Ossip Mandelstam, Verse vom unbekannten Soldaten

The centuries surround me with fire. Osip Mandelstam (1976) – YouTube

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Mag diese Luft also Zeuge sein,
Weithin reichendes Herz,
Und in den Hütten, allbekannt, steht der
Ozean ohne Fenster – Schmerz.

Ach, was sind doch die Sterne mitteilsam!
Alles müssen sie schauen – wofür? –
Für das Urteil zur Richter- und Zeugenschaft,
Für den blicklosen Ozean – Schmerz…

Regen, grußloser Sämann, erinnert sich noch
– und sein schmerzloses Manna zeugt –
Wie vielblättrige Kreuze deuteten hoch
Auf den Ozean oder den Keil.

Werden kalte und krumme Menschen hier
Töten, frieren und hungern hart, –
In seinem Grabe, sehen wir,
Liegt der unbekannte Soldat.

Lehre mich, krummes Schwälblein, das
Nicht mehr fliegt,
Wie dieses luftige Grab
Ohne Steuer und Flügel mein eigen wird,

Und für Lermontow Michail
Werde ich: Einstehn mit meinem Wort,
So wie der Bucklige Buckel sieht
Am luftig-durchlöcherten Ort.

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In Gestalt leise zuckender Weinbeeren
Bedrohen uns diese Welten,
Und es hängen als Städte leinfarben,
Als goldenes Sich-Räuspern, Verleumdungen,
Mit von giftiger Kälte Waldbeeren
Breitgeschmierter Sternbilder Festungen –
Goldene Tötungen Fette…

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Arabisches Mischfutter, Bruchsuppe,
Licht zum Strahl zermahlener Schnelle,
Und mit Fußsohlen schief wie Kruppe
Steht der Netzhautstrahl auf der Stelle.

Millionen für Geld getöteter Färsen
Trampelten frei einen leeren Pfad, –
Gute Nacht, alles Gute für sie
Im Namen der hüttigen Festungen.

Himmel, nicht anzueignender Graben –
Himmel von Toden, gratis und verzinster –
Auf deiner Spur, von dir weg, areté,
Tragen die Lippen mich durch das Finster, –

Für Schutzwälle, Bombentrichter und Ossip-Geröll,
In denen er zögerlich atmend erstarb:
Umgewendete – purpurner, pockengewölbter
Sich an die Erde schmiegender Genius des Grabs.

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Gut stirbt die Infanterie,
Und gut singt der nächtliche Chor
Über dem leicht geballten Lächeln Schwejks,
Und über der Vogel-Lanze Don Quijotes,
Und über des Ritters Vogel-Fuß-Ballen.
Und es hält mit dem Menschen Freundschaft der Krüppel –
Beide werden ihre Arbeit finden,
Und’s bekloppt die Einfriedung des Jahrhunderts
Die Holz-Krücken-Familie –
Hey, Menschheit, – Erdball!

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Soll denn dafür sich Schädel entwickeln
Bis zur Stirn – zwischen Schläfen weit,
Damit in seine teuren Höhlen
Nicht hineinreiche der Krieger Geleit?
Es entwickelt sich Schädel durch Leben
Bis zur Stirn – zwischen Schläfen weit,
Saubere Risse höhnen der Sicherheit,
Seine Kuppel sagt: So ist es eben,
Denken schäumt – selbst im Traum sich ergeben –
Schüsselsgrund jetzt und Heimaten Heimat hier –
Aus Sternennarben genähter Helm –
Glückes Käppchen – Vater Shakespeares…

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Eschene Klarheit, Bergahorns Scharfblick
Eilt leicht gerötet in sein Haus,
Gleichsam mit Ohnmachten überschwemmen sie
Beide Himmel mit trübem Brand.

Verbündet erscheint uns nur das Nützliche,
Vorn ist nicht Durchfall, sondern Durchmessen,
Und zu kämpfen für Luft zum Atmen –
Diesen Ruhm der Vorbilder kannst du vergessen.

Und, das Bewusstsein überschwemmend
In der Leere halbohnmächtigen Seins,
Schlürf ich denn wahllos diese Brühe,
Verspeise den eigenen Kopf unterm Brand?

Wurde denn dazu die Hülle erschaffen –
Liebreiz des Leichten im leeren Raum,
Damit Sternenweiß ohne Atem
Leicht gerötet eilt in sein Haus?

Hörest du, Muhme des himmlischen Tabor,
Nacht, was wird sein jetzt und einst?

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Es füllt sich mit Blut die Aorta
Und zischt durch die Reihen leis‘:
– Bin geboren vierundneunzig…
– Bin geboren neunzig und zwei…
Und, in der Faust wie Wolgatreidler
Presse ich der Geburten Jahr, und
Es zischelt der blutleere Mund selbst weiter:
Bin geboren nachts, vom zweiten zum dritten
Januar – im Jahre neunzig und eins
Einem schlechten Jahr – und die Jahrhunderte
Ziehn mich in ihren brennenden Kreis.

1. – 15. März 1937

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

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