing ihr strähnig über die Schulter. Marietta stand vor der Schlosstür und beobachtete die Angekommene skeptisch. Eine Nicht der Gräfin?
Gewöhnlich, dieses Weib war ordinär, entschied sie. Instinktiv fühlte sie Abneigung gegen die Besucherin.

„Willst du mir nicht den Koffer abnehmen?“ Daniela, denn um sie handelte es sich, war wütend: Die Gräfin nirgends zu sehen, dafür eine Dienstmagd als Empfangsdame. Ein schöner Empfang! „Wo ist denn die Frau Gräfin?“, fragte sie aufgebracht. „Ich habe ihr doch geschrieben, dass ich komme!“

Marietta musterte schweigend den Gast. Ein billiges Kostüm, abgetretene Pumps, ordinäre dicke Ohrringe. Irgendwas gefiel ihr auch an dem Gesichtsausdruck Danielas nicht. Ihr Urteil stand fest: Mit der ist nicht gut Kirschen essen.

***

Gräfin Ulrike warf einen prüfenden Blick auf die unbekannte Nichte, die am Tisch Platz genommen hatte. „Du bist also Daniela, die Tochter meines Cousins Eduard. – Mein Beileid“, fügte sie hinzu. „Damals habe ich deinen Vater sehr gemocht. Aber das ist lange her. Seitdem haben wir uns nicht wiedergesehen. – Aber nun bist du statt seiner gekommen, Kind“, fügte sie freundlich hinzu.

„Tante Ulrike, ich habe doch nur noch dich auf der Welt.“ Daniela betupfte sich mit einem nicht mehr ganz sauberen Taschentuch die Augen.

„Komm her, Kind.“ Die Gräfin zog die Nichte an sich. „Es ist traurig, wenn man so allein in der Welt steht, ich weiß. Ich kann deine Tränen sehr gut verstehen. Erzähl, wie lebte dein Vater? Und deine Mutter? Sie lebt wohl auch nicht mehr?“

„Meine Mutter war die geborene Baronin Altstetten, sie ist gestorben, als ich drei Jahre alt war. Vater hat unser Schloss verkaufen müssen, und wir haben in der Stadt gelebt, in einer sehr engen Wohnung, eher einer Kammer, Tante Ulrike!“

„Ach, Kindchen, da ist dir ja schon in jungen Jahren sehr viel Leid begegnet“, sagte die Gräfin mitfühlend. „Aber jetzt“, sie blickte zur Tür, die einen Spalt offenstand – „jetzt bleibst du bei mir, solange es dir gefällt. Und dass du einmal meine Haupterbin sein wirst, wird dich nicht verwundern, das ist dir sicher bekannt?“

Danielas Augen leuchteten einen kurzen Moment auf. Der Gräfin entging es nicht.

„Marietta!“, rief sie. „Stell mal etwas auf den Tisch. Meine Nicht Daniela wird nach ihrer Reise ausgehungert sein.“

Marietta trat durch die Tür mit verräterisch roten Wangen. „Wir haben nur noch Braten von gestern“, sagte sie unwirsch.

„Nun, dann bringst du den Braten von gestern.“ Die Gräfin lächelte. „Was stehst du noch herum? Daniela fällt mir noch in Ohnmacht vor Hunger!“

Marietta verschwand. Die Gräfin wandte sich wieder ihrer Nichte zu. „Marietta ist altes Schlossinventar, ihre Mutter hat schon den Eltern meines Mannes gedient. Eine Dynastie von Köchinnen. Ein bisschen neugierig, aber das“, die Gräfin lachte hell auf, „sind wir alten Frauen alle. Ich würde gern wissen, Daniela, wie du dir die Zukunft vorstellst. Gibt es jemandem in deinem Leben, der dir nahesteht?“

Daniela antwortete nicht sofort. Zögernd sagte sie dann: „Im Moment nicht. Aber ich denke durchaus daran, nicht allein zu bleiben, Tante Ulrike. Ich hoffe, mit deinen Beziehungen zu den ersten Familien eine gute Partie finden zu können. Einen Gatten, der auch in diesem Schloss …“

Die Gräfin fiel ihr ins Wort: „Damit wird es wohl nichts werden. Ich stehe in Verhandlungen, das Schloss zu veräußern, Daniela. In diesen Mauern werden nach meinem Tode nur noch die Mäuse und der Kunstverein nisten. Du musst dich schon nach einem anderen Quartier umsehen, so leid es mir tut.“

„Ach“, Daniela blickte zum ersten Mal der Tante ins Gesicht, „das habe ich nicht gewusst, ich dachte …“

„Du bist und bleibst, wenn alle deine Papiere stimmen, die du mir noch vorlegen wirst, meine Nichte und Haupterbin. Aber mit dem Schloss, versteh mich, habe ich anderes vor. Halb und halb habe ich es dem Kunstverein bereits übergeben.“

Daniela schoss einen unfreundlichen Blick auf die Gräfin. „Natürlich“, beeilte sie sich zu sagen, „natürlich, Tante Ulrike, das Schloss gehört dir, ich habe mich da nicht einzumischen.“ Der Gräfin entging das verdrossene Gesicht Danielas nicht.

Warum nicht mal verreisen?

An manchen Tagen ist mir nach Verreisen,
da will ich von der schönen Welt was sehen,
da will ich fremd durch fremde Straßen gehen,
mir irgendwas vielleicht noch mal beweisen.

Wohin ich will? Ich habe keinen Schimmer.
Doch etwas zerrt an mir herum seit Jahren:
Noch niemals warst du auf den Balearen!
Was dafür gut ich kenne, ist mein Zimmer.

Mein Sitzfleisch aber flüstert: Bleib zu Hause,
man kann auch ohne fremde Städte leben.
Doch ein Gefühl sagt mir: Du träumst daneben,
dein Leben macht doch täglich bloß noch Pause.

Man müsste, ja man müsste mal verreisen,
gewohnte Welt auch mal von außen sehen.
Es kann ja sein, man würde sie verstehen
und nicht bloß um die eigne Achse kreisen.

Das Testament der Gräfin Ulrike – Kapitel 6

Joshua hatte sich das Vertrauen der Gräfin Ulrike erworben in den zwei Jahren, die seit seinem Ankommen im Schloss vergangen waren. Die Gräfin war bezaubert von dem jungen Mann. Ihr Park war ein Park aus dem Bilderbuch geworden. Jeden Nachmittag ließ sie sich von Marietta den Stammsessel ans Fenster rücken und sah stundenlang hinaus. Nicht wiederzuerkennen das einst so heruntergekommene Kleinod ihres verstorbenen Mannes. Und das alles dank der Tatkraft dieses jungen Menschen, den sie viel zu schlecht bezahlte.

Gräfin Ulrike saß nachmittags am Tisch, über Papiere gebeugt. Ach, das Testament! Sie würde es ändern, der junge Joshua sollte auch noch bedacht werden. „Joshua! Bitte komm doch mal!“ Marietta steckte den Kopf zur Tür herein. „Joshua ist im Wirtschaftsgebäude, ich hole ihn, Frau Gräfin!“

Joshua kam, mit Gärtnerschürze und zünftigem Strohhut. Er wischte sich die Hände an der Schürze ab.

Gräfin Ulrike überkam jedesmal, wenn sie ihn anblickte, eine Wärme, die sie sich nicht recht erklären konnte. War es die stattliche Gestalt des jungen Mannes, seine Bescheidenheit oder dieser offene, ehrliche Blick? Inzwischen war die Gräfin zum Du übergegangen, sie brachte es nicht über die Lippen, Joshua noch weiter mit Sie anzureden, das so viel Abstand schaffte. Manchmal sogar hatte sie den Eindruck, dass Joshua mehr und mehr ihrem verunglückten Sohn ähnelte. Ein mütterliches Gefühl überkam sie dann, und am liebsten hätte sie ihn in die Arme geschlossen, wie sie es einst mit ihrem kleinen Sohn getan hatte.

„Joshua, ich habe beschlossen“, begann die Gräfin, „dich in mein Testament aufzunehmen. Muss aber noch notariell festgelegt werden. Du fährst mich in die Stadt, zu Notar Wettlinger, zu meinem alten Freundfeind. Er wird überrascht sein!“ Sie lachte.

Noch überraschter, als der Notar sein würde, aber war Joshua. „Frau Gräfin“, stotterte er, „das ist doch nicht nötig. Sie bezahlen mich doch gut!“

„Nicht gut genug, Joshua! Keine Widerrede! Was ich beschlossen habe, wird getan. Wann passt es dir? In einer Stunde?“

***

Joshua ließ den Motor des goldmetallicfarbenen Mercedes laufen. Die Gräfin, von Marietta gestützt, erschien an der Schlosstür. Joshua sprang aus dem Wagen und riss die Tür auf.
Während der Fahrt beobachtete die Gräfin den jungen Mann. „Ich sollte dir eine Chauffeursmütze kaufen“, sagte sie spitzbübisch, „sie würde dich bestimmt gut kleiden.“

Der Notar Dr. Wettlinger machte gute Miene, obwohl sie ihm schwerfiel. Wie oft wollte die Gräfin Rheinstein noch ihr Testament ändern? Zugunsten dieses jungen Schnösels, den sie wer weiß wo aufgegriffen hatte? Das sollte einer verstehen! Nun gut, dachte er sich dann, jede Änderung bedeutete zwar Schreibarbeit, doch jeder Handschlag erhöhte auch seinen Verdienst.

„Ich hoffe, dies war das letzte Mal, lieber Dr. Wettlinger“, sagte die Gräfin, entschuldigend lächelnd, als sie sich verabschiedete. „Nicht böse sein. Ich habe eben so meine Vorstellungen vom Umgang mit zuverlässigem Personal.“
Als sie im Schloss ankamen, lag die Post auf dem Tisch der Gräfin. Ihr Blick fiel auf den obersten Brief: „An die Gräfin Ulrike von Rheinstein“. Ungeduldig schlitzte sie das Kuvert mit dem kleinen goldenen Brieföffner auf. Der Brief bestand aus einem Blatt und war handschriftlich verfasst.

„Liebe Tante Ulrike“, las sie voller Verwunderung. Tante Ulrike, Tante? Sie hatte doch überhaupt keine Verwandtschaft mehr!

„Mein Vater“, las sie, „hatte mir vor seinem Tod ans Herz gelegt, mich unbedingt bei Dir zu melden. Ich bin die Tochter deines Cousins dritten Grades Eduard, von dem Du Dich vor Jahrzehnten getrennt hattest, wie er mir sagte. Das aber soll kein Hinderungsgrund für mich sein, eine Blutverwandte dennoch aufzusuchen. Ich komme am Zwölften des Monats nach Rheinstein, und dann erkläre ich Dir alles. Deine Dich liebende Nichte Daniela.“

Der Brief fiel der Gräfin Ulrike aus der Hand. Cousin Eduard, natürlich, an ihn konnte sie sich sehr gut erinnern, wenn auch viele, viele Jahre vergangen waren. Damals hatte er um ihre Hand angehalten, aber aus der Heirat wurde nichts. Sie konnte sich heute kaum noch an die Gründe erinnern. Waren eigentlich die Eltern gegen diese Verbindung gewesen? Nein, sie wusste es nicht mehr. Aber etwas war dazwischengekommen, etwas sehr Unangenehmes. Damals, erinnert sie sich, hatte sie geglaubt, ihr Leben sei zu Ende. Sie hatte sogar Hand an sich legen wollen. Aber dann hatte sie den Grafen Rheinstein auf einer Soiree kennengelernt, und nicht lange danach waren sie verheiratet gewesen.. Eduard hatte ihr das niemals verzeihen können und sich nie mehr bei ihr gemeldet, die Familien hatten sich aus den Augen verloren, und die Gräfin dachte nie mehr an Eduard, die verflossene Liebe. Also eine Tochter hatte er, diese Daniela. Gut, sollte sie kommen. Dann musste Notar Dr. Wettlinger eben nochmals das Testament ändern. Gräfin Ulrike seufzte.

Aber dass der Kunstverein das Schloss und einen Teil ihres Vermögens bekäme, dafür würde sie schon sorgen! Und Marietta und Joshua sollten auch nicht vergessen werden, egal, wie diese Nichte dritten Grades dazu stehen würde.

Die Treppen der Orangerie

(Versailles)

Wie Könige die schließlich nur noch schreiten

fast ohne Ziel, nur von Zeit zu Zeit

sich den Verneigenden auf beiden Seite

zu zeigen in des Mantels Einsamkeit,

so steigt, allein zwischen den Balustraden,

die sich verneigen schon seit Anbeginn,

die Treppe:langsam und von Gottes Gnaden

und auf den Himmel zu und nirgends hin

(…)

 

R.M.Rilke

 

Was von der Rose blieb

Nicht meine Schuld,
dass die Schönheit lackierten Larven
gewichen, dem willigen Leugnen –
wer klug, schweigt sich aus der Welt,
hinter die Wand der Wörter.

Lichtlos gehen die Tage,
das kostbare gute Wort in der Schleuder
des Schlussverkaufs, und die Grimasse
jedes lächelnden Menschen
hat ihren Preis.

Wie sie wiederfinden
in dieser Welt zertretener Seelen,
jene Schönheit des Wirklichen, ohne die
selbst die prachtvollste Rose
zum Scheusal wird.

Rauhreif

Wie wird das Licht vor den Bergen vom Rauhreif
Zerstreut : als schaute ich auf eine Wüste : die kahlen
Bäume verdorrt : doch hier ist es kalt & schön

Als Silberfaden zieht sich der Fluß durch
Die Landschaft : eine Frau aus Arak : dreifache Mutter
Hört Musik voller Sehnsucht : die Töchter

Lernen das lateinische Alphabet : mit Buntstiften
Füllen sie Buchstabenkonturen aus : auf vergilbten
Bättern : die ausgebreitet auf dem Tisch liegen

Wie eine vom Rauhreif überzogene
Landschaft : die ich
Ausmale mit meinen Buntstiften

Das Testament der Gräfin Ulrike – Kapitel 5

Das Zimmer ging auf den Park hinaus. Die Zweige einer riesigen Buche reichten bis an das Fenster heran. Joshua Wegner hatte beide Flügel weit geöffnet und blickte in die Weite des Parks. Rechter Hand lag ein Wirtschaftsgebäude, das einer Scheune glich, mit einer riesigen Toreinfahrt. Vor ihm lag eine Wiese, die anscheinend lange nicht gemäht worden war. Die Baumgruppe zur Linken sah auf en ersten Blick gesund aus. Eichen, eine überwältigende Muttereiche, ein paar jüngere Bäume standen in weitem Abstand von ihr. Ein ausladender Solitär überschattete die Mitte der Wiese.

Das Zimmer war bescheiden eingerichtet: das Bett, ein dunkler Bauernschrank, ein quadratischer Tisch, zwei Stühle, ein leeres Bücherregal neben er Tür. Joshua musterte sein neues Domizil. Gut, dass es auch ein Telefon gab.

Er räumte ein paar Kleidungsstücke in den Schrank. Wie schnell sich doch seine Lage verändert hatte! Seit dem Gespräch mit der Gräfin kam er aus dem Staunen nicht heraus.
Gestern noch hatte er auf der Couch eines Freundes geschlafen, ohne Aussicht auf einen Verdienst, ohne Ziel, ohne Hoffnung. Und die Glücksfee hieß Baronin Lichterfeld. Er hatte sie zufällig bei Aushilfsarbeiten im Garten ihrer Villa getroffen. Sie hatte sich auffällig für den gutaussehenden jungen Mann interessiert. Und so erfuhr sie von seinem Dilemma: keine eigene Wohnung, keine StellungSie hatte trotz ihres Alters ein bisschen mit ihm geflirtet, und Joshua hatte mitgespielt. Und nun saß er hier in diesem Zimmer – in einem richtigen Schloss! – und wusste noch immer nicht, wie ihm geschehen war.

Es klopfte an der Tür. Er öffnete. Marietta stand schweratmend im Flur. „Sie sollen gleich mal zur Gräfin kommen, hat sie gesagt.“

Joshua warf einen schnellen Blick in den Spiegel: Alles in Ordnung. So konnte er sich vor der Gräfin sehen lassen. Er rückte die Krawatte zurecht, die er sich ausnahmsweise mal umgebunden hatte

***

Marietta hantierte am Herd. Ihr Sohn Jochen lümmelte am Küchentisch.

„So, sie hat ihn also als Gärtner eingestellt“, sagte er. „Warum hat sie mich nicht gefragt? Den Gärtner hätte ich ihr genausogut abgeben können. Eher, als dieser studierte Laffe!“

„Sie hat dich aber nicht gefragt. Und du weißt, warum.“ Resolut stellte Marietta einen dampfenden Topf auf den Tisch.

„Weil du mich bei ihr schlechtgemacht hast! Die eigene Mutter!“

„Gar nichts habe ich gemacht. Du selbst hast dich bei ihr schlechtgemacht. Meinst du, sie hat nicht bemerkt, wie oft du sternhagelvoll warst? Und wie oft du einfach nicht gekommen bist? Als du den Rasen mähen solltest, tat dir der Rücken weh, und seitdem wächst und wächst das Unkraut. Sieh ihn dir an, es ist eine Schande. Noch nicht mal die Probezeit hast du überstanden. Der Neue, der Joshua, tut mir jetzt schon leid. Die Gräfin hat es gut mit dir gemeint, weil du mein Sohn bist. Aber irgendwann ist jeder mit seiner Geduld am Ende, das musst du einsehen.“

„Joshua heißt er also, der Kerl.“ Jochen pfiff durch die Zähne. „Dass diese studierten Heinis immer so blödsinnige Namen haben. Als ob sie was Besonderes wären.“

„Für seinen Namen kann er nichts. Er ist ein anständiger junger Mann – jedenfalls anständiger als du! Und außerdem ist es ein Name aus der Bibel. Und nun lass mich allein, ich habe zu tun, du Nichtsnutz!“

Maulend erhob sich der so Angeredete, schlurfte zur Tür und schlug sie hinter sich mit einem Knall zu.

Unnatürliche Balz

Er sah Wege. Das Haus von Onkel Albert und Tante Viola, sein Elternhaus. Wenn das Licht im Raum hell ist, wirkt der Abend vor dem Fenster dunkler als er ist. Es hilft, das Licht zu löschen und die Augen für eine Weile der Färbung des Himmels auszusetzen. Das Wetter schlägt um, der Ton eines zuletzt auffliegenden Vogels, ist es die Feldlerche, sie erscheint morgens, vor dem Aufwachen.

Er ahnt vielleicht schon, was ich daraus machen werde. Damit wir uns besser verstehen und es mir gut gehen wird, stellt Eduard Milch und Obst und rote Paprika auf den Tisch. Er hat den Charme und gleichzeitig die Sprödigkeit, die mich das aushalten lässt. Du bist meine Zukunft, sagte er, neulich.

Und wieder hatten sie einen von ihnen zu Grabe getragen. Auf einer Bank sitzen, im Park einer Klinik, und zu warten, bis der jüngste Sohn herauskam und vorerst genesen war, das war es.

Trotz alledem!

Das war die Zeit der Tollität,
trotz Lenin, Marx und alledem!
Nun aber, da es rückwärts geht,
nun ist es kalt, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem –
trotz Modrow, Krenz und alledem –
ein wüster, rauer Wendewind
durchfröstelt uns trotz alledem!

Wer standhaft blieb und Leninist,
ließ es geschehn trotz alledem!
Nun war er plötzlich Konformist,
trieb mit dem Wind, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem –
trotz PDS und alledem –
ein wüster, rauer Lügenwind
durchfröstelt uns trotz alledem!

Und ob auch blühte der Verrat,
wir sind noch da trotz alledem!
Trotz Kapital und Merkelstaat,
nun kommt die Zeit, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem –
trotz Konfusion und alledem –
nicht lange schweigen wir noch blind!
Unser die Welt, trotz alledem!

25.12.16

Das Testament der Gräfin Ulrike – Kapitel 4

Der junge Mann, den Baronin von Lichterfeld zur Gräfin Ulrike geschickt hatte, klopfte schüchtern an das Schlossportal. Er war groß gewachsen und breitschultrig, hatte ein kluges Gesicht unter dichtem vollem Blondhaar. Als niemand öffnete, betätigte er noch einmal den Türklopfer, diesmal aber energischer. Er vernahm ein Schlurfen hinter der Tür, sie wurde einen Spaltbreit geöffnet.

„Sie wünschen?“ Marietta musterte den Ankömmling von Kopf bis Fuß, machte aber keine Anstalten, ihn einzulassen.

Der junge Mann räusperte sich. „Baronin von Lichterfeld schickt mich. Sie hat einen Termin mit der Gräfin Rheinstein vereinbart.“

„So?“ Marietta stemmt die Arme in die Hüften. Nachdem sie ihre Musterung beendet hatte, sagte sie großmütig: „Na, dann kommen Sie mal.“ Sie ging voran.

„Wie heißen Sie? Joshua Wegner? Mein Gott, was für Namen die jungen Leute heute so verpasst kriegen!“

Instinktiv sagten ihr der verschüchterte Anblick des jungen Mannes und der Rucksack, den er sich über die Schulter geworfen hatte, dass er nichts auf der Freitreppe verloren hatte, weshalb sie ihn den Dienstbotenaufgang hinaufführte. Sie klopfte an die Tür zum Salon. Keine Antwort von drinnen, kein Geräusch.

„Ich sehe mal nach. Vielleicht schläft die Frau Gräfin. Sie warten hier, junger Mann!“

Marietta verschwand hinter der Doppeltür. Joshua Wegner blickte betreten zu Boden.
Minuten später öffnete sich die Tür. „Bitte, Sie dürfen eintreten“, sagte Marietta mit übertrieben einladender Geste.

Gräfin Ulrike, die in der Tat ein wenig geruht hatte, saß schon wieder in ihrem ausladenden Stammsessel. Der junge Mann verbeugte sich.

„Ah, Sie sind der freundliche Mensch, der mir im Park zur Hand gehen will“, sagte Gräfin Ulrike. „Das ist aber schön von Ihnen, ich freue mich, dass Sie so schnell vorbeigekommen sind.“ Sie reichte ihm die Hand. „Leider fällt mir das Laufen schwer. Baronin von Lichterfeld hat Ihnen sicher gesagt, dass ich Sie deshalb öfter in die Stadt schicken werde? Und wie heißen Sie? Erzählen Sie. Und nicht so schüchtern, ich fresse Sie nicht, junger Mann.“

„Joshua Wegner, ich habe Agrarwirtschaft studiert, bis jetzt aber noch nicht die passende Stellung für mich gefunden. Im Moment bin ich, ehrlich gesagt, sogar ohne Stellung. Aber ich habe Zeugnisse mitgebracht …“

Die Gräfin winkte lächelnd ab. „Schon gut, ich glaube Ihnen, ich brauche keine Zeugnisse. Ich verlasse mich lieber auf meine Menschenkenntnis.“

Sie musterte ungeniert den jungen Mann. Sauber, gescheit, dachte sie. „Und Ihre Eltern? Was machen sie?“

„Meine Eltern, Frau Gräfin, sind leider schon verstorben.“

„Das tut mir leid. Sie sind also unabhängig? Oder gibt es jemanden, der auf Sie wartet?“

„Bis jetzt noch nicht.“

Gräfin Ulrike lachte. „Sie, junger Mann, machen Sie mir nichts vor! So ein hübscher Junge und keine Freundin?“

Joshua Wegner errötete. „Nun, ab und zu. Aber nichts Ernstes.“

„Ich frage Sie das, weil ich beabsichtige, Sie hier im Schloss unterzubringen. Sie sollen so etwas wie meine rechte Hand werden. Neben Ihrer Hauptbeschäftigung als Gärtner in der Parkanlage selbstverständlich.“

Joshuas Blick fiel auf die Hand der Gräfin. Sie trug nur zwei schmale Eheringe, eine gepflegte und schmale Hand einer älteren Dame.

„Von Parks verstehen Sie doch etwas?“

„Eher von Landwirtschaft. Aber was mir fehlt, werde ich mir aneignen.“

Gräfin Ulrike musterte ihn jetzt neugieriger. „So ist es recht“, sagte sie. Sie versuchte sich zu erheben. Joshua sprang herbei und half ihr. Dankbar lächelte ihn die Gräfin an. „Und woher kommen Sie, was für ein Landsmann sind Sie? Sie rollen so schön das R – wie Donnergrollen!“

„Ich bin aus Schleswig-Holstein, auf dem Dorf groß geworden.“

„Gut, Herr Wegner.“ Gräfin Ulrike stand jetzt vor Joshua, winzig klein.

„Immer schon habe ich mich gefragt, warum Männer so groß werden müssen“, sagte sie. Sie blickte zu ihm auf. „Sie sind ja ein Riese, Herr Wegner.“

Wieder geschäftlich werdend, sagte sie: „Ich bezahle nach Gärtnertarif. Das ist kein Vermögen, aber man kann davon leben. Bei guter Einarbeitung lasse ich mit mir über eine Gehaltserhöhung reden. Sie sind doch einverstanden? – Und wann können Sie anfangen?“

„Wenn Sie wollen, schon morgen.“

Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Also dann, Herr Wegner – ach, darf ich Joshua sagen? Schicken Sie doch Marietta zu mir. Sie wissen schon, die energische Person, die Sie eingelassen hat. Sie soll Ihnen Ihr Zimmer zeigen.“

Joshua fühlte die schmale, kühle Hand in der seinen. Er drückte sie zaghaft.

Gräfin Ulrike lachte: „Nur zu! Ich zerbreche nicht, bin doch keine Porzellanpuppe! – Auf gute Zusammenarbeit, Joshua. Morgen früh erkläre ich Ihnen alles Nähere.“

Texte gibt es

die sind wie Fliegenpapier; du musst keine vierundzwanzig Stunden warten – – schon kleben die ersten Kommentare dran.
Und was für welche!
Nachts träumst du dann von Musil, wie er auf gefühlten fünfzig Seiten den Unterschied zwischen Nachtigall und Amsel erklärt, und mit der einsetzenden Dämmerung beginnst du dir vorzustellen, er und Proust säßen einmal zusammen
im Café und hätten sich tatsächlich etwas zu sagen. Da es noch Traum ist, hast du keine Wahl, du musst dir einfach vorstellen, die beiden erzählten sich ‚was und du hörst zu. Bestelle dir einfach
noch einen Kaffee!
an deinen Nebentisch. Gelingt es dir, die beiden nicht zu stören bei ihrer unnatürlichen Balz, kannst du mit einem inhaltsreichen Traum rechnen.
Aber wohin mit dem – nicht mehr frischen – Fliegenpapier?

Das Testament der Gräfin Ulrike – Kapitel 3

Kapitel 3

Schloss Rheinstein lag nahe einer mittelgroßen Stadt im Bergischen, malerisch eingebettet in die leicht hüglige Gegend. Es war ein vielhundertjähriger, ehemals strahlendweißer Bau, ein Wasserschloss. Das Wasser im Graben war mit den Zeiten schwarz geworden und bedeckt mit Entengrütze. Der Sommer war warm dieses Jahr, und Insekten und Schmetterlinge tanzten über dem Wasser.

Baronin von Lichterfeld, als sie mit ihrem roten Cabrio vorfuhr, schüttelte den Kopf. Hatte ihre Freundin Ulrike es nötig, in diesem altertümlichen Bau auszuharren? Der Modergeruch des Grabenwassers stieg ihr unangenehm in die Nase.

Köchin Marietta öffnete auf ihr energisches Betätigen des Türklopfers. Die Baronin stapfte die majestätisch breite Freitreppe hinauf.

„Anklopfen hat die feine Dame auch nicht gelernt“, murmelte Marietta verdrossen, als die Baronin die hohe Doppeltür zum Salon der Gräfin Ulrike aufriss, ohne angeklopft zu haben.

„Ulrike, Liebste!“ Die Baronin und Gräfin Ulrike lagen sich in den Armen.

Marietta brachte Tee. „Wir gießen uns selbst ein, Marietta. Dank dir“, sagte Gräfin Ulrike.

Die Baronin nippte am Tee. „Eine schnippische Person.“ Sie blicke Marietta nach, bis die Tür geschlossen war. „Dein Personal, Ulrike! – Ich mach mir ja nichts aus Tee, ich bin nur gekommen, weil ich wissen will, wie es mit deinem Testament weitergeht. Du hattest etwas angedeutet – stimmt das? Du willst dein gesamtes Vermögen dem Kunstverein vermachen?“

Gräfin Ulrike seufzte. „Was soll ich tun? Einen leiblichen Erben habe ich jetzt nicht mehr. Und von der Verwandtschaft lebt, soviel ich weiß, niemand mehr. Die Rheinsteins sind ein ausgestorbenes Geschlecht.“

„Ja, Liebste, es ist grauenvoll. Das einzige Kind auf so tragische Weise zu verlieren.
Ich möchte nicht tauschen mit dir. Aber tröste dich, Ulrike, ich habe drei Söhne, doch wenn es nach mir ginge, würde ich sie auf der Stelle enterben.“

„Ach ja? Und weshalb?“

Die Baronin winkte ab. „Schweigen wir lieber davon. Du hast dich also entschlossen, Ulrike?“

„Ja, soweit ich die Bürokratie verstehe. Ich muss nur noch die Formalitäten erledigen. Wenn ich doch nur laufen könnte! Dieses schreckliche Rheuma! Und im Kreuz zwickt es auch. Sieh mal, wie meine Hände zittern.“

„Ich habe dir schon immer gesagt, dass du in die Stadt ziehen sollst. Diese alten Schlösser sind romantisch und malerisch, aber selbstmörderisch, liebste Ulrike. Nichts als Rheuma holt man sich hier in diesen vermoosten Schlössern. Ein schrecklicher Kasten, Ulrike.“

„Mir gefällt es hier“, sagte die Gräfin etwas pikiert. „Was brauche ich denn? Nur jemanden, der für mich ein paar Gänge erledigt. Und ja, der Park. Der könnte auch ein bisschen Pflege vertragen. Du weißt, der alte Krummbiegel ist vor einem halben Jahr gestorben. Seitdem wurde im Park nichts mehr getan. Kennst du jemanden, der das für mich übernehmen könnte?“

Baronin von Lichterfeld überlegte. „Auf die Schnelle nicht. Aber ich höre mich mal um. Ich denke, du brauchst einen jungen Mann, der nicht auf den Kopf gefallen ist und etwas von Gärtnerei versteht. Im Moment fällt mir niemand ein, aber du hörst von mir. Aber nun, Ulrike, lass uns zu Erfreulicherem kommen …“

Die beiden Damen saßen zusammen, bis der Schein des Vollmondes durch die Butzenscheiben des Salons fiel und ein unwirkliches Licht verbreitete. Die Bäume im Park warfen lange Schatten.

Gräfin Ulrike winkte ihrer Freundin vom Fenster aus nach, als die das Cabrio startete. Sie atmete auf. Die Freundin war eine liebe Frau, aber manchmal hatte sie einfach ein viel zu großes Mitteilungsbedürfnis.

Das Testament der Gräfin Ulrike – Kapitel 2

Das Testament der Gräfin Ulrike, Kapitel 2

„Mein lieber Herr Knippel!“ Gräfin Ulrike von Rheinstein, eine gutaussehende, gepflegte Frau höheren Standes, saß in ihrem Stammsessel, einem altmodischen Ungetüm von erstaunlichen Ausmaßen. Sie hob lächelnd den Finger. „Ich versichere Ihnen, lieber Knippel, dass ich mein Wort wahrmache. Der Kunstverein der Stadt liegt mir am Herzen, ich werde ihn in mein Testament aufnehmen, niemand wird sich beschweren müssen.“

Der Maler Friedemann Knippel, heute im Auftrag des städtischen Kunstvereins zu Verhandlungen mit Gräfin Ulrike entsandt, verbeugte sich, so gut es ging in dem altmodischen Sessel. „Dessen bin ich gewiss, Frau Gräfin“, sagte er. „Unser Ahnherr, unser aller Vorbild, der Maler Robert Meierfelder, würde erfreut sein. Schade, dass er Ihre Großzügigkeit nicht mehr erleben kann.“

„Ich hoffe, Sie erscheinen als Dank“, Gräfin Ulrike lächelte, „zu meiner Trauerfeier wenigstens mit Trauerflor. Wenn dieser, Sie werden verzeihen, lieber Friedemann, dieser bemerkenswerte Aufzug schon sein muss.“

Friedemann Knippel errötete unter seinem Bart. Hastig knöpfte er die abgeschabte Samtjacke über dem Bauch zu.

„Ich werde Ihnen eine kleine Summe anweisen lassen“, meinte die Gräfin, „damit Sie sich einen anständigen Straßenanzug kaufen können. Immerhin, als Vorsitzender des Kunstvereins haben Sie auch mit der gewöhnlichen Welt zu tun.“

Wieder errötete Knippel. „Aber nur noch zwei, drei Jahre“, warf er ein, „dann werde ich abgelöst. Bis dahin“, er sah an sich herunter, „wird mein Aufzug hoffentlich standesgemäß sein. – Sie sind zu großzügig, verehrte Frau Gräfin!“

„Aber Knippel, Lieber!“ Gräfin Ulrike lachte auf. „Ich weiß doch, dass Sie sich um den Vorsitz geradezu gerissen hatten. Ach, und was werden Sie tun, wenn die Ablösung kommt?“

„Malen, Frau Gräfin, malen! Nichts als malen. Die Arbeit für den Kunstverein frisst mich auf. Auch wenn man mir das nicht gerade ansieht. Schließlich bin ich der einzige noch lebende Schüler unseres großen Vorbildes Robert Meierfelder. Und der Jüngste bin ich leider auch nicht mehr.“

Gräfin Ulrike wurde ernst. „Ja, der berühmte Meierfelder.“ Einen Moment lang versank sie in Schweigen. „Auch er“, meinte sie dann seufzend, „auch er hatte keine Kinder.“ Ein schmerzliches Lächeln überzog ihr Gesicht.

„Das war ein Glück für die Stadt, Frau Gräfin! Was wären unsere Ausstellungsräumlichkeiten ohne seinen Nachlass! Wer weiß, wie der Nachwuchs entschieden hätte!“

„Nachlass, für dessen Erhalt die Stadt nun mich für zuständig hält!“ Gräfin Ulrike lacht schon wieder.

Knippel blinzelte. Der Vorschlag, Gräfin Rheinstein die finanzielle Sorge um den Nachlass des berühmten Sohnes der Stadt ans Herz zu legen, war von ihm gekommen.

„Aber ich bin Patriotin genug, mich dieser Aufgabe gewachsen zu zeigen“, sagte die Gräfin, „voll und ganz. Aber schon recht, lieber Knippel, schon recht. Bekommt nämlich die Stadt mein Vermögen nicht, geht es an den Staat. Eines Tages …“ fügte sie melancholisch hinzu.
„Ich bin schließlich alt genug, um endlich abtreten zu können. Und der Kunstverein wartet.“
Sie lächelte ironisch.

Friedemann Knippel erhob sich. „Frau Gräfin …“

„Sie bleiben doch noch zum Essen? Ich will Sie nicht drängen, es gibt ausgezeichneten Rehbraten, von meiner Herzensköchin Marietta zubereitet. Ich esse nicht gern allein, und meine gute Freundin, die Lichterfeld, kommt erst am Nachmittag vorbei.“

Knippel verbeugte sich. „Wenn die Frau Gräfin mich so charmant erpressen, was bleibt mir übrig?“

Marietta steckte den Kopf zur Tür herein. „Will die Frau Gräfin, dass ich zwei Gedecke auflege? Oder will der Herr vom Kunstverein schon gehen?“

„Zwei Gedecke, Marietta. Dem Herrn Knippel gefällt es bei uns, er tut mir den Gefallen, mit mir zu speisen. Er schätzt deine gute Küche. Erst eben hat er kaum Worte für deinen berühmten Rehbraten gefunden.“

So viel Lob hatte Marietta nicht erwartet. Leise schloss sie die Tür.

Das Testament der Gräfin Ulrike

Kapitel 1

„Dauernd lädt sich die Gräfin Gäste ein. Und ich muss sehen, wie ich die Arbeit schaffe!“
Marietta, die Köchin auf Schloss Rheinstein, schimpfte. „Aber das Essen muss pünktlich um eins auf dem Tisch stehen! Eine Pedantin, unsere liebe Frau Gräfin!“

Jochen, der in der Küche am Tisch saß, ließ die Litanei der Mutter über sich ergehen.
Er wusste, dass Klappern zum Handwerk gehörte. „Ja“, sagte er nach längerem Schweigen, „unsere Gräfin ist schon eine recht seltsame Frau.“

„Und du, Jochen, plünderst mich aus!“ Die rundliche Marietta stemmte die Arme in die Seiten. „Keinen einzigen Monat kommst du mit deinem Lohn hin! Was soll das bloß werden, wenn die Gräfin mich eines Tages entlässt, weil ich ihr zu alt geworden bin! Oder weil der Braten verbrannt ist. Oder weil ich das Kochen verlernt habe! Verhungern würdest du! Und wenn sie stirbt, was keiner annehmen will …“

Bei diesen Gedanken musste sie sich setzen. Im Herd brutzelte ein Rehbraten. Sie lauschte auf das Geräusch. „Das Essen ist bald fertig“, sagte sie.

„Na, so alt ist ja noch nicht. Höchstens siebzig“, sagte Jochen.

„Dreiundsiebzig“, korrigierte Marietta. „Aber seit der Herr Graf gestorben ist, wird sie wunderlich. Dauernd tauchen hier Bittsteller auf, und sie gibt ihr Geld mit vollen Händen aus!“

„Wer ist denn heute bei ihr?“ Jochen blickte die Mutter gespannt an.

„Na wer schon! Wieder dieser Typ vom Kunstverein! Der mit dem Rauschebart! Der hat einen Appetit, sage ich dir! Der frisst der Gräfin noch die Haare vom Kopf! Sie soll ja dem Kunstverein eine Menge Geld vermacht haben. Schon zu Lebzeiten. Und wer weiß, was sie in ihr Testament geschrieben hat. Wo sie doch keinen leiblichen Erben mehr hat seit dem Unfall des jungen Herrn Grafen. Na, und der Rest fällt in den gefräßigen Rachen des Staates.“

Jochen nickte bekümmert. „Hoffentlich wirst du wenigstens bedacht. Wo du dich all die Jahre für die Rheinsteins abgeschuftet hast.“

„Das lass mal meine Sorge sein. Die Frau Gräfin war immer gut zu mir, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich nicht bedacht hat in ihrem Testament.“

Marietta schreckte zusammen. „Da plaudere ich hier mit dir, und oben sitzt die Frau Gräfin und wartet auf ihren Tee!“ Hastig stellte sie Teekanne, Tasse und Zuckerdose auf ein Tablett. An der Tür wandte sie sich um: „Und dass du verschwunden bist, wenn ich wiederkomme!
Du weißt, die Frau Gräfin hat dir verboten, dich noch einmal hier blicken zu lassen.“

Jochen sah der Mutter sauertöpfisch nach. Dann stürzte er zum Herd. Er hob einen Topfdeckel ab. „Bloß Suppe“, sagte er enttäuscht. Der Deckel fiel mit einem Scheppern auf den Steinfußboden.