Wieder : in pluderhosen

Katzenduft in wurzen
Rausschmiß in riesa
Verspätung in waldheim
Kurzer aufenthalt in leipzsch
Schon ist die reise vorbei

Wir sehen uns wieder : in pluderhosen
Wir riechen uns wieder : vorm abtritt
Wir hören uns wieder : in der telefonleitung des chefs

Dein talent ist respektlosigkeit
Mein talent ist provokation
& du bist beleidigt (was unterstelle ich dir)
& ich ticke aus (wie du mich ärgerst)

Wurzen, riesa, waldheim,
Leipzig, berlin : nirgendwo
Sind wir zu hause : überall
Gehn wir hin & hinüber

Ossip Mandelstam, 09.01.1937

So lächle doch, zorniges Lamm, von Raffaels Leinwand!
Die Lippen des Universums darauf sprechen schon ihren Einwand…

Im leichten Hauch der Hirtenflöte löse das Leid der Perlen auf –
Festgefressen in seiner Hülle hat sich das ozeanische Blau.

Farbe geraubter Seele in lichtloser Höhle zerrüttet,
Falten stürmischer Ruhe über den Knien verschüttet.

Auf dem Felsen härter als trockenes Brot – die Stöckchen des Waldes sacht,
Und es schwimmt von den Rändern des Himmels her eine reizend-entzückende Macht.

Die Wiese

Ein Schritt, und der Fuß versinkt im Boden, der Wind stellt das Wehen ein und die Sonne steht hinter eigenem Licht. Noch ein Schritt, etwas knistert, eine Böe löst einen trockenen Halm. Ein Blick nach rechts: Dunst. Ein Schritt zurück, ein schräger Stein, ein Schattenfleck, eine Quelle.

Robinson Crusoe. Metapoem

1. Die Eltern erziehen das Kind.

2. Abschied: Aufbruch in die Welt.

3. Schifffahrt nach Plan und Regeln.

4. Die Elemente: Blitz, Donner, Welle, Sand.

5. Allein im Paradies.

6. Die Sprache der Tiere, die Zeichen im Wald.

7. Beziehungen: Nähe, Ferne.

8. Das unbekannte Ich.

9. Tanz.

10. Rhythmus einer Stimme aus dem Körper.

11. Ich Robinson, du Freitag .

12. Zusammenleben.

13. Was ist hinter dem Horizont?

Wind, Farbe, Feld

Wie
durch blutige zweige
dringst du ins helle.

Gennadij Ajgi, aus: Ruhe

Im geäderten Dunst
eines Blicks
auf die Dinge
der Körper und Menschen
(menschenklein oder
riesig so klein) dass schon
niemand mit Augen darinnen ein
Nest sich kann bauen

ruhet still eine Lichtung ein
fast leerer Fleck im Blicken
so offen ganz oder klar
für das wehende Lied
durch den Raum zwischen
Dingen und Menschenkörpern
und schwer angeblickt ohne Scheu

Dass im Winde vergessen fast kann
ganz das Auge der Wunden die
geraden und runden Striche
wie der Linien im Freien
wieder im letzten der offenen
Blicke woraus wie die Sonne
urplötzlich erscheint nicht mehr wie

venen im pelz

An der leipziger skala läuft ein stück, das die grenzen herkömmlichen bühnentheaters sprengt und dennoch theaterspiel mit vorgegebenen rollen bleibt, sich nicht in improvisation auflöst. Die rede ist von „im pelz“, einer bearbeitung, die katharina schmitt an der „venus im pelz“ von leopold sacher-masoch vorgenommen hat. Dem programmzettel zufolge hat sacher-masoch vier jahre in leipzig gelebt, ohne daß die stadt von ihm notiz genommen hätte. Der ruhm, der sacher-masoch mit der figur des devoten liebhabers ereilte, war ihm unangenehm, beinahe peinlich. Dabei gelingen ihm einsichten in die machtverhältnisse der liebe, wie sie sonst nirgends zu lesen sind. Bereits die gutbürgerliche sitte des kuchenessens mutiert erst zum sadomasochistischen spiel, am ende zur würgefolter. Weiter gehts mit fußbodensauberlecken, woran „schon viele gescheitert sind“. Es wird im stück nicht gezeigt, was auch nicht nötig ist. Den höhepunkt bildet die persiflage heutiger exerzitien mit der peitsche, wie sie im sm-studio üblich zu sein scheinen. Das eigentlich besondere der inszenierung ist die platzierung des publikums: anstelle der sitzreihen lag ein riesiges fell auf dem boden ausgebreitet, auf dem sich die zuschauer – nachdem sie ihre straßenschuhe gegen filzpuschen getauscht hatten – niederließen, sich ausstreckten oder räkelten. Die beiden schauspielerinnen – keineswegs im pelz, sondern kontradiktisch in weißen baumwollkitteln, fast medizinisch – schlängelten sich zwischen den leuten durch, sprangen um einen schwebebalken herum, der den raum teilte. Die sitzordnung hatte etwas von wg-party, die pärchen kuschelten sich aneinander, es war eine lust, mit so unterschiedlichen leuten auf dem boden zu lungern. Die schauspielerinnen erzielten eine unmittelbarkeit, die eine bühne der unvermeidlichen distanz wegen verhindert hätte. Nur ihre stimmen und die vorgegebenen rollen zeichneten sie als schauspieler aus. Sie verschmolzen nicht mit dem publikum, aber waren ihm zum anfassen, fast schaurig nah. Im unterschied zum kino, das seine wirkung allein mit audiovisuellen illusionen erzielen muß – diese art der inszenierung schafft, was dem kino versagt bleibt. Mit dem verzicht auf die bühne behauptet das theater eigenständigkeit, bietet einen mehrwert weit über frontalberieselung hinaus: chillen und unterhaltung, sinnliche berührung und quasi philosophisches sinnieren in einem. Dann wurde es dunkel, sogar die beleuchtung der notausgänge erlosch, es war eine absolute finsternis, an die sich die augen nicht gewöhnten, und in diese finsternis hinein tönten aus wechselnden richtungen zwei stimmen, sonst nichts. Die szene steigerte sich noch, wieder bei licht, als der devote liebhaber, um sich noch mehr zu quälen, nach einem zweiten mann verlangte. Er wurde tatsächlich von einem mann gespielt, einem mann mit ordentlichem brustfell, dem später in ein echter fellmantel übergeworfen wurde. Als der mächtige mann erschien, begann der liebhaber zu zittern. Die realität der konkurrenz hatte er sich anders ausgemalt. Er wollte das masochistische spiel beenden, doch längst hatte es eigenleben gewonnen, die anderen beiden setzten es einfach fort, aus spiel wurde ernst. Um es nicht einzugestehen, spielte er wider willen wieder mit und ließ sich – symbolisch – fröhlich auspeitschen – und schluß. Nein, ein detail habe ich unterschlagen: der mächtige mann im pelz erschien von der seite und hinter ihm bedeckte ein montagsdemofoto mit devoten ddr-gesichtern die gesamte wand – mit einem schlag erhielt der privat anmutende dialog der kurgäste zu den machtverhältnissen in der liebe eine politische dimension, ohne daß es mit einem wort gesagt werden mußte…

Ophelia, bleiche Nebel

I
Schwer dröhnt die Milchstraße
Im Schwarz himmlischer Asphalte.
Hoch recken sich die Stengel-
Säulen irdischer Basalte.
Tief unten gurgelt einer seine
Liebe in die Aggregate.
Leichtfüßig läuft die Winterkatze
Von rechts nach links über die Straße.

Die Jagdgesellschaft ist verschwunden
Hinter dem Sternbild Kleiner Hund.
Die Zukunftsorgeln drehen sich
Ohne jeden Grund.
Die Chaosgrillen zirpen nicht,
Wo man sie singen heißt.
Ohnmächtig träumt der Bäckersfrau
Ein Nebel sternenweiß.

Leicht geht ein Wintersturm
Von Ost nach West über den Planeten.
Tief unter allen Felsenkrusten
Schwärt die Liebe der Osseten.
Hoch über zähen Lavaströmen
Gedeihet Frühbeets Kopfsalat.
Schwer hängt eine gequälte Seele
In ihres Herzens Apparat.

II
Ohnmächtig klimmen wir, blinde
Zeiger gen Mitternacht, Mitternacht.
Die ungeborenen Enkel, Enkel
Haben noch nichts falsch gemacht.

III
O Fallada, Ophelia!

Afrika, die Amerikas, Asien in den Ozeanen, Australien, aber natürlich auch Europa und seine Antarktis

Ein Mensch

Ist der Kuchen

Seiner Kinder –

Esst, esst und trinkt,

Damit es blühe

In euch –

Das Mitleid

Mit dem Körper

Dieser Welt,

Mitleid des Menschen

Mit dem Leiden jener Welt:

Süß fließt die Milch

Durch Honigland,

Scharf bläst der Wind

Aus den Stimmen hervor

Die Münder, Nasen, Augen

Auf der Haut, so

Tief im Ohr: Ein Kuchen –

Der Mensch

IN JEDEM LICHT GIBT ES

Einen Kern, so

Schwarz wie die Nacht

Noch vor ihrer Benennung –

Abwesenheit

Jeder Farbe, so

Grau glimmt die Bedeutung

Des Wortes, Gleichklang

Des Hirns mit dem Ohr –

Schwingen

& Gebrumm, 50 Hz

Und mehr, oder weniger noch

Ein Flügelgeschrei, so

Schwarz ist die Farbe

Wahrnehmungsgeformter Welt:

Begrenzt sich alles

Mit dem Flügelgebrumm

Seiner Gleichheit,

Krankheit in der

Plätschernden Wellenarchitektur

Von Raum und Zeit,  Wieder-

Kehr oder Zukunft,

Nichts außer es selbst

In seinen leuchtenden Grenzen.

In jedem Licht aber

Gibt es einen Kern, so

Schwarz wie die Sonne

Noch vor ihrer Benennung –

Erscheinen

Stummer Namen vor einem

Antlitz mit Augen noch

Die nichts sehen, Ohren

Die nichts hören, Namen

Die nichts meinen außer

Dass Du da bist

Und ich hier,

Dennoch

Hier bin

Am Nebentisch

zitrone-300.jpg 

Ich war in den verliebt. Ja, in den, links unten auf dem Foto. Ihm verfallen, zugegeben. In die Art verliebt, wie er seinen Arm über die angewinkelten Beine legte, kaum wusste, was er da tat. In Tweed gekleidet, zu gut für einen jungen Kunststudenten. Für einen jungen, armen Kunststudenten. Das Bild von ihm ist schon alt. Hat blasse Farben und Knicke am Rand, trägt Spuren von Fingern, Hautcreme und Küssen. Man tut immer so, als seien solche Aufnahmen lediglich für ein Magazin gemacht oder für die ganz jungen Mädchen, die willfährigen Opfer, die Sex noch mit Liebe verwechseln. Und wissen Sie, eine Frau in reifem Alter kann die Vergangenheit einholen. Verliebt. Wie bescheiden das klingt. Fällt Ihnen ein besseres Wort ein? Ja, sexuelle Entschiedenheit. Das Ergebnis langer Enthaltsamkeit. Oder wie erklären Sie sich das, wenn jemand beim Anblick eines in Tweed verhüllten Herrenbeines bereits schwach wird, es in der unteren Hälfte zu kribbeln und beinahe schmerzhaft zu zucken beginnt? Ich rede ja nicht von Rheuma. Glauben Sie, es gibt kaum etwas Gesünderes. Und was tue ich jetzt? Ich gehe zum Tablettenschrank. Ein Königreich für eine Schachtel Valium. Schaffe es kaum, mehr als einen halben und mehligen Apfel am Tag zu mir zu nehmen, vielleicht eine Walnuss, ungefähr die Größe seiner Nüsschen, die ich nie zu sehen bekam. Zum Teufel. Ich knabbere an der Walnuss. Während meine Zähne sie zerbeissen, kommt es mir fast so vor, als hätte sie nur darauf gewartet, mit ihnen Bekanntschaft zu machen. Das Knabbern eines Eichhörnchens kann nicht zärtlicher sein. Flinke und weithin unsichtbare Tiere sind mir die liebsten, und dann, wenn niemand hinschaut, könnte ich kurz mal einen Blick auf all das werfen, was der Tweedstoff da verhüllt. Wunschdenken. Ich Dumme, ich. Tablettenschrank, Vodka, mit Zitrone – oder ohne. Später dann, im Café, einen Herren am Nebentisch, der löffelt vielleicht gerade seinen Eiscafé aus. Ist um die fünfzig oder älter. Aber er trägt keinen Tweedanzug. Ein Feiner, der in Tweed. Ich werde also tun, was ich immer tue: ich winke der Kellnerin und bestelle die Zeitung.

Licht und Schatten

Hier die Erinnerung.

Dort die Zukunft.

Dazwischen nichts.

Der kreisende Bauch

Des Weltalls,

Immer & wieder da-

Zwischen. Gedicht. Ge-

Brumm, so

Bleibt was bleibt

Auf Erden:

Weg

Von der Pforte,

Grenze zwischen zwei Reichen,

Zurück in die Kindheit

Der lebenden Wesen.

Wenn alles vibriert in sich.

Wenn dann alles vibriert. Dann vibriert,

Vereinzelt Langeweile

Die literarische Klasse hat Leipzig verlassen. Auftritte der jungen unabhängigen Verlage sind außerhalb Leipzigs ein Publikumserfolg und stoßen auf regen Zuspruch. In Leipzig selbst haben sie jedoch kein Heimspiel: Die Leipziger lassen sie im Stich. Die Uni-Studentenschaft, einst berühmt für die Vielfalt der Orchideenfächer, rockt in den Diskokellern, zockt bei eBay oder hockt in biederen WGs. Die lokalen Medien entfachen keinen Trommelwirbel, um das im Untergang befindliche Verlagsgewerbe in Deutschlands einstiger Buchhauptstadt zu begleiten – mediales Schweigen als Grabkapelle. Die großen Verlagskonzerne haben der Stadt – mit Ausnahme des Kinderbuchverlages von Klett – den Rücken gekehrt. Kiepenheuer, Reclam, Insel – sie sind weg. Die Leser aber geben sich verwöhnt: Zur Buchmesse und bei hohem Besuch frisch gebackener Nobelpreisträger da erscheinen sie alle und wollen in der ersten Reihe sitzen, vom Oberbürgermeister bis zur Hobbyfotografin, die für ihr Kaffeekränzchen einen stolzen Schnappschuß von Prominenten benötigt.

Doch was hilft es zu jammern? Jammern gehört zum Verlegen, seitdem es dieses Geschäft gibt. Verleger sind unheilbar Hoffnungserfüllte – darin besteht gerade ihre Geschäftsidee: sie legen vor und spekulieren auf den späteren Gewinn, der immer häufiger ausbleibt, während die Kosten trotz Internet wachsen. Die jungen Leipziger Verleger aber können sich selbst an der Nase zupfen. Sie haben sich nichts überlegt, um ihren gemeinsamen Auftritt zum unglücklich benannten Festival „textenet.de“ zu gestalten, haben sich nichts überlegt, um den Laden zu füllen: weder ein gut gelegener Ort (der Josephkonsum ist eine besondere, aber keine besonders gut auffindbare und vom Laufpublikum begangene Adresse) noch eine besondere Zeit (die gleichzeitige Präsentation der Verlage mit der Eröffnung der Jahresausstellung hätte Kunst- und Literaturinteressierte zusammengeführt). Die Lesungen waren langatmig und bis auf eine Ausnahme komplett humorfrei. Es wurde keine Musik gespielt und es gab keine anständige Versorgung mit Kulinarien und spirituellen Getränken. (Geraucht wurde wie überall unspektakulär draußen vor der Tür …) Nicht einmal Schauspielstudenten waren eingeladen worden, die Texte der notorisch schlecht lesenden Autoren zu rezitieren. Es fehlten Youtube- und DJ-Einlagen, um den Textmarathon aufzulockern. Dem Moderator fehlten Biß und Beharrlichkeit, wahrscheinlich überhaupt ein übers naive äußere Wissen hinausgehendes Verständnis der Verlagsszene, um spannende Fragen zu stellen.

Also muß sich niemand wundern. Soviel Veranstaltungseinfalt wird selbstredend bestraft. Als hätte es das Publikum, das durch Abwesenheit glänzte, schon vorher gewußt. Auch wenn andernorts – zum Beispiel in Dresden oder München – das Interesse an der Literatur selbst noch genügt, um die Lesenden herbeizulocken. Freilich hätten – und dies ist der Hauptschmerzpunkt – sich die jungen Verleger zusammenschließen und nicht allein auf den trögen Veranstalter verlassen dürfen, sie hätten dagegen rebellieren müssen, daß sie zu Langweilern abgestuft werden, hätten sich mit ihren Vorstellungen durchsetzen müssen, um ein lohnenswertes Ereignis zu schaffen. Bücher allein genügen – heutzutage – nicht. Die Öde der Verlagspräsentation hatte also unmittelbar mit dem Einzelkämpfertum der Beteiligten zu tun, die sich lieber gegeneinander verschanzen und ihre subtilen Eitelkeiten kultivieren, als zu kooperieren, Ideen und Schlagkraft zu gewinnen. Wenn dieser Sonnabend etwas gezeigt hat, dann daß es gilt, die Vereinzelung zu überwinden.

Europa-Nachrichten

Gestern Abend wurde am Kernforschungsinstitut CERN bei Genf der weltgrößte Beschleuniger im zweiten Anlauf in Betrieb genommen. Der erste Durchlauf war im vergangenen Sommer nach 9 Tagen abgebrochen worden, als ein Kabel in einem Verbindungsschacht fast einen Brand verursachte. In der 27 km langen, unterirdischen Röhre kreisen die von Forschern systematisch vereinzelten Elementarteilchen um ein unsichtbares Zentrum. Solche Teilchen werden mit ihrem Verhalten die Bedingungen simulieren, aus denen der gegenwärtige Kosmos hervorgegangen sein soll. Umstritten ist in der interessierten Öffentlichkeit nach wie vor, ob die Entstehung eines neuen Universums im Ergebnis der experimentellen Extrembedingungen ausgeschlossen werden kann. Kritiker halten den Anhängern des Schreckensszenarios entgegen, dass auch zwei Weltkriege in den vergangenen hundert Jahren nicht vermocht hätten, die Lebensbedingungen der Menschheit grundlegend zu ändern.

Einwohner von Genf stehen dem Ereignis interessiert oder skeptisch gegenüber. Hinter einem Imbissstand in der Nähe des Marktplatzes brach gegen Mitternacht ein Feuer aus, das nach einigen Stunden von selbst verlöschte und keinen Schaden anrichtete.

Auf dem Flughafen von Prag gab es am gestrigen Abend einen Brand in der Flugleitzentrale. Die anstehenden Flüge nach Berlin, Dresden und Karlsbad wurden kurzfristig abgesagt. Etwa hundert Reisende mussten in einem Notquartier untergebracht werden. Da sich einige Reisende spontan bereit erklärten, die knappen Schlafplätze zu teilen, konnte eine drohende Überbelegung des Flughafenhotels unbürokratisch abgewendet werden. Die EU-Richtlinien zur Vermietung von Einzelzimmern schließen Doppelbelegungen kategorisch aus. Ob diese Regelung auch Notfälle umfasst, ist unter Brüsseler Experten nach wie vor umstritten.

In Sankt Peterburg versammelte sich am Morgen eine Menschenmenge, um des vor über 67 Jahren verstorbenen Dichters Daniil Charms zu gedenken. Am Rande der Feierlichkeiten kam es zu einem Unfall, bei dem drei Frauen mittleren Alters aus den Fenstern eines fünfstöckigen Wohnhauses stürzten. Laut Zeugenaussagen waren dem Unfall Gezeter, das Hissen zweier Bettlaken sowie der Versuch vorausgegangen, sich in zwanzig Metern Höhe über drei Hauseingänge hinweg zu verständigen. Ein Passant kommentierte den Vorfall mit den Worten, die Geschichte wiederhole sich. In der heutigen Nachmittagsausgabe eines lokalen Nachrichtensenders widersprach der Moderator völlig überraschend einem örtlichen Regierungsbeamten, der behauptet hatte, der tragische Vorfall sei Ausdruck des für Russland ganz normalen Chaos‘.

Spiegeldialog

Spiegeldialog

Du bist feist
geworden auf dem Fixierbett
des guten Willens
wähnst du dich sicher – und fett,
gefressen von deinen Fesseln.


Dein Gesicht, ein Mosaik
aus geplatzten Idealen.
Man verliert sich darin
wie in den Schmuddelgassen
einer Vorstadt – B o h è m e.

Ab und an schnallen Sie dich
los und du jonglierst müde
mit deiner Gesinnung, doch
die meiste Zeit liegst du da
mit sedierten Bewusstsein

Ab und an gießt du ein paar Tränen
über deine Narrenmaske,
dass sich die Farben verlaufen
und selbst das ehrlichste Gefühl
darin umkommen möchte.

Manchmal möchte man…
…dein Bild in Scherben legen.

kapitalismus + tagsüber

ich fahre mich von mir weg + im auto
wird die nacht zur hölle + bisweilen
blitzen + wie feuer + scheinwerfer
im spiegel auf + kalte gesichter
blicken fahl + auf den parkplätzen
sammeln sich die kolonnen + hier ruht
der kapitalismus + tagsüber rollt er
überrollt mich + ich fahre mich
weg + verliere mich im auto + finde
im zug zu mir + das ist der unterschied