Amalias Rache

Wirkliche Befriedigung erlangte sie immer nur
Auf zwei Arten: Sie konnte das Spiel, dieses
Ewige Drama der ausgeschnittenen Figuren
Vor dem Hintergrund des gestrigen Tages
Neu abrollen lassen – ein kleiner Klaps
Auf Sisyphos‘ Hintern genügte, ihn
Für Bruchteile von Sekunden abzulenken
Von seinem kosmischen Spaß (der Stein
War ihr treuester Verbündeter) oder sie ließ
Sich ganz einfach fallen, wie für immer, der
Fels  mit den Kanten eines Hauses war
Dann ihr liebstes Kopfkissen; und war sie einmal
Herausgefallen aus der Welt, selbst Figur wie einstmals
Van Hoddis‘ Dachdecker auf der Höhe seiner Zeit, die
Finstre Welt der nächtlichen Klänge zeigte
Nicht länger sich mehr als Feind – dann dann
Wurde der Raum zu Musik, und der Tod
Tanzte mit dem Leben seinen schönsten Grabstein

Ganga

Westlich von Haridwa läßt du die Kälber
aus deinem Euter trinken : du Kuh
aller Flüsse & Flüßchen : die Indiens
Norden durchfließen : der Himalaya
gibt dir die Milch seiner Gletscher : damit du
den Indern als heiliges Tier auf allen Straßen
nachlaufen kannst : ich schwimme & tobe
in dir : ohne vorm Wassergang die Hände
zu falten & sammle Steine auf
die du gestreift hast in Jahrtausenden : einst
konntest du tausend Kilometer fließen : ohne
einen Tropfen Klarheit zu verlieren : jetzt
baden in Varanasi nur noch die Todesnahen
Ganga : rote Flecken hinterläßt du
Typhusartige : auf der Haut
als Zeichen des Fortschritts

Kommt & endet

Es ist noch märz & schon fiel heute
Schnee : der winter kommt & endet
Nicht : wir ziehen ein langes gesicht
Die flocken treiben am fenster vorbei : so wird
Es weitergehen : in wattekoks wird eingehüllt
Alles : was wir sehen & wir
Werden eingelullt von diesem märz
Im schnee : april & maien
so kann es weiter schneien : du brauchst
Dich nicht beeilen : was für ein terz
um wetters scherz

Anfang

Das Joch ist ein Geschmeide,
Darin die Steine grell
Wie bunte Fenster funkeln
Und blenden’s Auge schnell.

Das Jochbein ist ein Knochen,
Daran der Fasern viel
Und Schwer im Winde
Zucken – Lächeln zu dem Spiel.

Die Beine sind zwei Bügel
In schwarzen Trichtern
Tief noch schlummern
Alte Knochen, die lange keiner rief:

Der Himmel – eine Feste
In Wasser wo du schliefst

Die Abtei

(Öffnung der Almanache II)

Wir Zöglinge tragen unsere Herzen auf schneeigen Stirnen.
Das Siegel der nackten Füße aus fünfhundert Jahren
ist den Steintreppen eingeschrieben.
Wenn wir durchs Tal gehen, Hand bei Hand
und immer einer hinter dem andern
eilen unsere Silberstimmchen uns züchtig voran.

Alle Abende nehmen wir heimlich den Duft
des Weihrauchs mit in die Betten.
Die Glockentöne legen sich schwer auf die Brust
die nicht atmen will, wenn die eine Hand
das Gebet spricht und die andere
sich im Feuer verzehrt.

Die müden Patres haben auch ein Herz zu verschenken.
Sie schmücken es mit den Dornen der Winterschlehe
und reinigen so ihr geschwätziges Blut.
Wie ein Klingelbeutel springt es von Hand zu Hand
und hört doch nicht auf, vor sich hin zu murmeln.

O, daß die Nächte nun wieder kürzer werden
wie die Kerzen vor dem gestrengen Altar!
In den Gängen türmt sich der Schnee
der vergeblich seiner Erlösung harret.
Die hohen Feste – Ostern, Pfingsten, Fronleichnam –
fädelt der Raureif auf seine Perlenschnur.

sonntagabend

sonntagabend wacht

der fremde

feuer schürend überm waldesrand

alles sagend unverstellten blickes

so wacht

in dämmerstund verhallter stimmen

dunkler heime – hoflichter

so wacht

in tausend räumen

die güte um ihre mythen

so wacht

im schatten hereinbrechender nacht

um sträucher der hänge

vertrockneter erde endloser gipfel

so wacht

der begebenheiten um ihre mythen

so wacht

in herzlicher vernunft

endloser stunden wiegend

leidenschaftlich

ströme atemberaubender nächte

so wacht

Das Schloss

Trübsaltage, von den Decken bröckelt der Stuck.
Auf Rokokopolstern plustern sich Kakadus.
In der Sofaecke nestelt der König an seiner Perücke.
Ein Diener tritt ein: Ihre Post, Majestät.
Der Regulator tickt ununterbrochen.
Das Fräulein spinnt mit nur einem Finger verschämte Etüden.
Ums Spinett flattern Trauermotten.

Ein Feuer wird in den Kamin getragen.
Die Depeschen liegen versiegelt auf dem Sekretär.
Die vergilbten Tapeten riechen nach Ziegenkäse.
Ein Galan in Pantoffeln öffnet ein Fenster.
Wie auf Kommando beginnen alle zu frösteln.
Das Fräulein hat sein Spiel unterbrochen.
Soll ich dich flöhen? fragt es mit zaghafter Stimme.

Der gepuderte König winkt aus seinen Kissen.
Für sein Spiegelbild kann das Ja oder Nein heißen. Er seufzt.
Der Galan hat die Flasche mit Portwein entdeckt.
Der Diener reicht ihm ein geschliffenes Glas.
Ein Stallbursche mit geschwärztem Gesicht schaut zum Fenster herein.
Die Stadt brennt an allen Enden! ruft er.
Ein weißer Kakadu nützt die allgemeine Verwirrung zur Flucht.

Ossip Mandelstam, Verse vom unbekannten Soldaten

The centuries surround me with fire. Osip Mandelstam (1976) – YouTube

<1>

Mag diese Luft also Zeuge sein,
Weithin reichendes Herz,
Und in den Hütten, allbekannt, steht der
Ozean ohne Fenster – Schmerz.

Ach, was sind doch die Sterne mitteilsam!
Alles müssen sie schauen – wofür? –
Für das Urteil zur Richter- und Zeugenschaft,
Für den blicklosen Ozean – Schmerz…

Regen, grußloser Sämann, erinnert sich noch
– und sein schmerzloses Manna zeugt –
Wie vielblättrige Kreuze deuteten hoch
Auf den Ozean oder den Keil.

Werden kalte und krumme Menschen hier
Töten, frieren und hungern hart, –
In seinem Grabe, sehen wir,
Liegt der unbekannte Soldat.

Lehre mich, krummes Schwälblein, das
Nicht mehr fliegt,
Wie dieses luftige Grab
Ohne Steuer und Flügel mein eigen wird,

Und für Lermontow Michail
Werde ich: Einstehn mit meinem Wort,
So wie der Bucklige Buckel sieht
Am luftig-durchlöcherten Ort.

<2>

In Gestalt leise zuckender Weinbeeren
Bedrohen uns diese Welten,
Und es hängen als Städte leinfarben,
Als goldenes Sich-Räuspern, Verleumdungen,
Mit von giftiger Kälte Waldbeeren
Breitgeschmierter Sternbilder Festungen –
Goldene Tötungen Fette…

<3>

Arabisches Mischfutter, Bruchsuppe,
Licht zum Strahl zermahlener Schnelle,
Und mit Fußsohlen schief wie Kruppe
Steht der Netzhautstrahl auf der Stelle.

Millionen für Geld getöteter Färsen
Trampelten frei einen leeren Pfad, –
Gute Nacht, alles Gute für sie
Im Namen der hüttigen Festungen.

Himmel, nicht anzueignender Graben –
Himmel von Toden, gratis und verzinster –
Auf deiner Spur, von dir weg, areté,
Tragen die Lippen mich durch das Finster, –

Für Schutzwälle, Bombentrichter und Ossip-Geröll,
In denen er zögerlich atmend erstarb:
Umgewendete – purpurner, pockengewölbter
Sich an die Erde schmiegender Genius des Grabs.

<4>

Gut stirbt die Infanterie,
Und gut singt der nächtliche Chor
Über dem leicht geballten Lächeln Schwejks,
Und über der Vogel-Lanze Don Quijotes,
Und über des Ritters Vogel-Fuß-Ballen.
Und es hält mit dem Menschen Freundschaft der Krüppel –
Beide werden ihre Arbeit finden,
Und’s bekloppt die Einfriedung des Jahrhunderts
Die Holz-Krücken-Familie –
Hey, Menschheit, – Erdball!

<5>

Soll denn dafür sich Schädel entwickeln
Bis zur Stirn – zwischen Schläfen weit,
Damit in seine teuren Höhlen
Nicht hineinreiche der Krieger Geleit?
Es entwickelt sich Schädel durch Leben
Bis zur Stirn – zwischen Schläfen weit,
Saubere Risse höhnen der Sicherheit,
Seine Kuppel sagt: So ist es eben,
Denken schäumt – selbst im Traum sich ergeben –
Schüsselsgrund jetzt und Heimaten Heimat hier –
Aus Sternennarben genähter Helm –
Glückes Käppchen – Vater Shakespeares…

<6>

Eschene Klarheit, Bergahorns Scharfblick
Eilt leicht gerötet in sein Haus,
Gleichsam mit Ohnmachten überschwemmen sie
Beide Himmel mit trübem Brand.

Verbündet erscheint uns nur das Nützliche,
Vorn ist nicht Durchfall, sondern Durchmessen,
Und zu kämpfen für Luft zum Atmen –
Diesen Ruhm der Vorbilder kannst du vergessen.

Und, das Bewusstsein überschwemmend
In der Leere halbohnmächtigen Seins,
Schlürf ich denn wahllos diese Brühe,
Verspeise den eigenen Kopf unterm Brand?

Wurde denn dazu die Hülle erschaffen –
Liebreiz des Leichten im leeren Raum,
Damit Sternenweiß ohne Atem
Leicht gerötet eilt in sein Haus?

Hörest du, Muhme des himmlischen Tabor,
Nacht, was wird sein jetzt und einst?

<7>

Es füllt sich mit Blut die Aorta
Und zischt durch die Reihen leis‘:
– Bin geboren vierundneunzig…
– Bin geboren neunzig und zwei…
Und, in der Faust wie Wolgatreidler
Presse ich der Geburten Jahr, und
Es zischelt der blutleere Mund selbst weiter:
Bin geboren nachts, vom zweiten zum dritten
Januar – im Jahre neunzig und eins
Einem schlechten Jahr – und die Jahrhunderte
Ziehn mich in ihren brennenden Kreis.

1. – 15. März 1937

Robinson Crusoe (7)

Beziehungen: Nähe, Ferne

Wenn du nicht hier bist, bist du dort.
In Gedanken jage ich dir nach.
Manchmal treffe ich dich.
Dann werden wir ein Paar.
Von mir selbst schließe ich auf dich.
Du bist so freundlich, das gut zu heißen.
Dein starrer Blick weist in die Ferne.
Noch weiß ich nicht, wohin.

Ganga morgens

flott strömt sie dahin : so schnell
daß sie die heerscharen orangefarben
gekleiderter pilger nicht bemerkt : die langsam
auf der brücke über sie hinweg schreiten : während
eine horde raftingbegeisterter darunter wegtreibt : den runden
schädel mit einem helm gegen harten aufprall bewehrt

Fische

Eins

Vielleicht kann ich heute froh darüber sein, mich bei bestimmten Dingen zurückgehalten zu haben. Der Abstand zu dem, was wir gemeinhin die Realität nennen, hat in mir eine Art des Wirklichkeitssinnes geschärft, die in der heutigen Zeit rar geworden ist. So bin ich nicht den Sinnestäuschungen der Technik erlegen, halte ein Lederfauteuil bis heute für ein solches, sobald es in meinen Besitz gelangt und ich das feste und doch angenehm nachgiebige Material mit meinem Körper forme. Viele Dinge jenseits des Horizontes lassen sich erforschen, doch Meinungen und Messergebnisse gehen zuweilen unkeusche Verbindungen ein.

Glauben Sie an Astrologie? Ich finde es durchaus sympathisch, den Charakter hiernach ein wenig zu prüfen. Ich zum Beispiel bin Ende Februar geboren. Mein Sternzeichen ist somit Fische und es hat für mich nichts Verwerfliches, dass ich Nachmittagsessen mit Sushi unter blassblauen Himmeln in Lokalen bevorzuge, deren Tische glatt und abwaschbar sind. Zudem sagen meine weiblichen Bekannten seit Jahren ähnliche Sätze, sobald sie mich bei irgendeiner Gelegenheit ihren Freundinnen vorstellen. Sie sagen: „Das ist Bryan, ein typischer Engländer, nicht nur im Winter blass und – ja, es stimmt – Sternzeichen Fische.“ Viel mehr ist nicht nötig. Mit der Zeit habe ich gelernt, dass wenige Worte zur Unterhaltung ausreichen. Wo es bedeutsam für mich werden kann, informiere ich mich – notgedrungen, so über die Bewässerungssysteme in Gewächshäusern oder über die Intelligenz von Kraftfahrern. Denn wenn man nachts mit ausgestrecktem Daumen an einer Autobahnausfahrt steht, hängt von ihrer Fahrweise das Überleben ab.

Zwei

Mein Gott, Bryan. Glatt und bleich wie ein Sandfisch ist seine Haut – Sandfische, Echsen, die durch den Wüstensand gleiten können wie Fische durchs Wasser. Im Vorgarten hat Bryan Tulpen angepflanzt. Zu seinem Geburtstag. Auch aus Einsamkeit, vermute ich. Rote Tulpen mit einer gelben Innenseite und einem schwarzlila Stempel. In seiner Wohnung vermeide er künstliches Licht, meinte er mittags in der Suppenbar im Kreis der Kollegen. Weil die Künstlichkeit ihn stört. Das Dunkel gebe dem Ganzen Heiligkeit. Ob er kirchlich sei, fragte ihn der Barbesitzer. „Ich glaube an etwas Gravitätisches und Erhabenes, das über spitze Türme, ovale Fenster oder die entsprechende Höhe verfügt“, entgegnete Bryan.

Ich habe nach diesen Sätzen meine Suppe sehr langsam zu Ende gelöffelt. Sie schmeckte anders als ich erwartet hatte. Bryan las die Morgenpost, die zerknittert war wie immer. Ich vermute, er las gar nicht. Alle warteten nur auf mich, und als ich den Teller von mir schob und die Rechnung beglich, sagte ich der Bedienung, die Suppen seien nicht ausreichend beleuchtet. Erst im Tageslicht, am Fenster sitzend, hätte ich die roten Beete erkannt. Nur Bryan grinste, die anderen verstanden oder hörten es nicht. Das Suppenbuffet lag hinter ihnen im Dunkeln.

Drei

Constanze mag mich nicht. Ihre Art, in der sie Sätze zu mir sagt, bestätigt mir das. Sie rührt sich nicht beim Essen, sie isst wie eine Schnecke, ich meine, in solch einem Tempo. Die Kollegen sagen, mach dich nicht verrückt. Constanze selbst lächelt nur. Pflückt sich die Tulpen in meinem Vorgarten, streicht mit ihnen über das schwarzlackierte Eisen des Gartentors und ich lasse sie ihr. Das übrige Grün decke ich mit Erde zu. Vielleicht stellt sie irgendwann eine von ihnen in eine Vase, die sie in meiner Spüle findet oder in einem meiner vielen Schränke. Jetzt sitzt sie mir gegenüber und schreibt reihenweise nichtige Meldungen, während ich lese und analysiere. Im Schreiben ist sie aktionistisch wie sonst nie. Sie streift meine Beine mit ihrem Hosenrock beim Gehen, aber sie hält diskreten Abstand zu meinem Körper, wenn unsere Füße sich treffen unter den Tischen. Sie trägt Kopfhörer und schreibt, schützt ihre Ohren und macht mich zu einem stummen Fisch. Nur die Spitzen meiner Schuhe berühren ihre Winterstiefel. Sie hat anscheinend noch nicht bemerkt, dass die Außentemperatur über Nacht um zehn Grad angestiegen ist.

Sergej Jessenin – 1924

Gehen wir unmerklich nun davon nach
Jenem Lande, wo die Ruhe als Erfüllung ist.
Möglich, dass auch ich in Bälde
Meine Siebensachen packen muss.

Meine lieben Birkenstämme! Dickicht –
Du bist Erde! Ihr – der weiten Ebenen Schlaf!
Angesichts des in die Ferne Schreitens dieser
Menge fehlt die Trauer zu verbergen mir die Kraft.

* * *

Gedanken aus der Sägemühle

Was soll ich dort, wo ich hin will!
Ich fahre trotzdem weiter.
Das Gras erzitterte…
Ob es einmal gut wird, dort?
Zunächst Übungen,
Was will ich dort, wo ich hin soll?
Ich fahre erstmal weiter.
Trotz alledem!

***

Als Mühlrad dann wie Müller sein,
Shakespeare-Kleksographie
Kafkaschen Ausmaßes
Gesungen unterm
Rauschen des Wassers
In den Cobble Stone Gardens
Ewiger Kindheit trotz alledem!
Dort unten…

Robinson Crusoe (6)

Die Sprache der Tiere, die Zeichen im Wald

Mit dem Himmel erwachten die Stimmen zum Leben.
Ihre Körper durchstöhnten die Phantasie.
Ihre Leiber versuchten Antwort zu geben
Auf die Fragen des Suchenden wer, wo und wie?
Erst waren die Körper nur in Gedanken zu sehen.
Die Gestalt offenbarte sich gleich oder nie.
Später dann begannen sie Wege zu gehen,
Und was sprechend im Schilf sich verbarg, waren sie.

Ballade vom verlassenen Schiff – Wladimir Wyssozkij 1971

für Andreas

An jenem Tag wurde selbst der Käptn geduzt
Und der Schiffsjunge galt ihm gleich an Talenten,
Mit gestrecktem Rückgrat und zerfetztem Verband
Hingen die Matrosen in den Wanten.

Die Türen unseres Verstandes
Aus den Angeln gerissen
Zu den Ufern voller Wunder,
Wie eingetaucht in ein Bett

In die ewig gewünschten und verheißenen Länder –
Die magellanischen und kolumbianischen.

* * *

Winde trinken mein Blut
Und durchqueren mein Holz
Gerade vom Bug bis zum Heck,-
Zerren Winde an mir:
Und ich stehe im Wind
Jeden Tag, jede Nacht,-
Der hinein in die Seele
Nägel treibt mir mit Macht,
In die Seele hinein…

Robinson Crusoe (5)

Allein im Paradies

Das Meer hebt seine Wellen an den Strand.
Ihr Rauschen schiebt sich in die Worte.
Im Denken schäumt noch Untergang.
Das Träumen findet keine Orte.
Der Hunger zeigt sich als Bewegung.
Zähne ertasten süße Früchte.
Wasser bricht auf, wenn alles schwindet.
Ein Himmel steht und spricht zu mir.

20.1.1914 – Innerfaltfilm Zwei

Von China her weht
Warmer Wind gen Westen: Die
Temperaturen um den Gefrierpunkt
Lassen ein Mutterherz sieden.

Erste rasselnde Stimmen in
Der Tanne hinterm Haus
Zwitschern ihr Sarajevo.

Das Vollkommene aber
Hat keinen Anfang:
Edel, hilfreich und gut
Wird es selbst Jahrzehnte später
Noch einen Tornister ganz ausfüllen –

Mit den Leiden des Herzens,
Mit den Füßen im Schnee –

Was kaum einer mehr
Erinnert: Im Walde von
Combiegne saß unsichtbar
Ein Chinese mit am Tisch,
Einen Füllfederhalter im Jacket.

Gedicht über Bäume

Der Blitz kam vom Himmel herab.
Ein Körper flammte auf: Viel später
Wird man diesen Vorgang
Mit dem Widerstand des Einzelnen
Gegen das universale Fließen
In den vorgezeichneten Bahnen seiner Bewegung
Erklären. Nichts ist erklärt. Nichts.

Der Wald stand in Flammen.
Was Beine hatte nahm sie in die
Hand: Heute ist die Bekleidungs-
Industrie ein gutes Stück weiter –
Der Mann im Asbestanzug
Lenkt seine Schritte einfach
In das Feuer, in das Feuer mitten hinein.

Bäume wurden zu Rauch, Rauch wurde zu Nichts.
Nichts füllt den Raum zwischen Sonne und Erde.
Der Staub tanzt im Nichts, wo die Kälte
Froh sein sollte über jeden Pimpf
Makroskopischer Bewegung. Aber die Kälte
Ist nur die Kälte und hat keine Ahnung
Vom ewigen Prinzip, ewigen Prinzip.

Leben ist ewige Bewegung. Ewig die Worte
Beim Sprechen. Ewig auch das Verstummen.
Die Blitze zucken durch ferne Gewitter,
Die Luft strömt unaufhaltsam
In den vorgezeichneten Bahnen des Druckausgleichs,
Zwischen Himmel und Erde nur ewige Bewegung.
Und die Bäume? Die Bäume? Die?

Die Welt der Asbestanzüge gerät nicht mehr
Ohne Weiteres in Brand: Das Zeitalter der
Abgezogenen Felle gehört der Vergangenheit an.
Auch die Zukunft gehört der Vergangenheit an,
Wo alle Winde ruhen. Die 3-K-Hintergrundstrahlung
Beweist, dass das All eine Seele hat; der Mensch
Hat sich aus diesem Gedicht bewusst herausgehalten.

Robinson Crusoe (4)

Die Elemente: Blitz, Donner, Welle, Sand

Bedrohlich, wie es schwankt!
Das Meer bäumt sich gen Himmel;
Zerrissen in zwei Hälften
Zuckt eisiges Licht hernieder:
Über dem Rollen der Wellen noch
Das Grollen in der Luft.
Tief auf dem Grunde –
Wie still muss es da sein..!

Temperaturen

Dieser Winter hat etwas Ewiges : Schnee
sträuselt durch den gelben Lichtkegel
der Straßenlaterne herab : der Abend
ist eine historische Fotografie im Sepiaton : was kehrt
noch zurück : aus welcher Zeit : die aussterbenden
Dinosaurier des staatsmonopolistischen Kapitalismus : längst
totgesagt von unseren toten Genossen : Lenin
& Stalin & Bucharin : die chronisch autokannibalistischen
Linken : sie kehren wieder mit der anhaltenden
Kälte dieses Winters : was wissen
wir schon von der Zukunft : was wissen wir
von der Temperatur

6.2.2000 – Innerfaltfilm Eins

Der Stein mit dem Auge,
Genannt Hühnergott,
Konnte einmal fliegen:
Emporgeschleuderter Körper kraft innerer Bewegung
Drängt in die Ferne.

Drei Lungen unter Wasser.
Im Herzen zuckend letztes Lächeln,
Das Brot im Kopf zerfällt zu Teig –
Nun wird es wie es war.

Nichts ist mehr wie. Die Bänder
Zwischen Kopf und Herz
Vibrieren
Kraft Trägheit durchquerter Luft.
Nichts bleibt –

Der Gott mit Loch
In der Mitte
War nur ein Mensch
Unsichtbaren
Herzens – Herzen
Irgendso ein Alexander,
Segelnd unter falschem Namen.

Robinson Crusoe (3)

Schifffahrt nach Plan und Regeln

Wir reden hier nicht über Geld,
Alle segeln in die gleiche Ferne.
Jeder lebt in seiner Welt,
Manche Dinge tu ich gerne, gerne:
Im Ausguck hab ich den weitesten Blick.
Der Kapitän ist ein Meister des Schweigens.
Vor seinem Blick gibt es kein zurück.
Nachts mach ich mir seine Instrumente zu eigen.

Biologie

orange-300.jpg

Seine Beine sahen aus wie die einer Giraffe, so unbeholfen lang und dünn, wenn er tanzte. Die Anzüge, die sie ihm geschneidert hatten, waren für ihn zu weit, an Armen und Beinen zu kurz. Weiße Socken trug er dazu und schwarze Schuhe. Und ständig musste er aufpassen, dass er sein Haar nicht derangierte. Seine Gesten gaben ihn der Lächerlichkeit preis. Doch sein Gesicht war ihr Typ, ihr Herz eine Thermokanne. Bevor er Geld verdiente, trug er ausgeleierte V- und Rollkragenpullover, billige Secondhand-Klamotten, weiße Hemden mit unmöglichen Figuren bestickt. Damals, als er ein schüchterner, pickliger Junge war.

Sie hörte ihn reden mit leiser Stimme, als müsste er sie für später schonen, sie meinte, er hätte da etwas an den Nebenhöhlen und vielleicht schiefe Zähne. Ihr fiel auf, dass seine Stirn ein wenig glänzte und seine Unterarme im Vergleich zum restlichen Körperbau zu kräftig waren. Offenbar wirkte sich der Sport, den er trieb, nicht auf alle Muskelpartien gleichmäßig aus. Woher nahm der picklige Junge seine Vision und schaffte es, über seine Schwächen hinweg zu spielen, so als sei diese naive Schuljungenhaftigkeit der beste Weg, sich anzupreisen? Ihre Liebe zu ihm war noch durchlässig. Körperlos. Geruchlos. Ohne Schweiß und das Schnarchen neben ihr. Ohne Pyjamas.

Verstummte & vermummte

Kurze trennungen beleben die liebe
Lange trennungen lähmen sie
Dachte ich bis heute : liebe leute
Liebe läutend : hielt ich das telefon ans ohr
& hörte deine vor : würfe : kaum
Hatte ich den hörer empor : gehoben
Da raschelte es : klagte es : ich
Verstummte & vermummte mich
Bin das ich : meinst du mich
Dieser fiese freche grobian : sieh mal
in den spiegel : du bists
Hälst dich mir vor : daß ich nicht
Wiedererkenne : wer das ist : ich
Wir entkommen der falle nicht : keiner
Nicht : alle : die langen werden
Kurz & die kurzen lang : es bleibt
Der drang

Alte Sünden (Reprise)

für Matthias

– Quantentränen in Kadmiumträumen ohne Erinnern woran und wozu. Beschleunigung auf annähernd Sinnlosigkeit. Mit der Lichtgeschwindigkeit einer welken Tomate allein im großen Garten, wo die Wüstennacht endet. Neue Messungen. Black Box im Geschenkartikelformat. Unter Lampenschirmen erhellt, im Oberlicht schwimmend. Wenn die Temperaturen aus den Dünsten der Meßfühler steigen, ganz als sei alles Maß und Zahl. Und es träumt.

– Wie?

– Sinnlosigkeit. In den Tränen eingeschlossen die Worte. Insektenbeine, Mäusekrallen und das vollständige Sortiment der magischen Insignien. Unter Flutlichttürmen erklingt wieder das große Krabbeln. Kunstwelt, Fensterglas – alles das: Nur der Schnee gibt noch Nachricht vom Vergessen.

– Nein, das lügst du dir jetzt aus der Tasche.

– Eine Straßenbahn rattert durch die Wüste und quietscht vor jeder Wanderdüne den Mond an. Und der Chor der bellenden Hunde, die das Kraftwerk bewachen. Das ist ein Reaktor, gebaut aus dem Teer dieser grübelnden Form. In den Lampen brodelt der Tod. Zutaten aus Hoffnung und Wahnsinn. Kein Papier, nur das Flackern der Leuchtdioden. Und die Lämmer blöken wie eh und je.

– Aber das ist ja der Wahnsinn!

– Hinter den Mauern der Meldestelle feiern Trinker ihr Fest. Erst wenn die Worte versiegen, senkt sich der Schlaf auf die Wüste: Mein Polarfuchs, mein Liebling, mein Herz – Faulenzer von Gottes Gnaden. Hinter der Umzäunung aber hängt der Fahrplan. Flackerndes Zwielicht. Neue Messungen. Sinnlosigkeit. Datenströme zur Meldestelle. Eine Straße, da die Wüste axialsymmetrisch aus sich herausquillt. Harakiri vor neuen Ufern, geronnen zu Bernstein. Und Quantentränen in Kadmiumträumen unter gigantischen Flutlichttürmen. Das ist ein Reaktor, ich will mit ihm die Meere befahren auf dem Teer meiner grübelnden Form.

– O Käptn, mein Käptn!

– Bitte nicht. Der Darm verschlingt sich dabei immer so eigenartig. Nach drei Wochen ohne Blickveränderung kommen einem die unverhofften Gedanken vor wie Albatrosse, die außer Hörweite an der Insel vorbeifliegen. Du fängst an, deine Ödeme zu duzen. Zwischen dir und deinem Körper nichts weiter als grauer Matsch. Kultur. Wenn der Arsch ein Mensch wäre, würde man ihm den Mund verbieten. Aber er lässt sich ja nichts mehr sagen.

Robinson Crusoe (2)

Abschied: Aufbruch in die Welt

Die Wolken fallen mir auf den Kopf.
Die Wände kommen auf mich zu.
In meinem Schlaf öffnen sich Türen,
Ich weiß nicht wohin.
Lebt wohl, liebe Eltern!
Dieses Schiff ist mein.
Irgendwann komme ich wieder,
Wegen mir müsst ihr nicht traurig sein.

Robinson Crusoe (1)

Die Eltern erziehen das Kind

Geboren aus der Rippe seiner Mutter
Erforschte er den Rand des Lächelns;
Verwickelt in die Stimmlagen des Vaters
Machte sich von allem er ein Bild:
Wozu sind diese Dinge da?
Wie heißt der fremde Fleck dort drüben?
Warum sind manche Menschen böse?
Wie sieht es aus am Ende der Welt?