Sommerfrische

Gegen Abend bereitete Vyvyan ein üppiges Menü zu. Er durfte nur wenig davon zu sich nehmen, denn das meiste, was da auf Tellern lag und in Schüsseln schwamm, löste bei ihm Atemnot aus. Eduard hatte ihn, als wir noch in der Stadt lebten, rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht. Jetzt waren wir isoliert von solchen Einrichtungen. Vyvyan gab uns ein Zeichen zuzugreifen und verließ das Zimmer.

An diesem Abend hatte ich keinen Appetit. Ich spürte eine feuchte Hand auf der Schulter und hörte dicht vor mir die Worte: „du solltest das Versmaß anders setzen, du mußt im Takt … die Monotonie …“ Ohne sich weiter zu rühren, rutschte die Hand in meinen Ausschnitt und verweilte dort. Direkt vor mir stand eine Platte mit Shrimps, die mit einer weißlich-grünen Sauce übergossen waren. Ein fischiger Geruch stieg daraus auf. Als ich mich nach links wandte, zog sich die Hand fast automatisch zurück.

„Weißt du eigentlich alles über Vyvyan, was du wissen solltest?“ Es war Eduard. Er besaß die Fähigkeit, mathematische Logik mit einem Gespür für lyrische Ströme zu verknüpfen . Obwohl er unfähig war, auch nur eine literarisch originelle Zeile zu produzieren. Alles, was er schrieb, roch nach Plagiat. Das allerdings beherrschte er so hervorragend, dass wir manchmal Schwierigkeiten hatten, Original von Kopie zu unterscheiden.

„Mein lieber Eduard, was sollte ich wissen?“ Im Nebenzimmer hustete Vyvyan. Warum setzte er sich nicht wenigstens zu uns? Fast eine Stunde hatte ich nun seine Bekannten bei Laune gehalten, deren Münder verarbeiteten, was sie zwischen die Zähne bekamen. Eduard griff nach einem Hühnerbein und tauchte es in die Fischsauce. „Eine Besonderheit, die nur wenige erlebt haben, die ihm nahe standen. Ich durfte sie genießen.“  Nun meldete sich der weißblonde Junge an Eduards anderer Seite zu Wort. „Ah, es geht wieder um das Altbekannte … meine Güte, wenn man bedenkt, was da die Hirnforschung in den letzten Jahren … habt ihr Vyvyans letztes Stück gelesen, mit dem dahinter…“ Der Junge kaute eingelegte Oliven und kleckerte dabei auf seinen Anzug. Eduard zog mit den Fingern die zähe Hühnerhaut vom Fleisch und strich sie an Vyvyans leerem Teller ab. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich zwang mich, von dem Pilzragout zu kosten, das der Junge mir von der gegenüberliegenden Seite des Tisches entgegenschob. Sein Gesicht war verschlossen, er sprach nicht gern über Vyvyan und seine Vorlieben. Sicher war es ihm nicht recht, dass ich hier saß. Das Tischgespräch behagte mir nicht. Der Weißblonde ging zu den Fenstern und schloss sie. Kein Luftzug regte sich in dem großen Eßzimmer. Mir schien, als würde es heute früher dunkel.

Ich nahm eine Kerze vom Buffet, steckte sie auf einen der gerundeten Messingständer. Dann bat ich den Jungen, sie anzuzünden. Er tat es gelangweilt, dumm und ungeschickt. Für einen Moment glaubte ich, zu ersticken. „Was soll denn das hier alles bedeuten?“, hörte ich mich, zu Eduard gewandt, fragen. „Ihr esst wie die Schweine, pudert und parfümiert euch wie die Weiber im achtzehnten Jahrhundert und verbreitet solch einen Mief, daß ein Lungenkranker umfällt.“

„Du hast zuviel im Zauberberg gelesen.“ Eduard lächelte ironisch. Ich hörte keine Geräusche aus dem Nebenzimmer mehr. „Rieche ich etwa nicht gut? Das wäre doch schade für unsere Verbindung.“ Im Freundeskreis hieß Eduard die Brüsseler Spitze, sein Wohnort kombiniert mit der Beschaffenheit seiner Zunge. Nein, er roch angenehm nach Vetiver, das musste ich zugeben.

Künstlerfamilie gegen Ende des Jahrhunderts

Aus dem siedenden Gold
Der Sonne tropft Licht.
Der Himmel ein blauer
Stoff, daraus die Schneiderin
Herbst ein Halstuch
Fertigen will – Schutz
Der Stimme vorm Chaos
Wahllos vibrierenden Raums.
Schubweise enthüllt sich
Die Zukunft, der Liebe
Haben Wolken & Schaum
Nichts entgegenzusetzen –
Wasser bleibt Wasser & was
ja – Was? Ich denke an Dich

* * *

Der Himmel senkt sich & die Blicke heben sich
Nach innen, nach innen oder wie kann diese
Nichtdrehung des Kopfs in den Raum, worin
Die noch wirre Mannigfalt/igkeit der Dinge ihren
Sinn in der Ruhe des Betrachters sucht, an//
?ers verstanden werden?

Beijing bei Regen

Im Grau verspäten sich die Geräusche : die Leute
ziehen sich aus ihrem Element zurück : verlassen
die Gassen : Orte zum Leben
verkriechen sich in geduckten Häuschen : nur der Weg

zum Gemeinschaftsklo zwingt sie hinaus : das Feuer
im Steinkohlegrill züngelt weiter : unverdrossen
gehütet vom Grillmeister : der nicht anders
kann : auch Schnee vertreibt ihn nicht

das ist mein Platz im Leben : mag es ungewohnt
ruhig werden ringsherum : die Bulldozer fressen sich
lärmend am Horizont : weiter ins Innere
der Stadt : die zweistöckig wiederaufersteht

mit hauchdünnen Blendfassaden : dahinter
flüchtige Moden : antiseptische Konsumorte
über diese Straßen werden keine schlachtfrischen
Rinder zum Grill getragen : hier ist das Kapital

in seinem Element : dein Portemonnaie
kannst du schlachten lassen & dich unterstellen
vorm Regen unterm Dach : von dem der rote Stern
hinableuchtet : einen verlogeneren

Kommunismus als in Beijing hat es nie gegeben
da lobe ich mir die Provinz : sie ist freier
die Bewohner der Hauptstadt
halten sich für Babylonier : während sie röhrend

den Rotz in die Stirnhöhle ziehen & sich
vor den Füßen des Nachbarn entladen : Beijinger
Gastfreundschaft : zum Glück gibts den Regen
der alle paar Wochen die Straßen reinigt

Die Perle

Am Anfang gab es nur den Himmel und das Paradies. Im Himmel wohnte Gott mit seinen Engelscharen und im Paradies lebten Tiere und Pflanzen. Gott saß auf seinem Thron oder ging mit seinem Gefolge spazieren, und immer spielte er mit seinem Rosenkranz und ließ die Perlen der Weisheit durch die Finger gleiten.
Da geschah es eines Tages, dass dem Herrn des Himmels eine seiner schönsten Perlen, die Perle der Erkenntnis, in einem Moment der Unachtsamkeit aus den Fingern glitt und sie versehentlich auf den Boden fallen ließ. Aber sie blieb nicht vor seinen Füßen liegen, sondern durchschlug mit ihrer ganzen Schwere den Wolkenboden und fiel und fiel und landete schließlich im Paradies bei den Tieren, wo sie eine Weile über die Hügel und Täler durchs grüne Gras rollte bis sie endlich am tiefsten Punkt liegen blieb. Da lag sie nun im grünen Paradies und leuchtete zum Himmel hinauf heller als die roten und blauen Beeren, von denen sich die Tiere ernährten. Gott und seine Engel begannen zu fürchteten, dass sich eins der Tiere beim Grasen die Perle versehentlich verschluckte und sich an der schweren Perle der Erkenntnis den Magen verdarb.
Aber keins der Tiere des Paradieses interessierte sich für die weiße Perle und sie ließen sich beim Fressen und Verdauen nicht weiter stören. Vorsorglich ließ Gott an der Stelle, an der die Perle der Erkenntnis ausgerollt war, das Gras rasch wachsen und bald war sie im dichten Gras verschwunden, sodass keins der Tiere sie bemerkte. Aber auch vom Himmel aus war sie nun nicht mehr zu sehen und bald hatten auch Gott und seine Engel die Stelle vergessen, an der die Perle nun für alle Ewigkeit liegen würde. Da war nun guter Rat teuer.
Seine Engel schauten sich ratlos an. Noch nie war es vorgekommen, dass einer aus dem Himmel ins Paradies zu den Tieren hatte hinuntersteigen müssen. Es wurde lange und ergebnislos debattiert, wie man die verlorene Perle aus dem Paradies entfernen und sie wieder heraufholen könnte, damit Gott seine Perlen der Weisheit wieder vollzählig in den Händen hätte. Es machte auch sie traurig, wenn sie ihn so niedergeschlagen sahen, wie er seine Perlen betrachtete, die ihm geblieben waren, die Perle der Gnade, die Perle der Barmherzigkeit, die Perle des gerechten Zorns – über sich selbst einmal zornig, und das göttliche Vergnügen, das ihm das Spiel mit den Perlen der Weisheit seit Ewigkeit bereitet hatte, war dahin. Die Perlen der göttlichen Allmacht und Liebe glänzten zwar kaum weniger als die Perle der Erkenntnis geglänzt hatte, aber das Bewusstsein, dass er sie aus eigener Leichtfertigkeit verloren hatte, umwölkte alle seine helle Freude und die restlichen Perlen der Weisheit, mit denen er in seinen Fingern weiterhin, wenn auch etwas vorsichtiger spielte, erschienen ihm auf einmal matt und stumpf. Auch hatte seine göttliche Vollkommenheit durch den Verlust der Perle der Erkenntnis Schaden genommen. Von all seinen guten Geistern verlassen, überlegte er hin und her und schließlich fand er ganz allein eine göttliche Lösung.
Er musste ein neues Tier schaffen! Es musste ein Tier sein, das seine Perle suchen würde. Und um die verlorene Perle zu finden, musste es intelligent sein. Er würde also dem neuen Tier ein Stück seiner göttlichen Weisheit abtreten müssen, gerade genug, damit es nach der Perle der Erkenntnis suchen, aber nicht nach mehr verlangen würde. Er gab dem neuen Geschöpf deshalb ein bisschen Verstand als erstes Hilfsmittel und etwas Neugierde. Es musste gerade neugierig genug sein, dass es nach der Perle der Erkenntnis suchen würde. So schuf Gott also den Menschen und rüstete ihn mit ein wenig Hunger nach Erkenntnis aus. So machte sich das neue Tier unverzüglich auf die Suche nach der Perle der Erkenntnis, um seinen Erkenntnishunger zu stillen. Und es bemüht sich noch immer, die Perle der Erkenntnis zu finden, ohne das Warum und Wozu und die näheren und weiteren Umstände seiner Suche zu kennen.

Geräusche in Beijing

Um sechs Uhr tritt der Hausherr auf die Straße
räkelt sich & spukt : nachdem er die Lunge
gut geprüft hat : ob sie noch zu trompeten
vermag : die Nachbarin keift mit dem Kind

die erste Kreissäge heult auf : ein Streit
entzündet sich an hartgekochten Eiern : die auf den Boden
knallen : jetzt wird aus allen Ecken geröhrt
& gespuckt : die Erde bedeckt sich

mit Aulen : glitschig & klebrig zugleich
aus dem Mund des zartfühlenden Mädchens : das eben
noch ins Handy haucht : landet die feuchte
Botschaft vor meinem Fuß : jede Putzfrau

ist per altersschwachem Funkgerät mit der Chefin
verbunden & schreit : wo sie ihr tägliches
Werk beginnen soll : jeden Morgen aufs Neue
auf einem Lastendreirad zieht der Altstoffhändler

seine Runden & kündigt mit melancholischem
Mantra sein Kommen an : wie ein tibetisches
Gebet folgt ihm der Singsang der Flaschen-
sammlerin : während ich Geräusche sammle

Und Lady Gaga singt mit Yoko

In den langen Schatten
Der Jahre dreht sich
Ein Fiebertraum um
Die eigene Achse –
Yesterday
Klingt die Erinnerung
An jugendliche Geigen,
Darin das Herz hüpft
Bis über den Scheitel –
Suddenly
Kaum dass die fremde
Sprache den Strom
Der Kindheits-
Wellen noch halten kann –
Why she
Und Mutter war zornig
Ich weiß nicht wieso
Ich unbedingt diese heiße
Kuhmilch trinken sollte –
Had to go
Und Vater beleidigte
Mich so gekonnt, dass
Ich Jahrzehnte brauchte
Den Witz zu verstehen –
Yesterday
Yesterday
Yesterday

Jahrhundertradio

Da heult ein Zug auf in der Ferne

„Eh bien, mon prince, Genes et Lucques ne sont plus que des apanages, Domänen, de la famille Buonaparte…“

„Et vous, jeune homme?“ redete er ihn an. „Wie fühlen Sie sich jetzt, mon brave?“ / Obwohl Fürst A. noch vor fünf Minuten den Soldaten, die ihn trugen, einige Worte hatte sagen können, schwieg er jetzt und beschränkte sich darauf, N. starr anzusehen. Alles, was N. beschäftigte, erschien ihm in diesem Augenblick so unbedeutend, und sein Heros selber erschien ihm so nichtig mit seiner kleinlichen Eitelkeit und Siegesfreude im Vergleich mit diesem hohen, gerechten und guten Himmel, den er gesehen und verstanden hatte, daß er sich nicht imstande fühlte, seine Frage zu beantworten.

Mit anderen hoffnungslos Verwundeten wurde Fürst Andrej dann der Fürsorge der Einheimischen anvertraut.

Primzahlen, und schau!

Einst warst du eins mit dir:

Das Tier und du warn nicht verschieden;

Das Blut war euer eigen wie der Blick.

Sie blökten und sie sangen,

Muhten und mühten sich.

Du aber gründetest eine Welt –

Der Kreis deiner Kinder nahm

Ihre Stelle ein. Ihr wart nun zwei : du und dein Kreis.

Um die Mitte wand sich ein ewiger

Pfad; jeder Schritt gradeaus war

Ein Gang in die Ferne. Du und dein Leib –

Die Welt aus der zwei … Später

Entdecktest du den Unterschied

In dir : Du, dein Leib und seine

Schwester. Bruder und Schwester. Die Schönheit ist un-

Teilbar, es sei denn – du willst es.

Fünfe sieben Elfe ~ dein Wille, geschehe

Portbou

der Tag ist so kurz, so lang ist die Nacht…

Zwischen den Steinen sickert das Wasser
Den Abhang hinunter : sich einfach
Fallen lassen, Erforschung
Der Schwerkraft im Moment
Ihrer Aufhebung – vielleicht
Bleibt am Ende der Messreihe
Das Lächeln eines Engels, auf der
Dem Paradiese abgewandten Seite.

Der Wind wird stärker. Die Lungen
Versuchen das Herz anzupumpen,
Das Herz – schlägt zurück und bleibt
Plötzlich stehen; noch
Fünf Minuten
Bis zum Ende des Lichts,

Bis zum endgültigen Anbrechen
Der ewigen Nacht unterm Himmel
Unterm Schädel, Jahrhunderttod

Überleben als Arbeit

Wenn der Atem stockt aber das Denken weitergeht
Wenn die Träume erwachen und wissen nichts
Weil nichts stimmt was Stimme hat

Wenn die Augen ins Rot starren und sehen die Farbe
Wenn die Ohren das Schwarz zu hören beginnen
Weil es innen im Blau wohnt

Wenn es innen sich dehnt wie im Fernrohr
Wenn es eine große Erinnerung wird
Weil einst die Welt, erschaffen

Offene Zimmer

Tritt näher,

lass mich mein Haus mit dir teilen.
Und sind auch Zweifel und Angst deine Begleiter,
du darfst sie mit hereinbringen,
– sie sind hier nicht fremd.

Ich muss mich entschuldigen,
es ist alles etwas
durchgesessen, die Ideale,
die Zeit, die süßen Versprechen.

Ich kann dir nicht mehr bieten
als den Schrecken und die Lust
dieser offenen Zimmer.

Wenn du magst, tanzen wir hier
Pirouetten um unser Leben,
ein sinnliches Verhängnis
wie Motte und Licht.

Doch zum Abschied

schenke meinen Spiegeln dein Lächeln
und ehe du gehst,
erleichtere mich
um ein paar Einsamkeiten.

13.09.2010 – 21 Uhr, f. H.R.

Hinterm Weiß
Das pulsierende Spektrum –
Kanäle voller Mondwasser
Tunnel im Trichter des Tages
Darin das letzte Licht
Kurz aufschäumt
Und dann verstummt –
Die letzten gewisperten Worte
Verglühen am Horizont
Bevor die Ferne ganz
Besitz von ihm ergreift
Hinterm Weiß
In der dunklen Mischung des Abends

Gezierte Erfahrung : Experiment mit Affekten : Drückings Vision

Ich finde, das Wetter ist bezaubernd,

Und erbitte den reizenden Federfinger

Elegant die Betonung zu wechseln,

Damit so es sei :  das Wetter in B. – Sau[Bernd!
xxx Tod auf Rädern 3o9 kommt in die Jahre, dort
yyy hinten weiß auf dem Weg erhob sich und steht
zzz ein Seher[Sau,Recke/mit Augenklappe!! zyx

Der Abend? Ein Baum? Eine meiner Launen?

Ach, gestattet diesen Text mir mit Augenklappern!
xyz Eher Sau,Recke 3o9 als Tod im Körbchen zyx

An Ihn trete ich heran elegant / gemessenen Schrittes.

Und, mich verbeugend, ruf ich : falls Sie nicht die
xxxxxxxxxxxxxxxx Bedeutung von / der Liebe Sauberey
yyyyyyyyyyyyyyyy negieren / ablehnen,

So ruf ich Sie zum Abendfeuer / zur Abendfeier.

Da werden Frauen- und Männer (träume) sein,

Und zwischen Fingern im Glas (werden / Schäume) sein.

Mit den Fingern ein Wölkchen erhaschend,

Empfängt der Wind den Schlag von Ihr & nicht von Ihr.

Und die mit/von / in den Augen geborgten / entzündeten Glühwürmchen/Leuchtkäfer / Fackeln

Sagen mir, dass B.s/ziehungen in die jenseitige Welt (nicht lange fackeln)

Mannigfaltigkeit [3, 3]

Zur gleichen Zeit, als sich in einem Haus mit Garten südlich der Hauptstadt die Runde versammelt, der es bestimmt sein sollte, in Raum und Zeit zum Tisch zu werden, der weitere Wunder ankündigen würde (Esel mit Wasserzeichen zwischen den Augen? Knüppel in Knüppelsäcken?) – es muss aber zu der Zeit gewesen sein, da die Sonne sich mit ihrem Gelb bereits als Ahnung in den entferntesten Zweigen der grünen Bäume eingenistet hatte – liegt Johnny träge unterm Himmel, dessen strahlendes Licht in den Schneeresten neben seinem Rucksack ein schmutziges Gleißen hinterlässt. Keine Ahnung, keine Frage. In der Ferne rotierten die Galaxien in ihren Haufen und hinterließen in den Kopfhörern der Observatorien ein leises Rauschen. Hinterlassenschaft, Schlummern. In den Schlummer hinein mischt sich ein Gesicht – schwer zu bestimmen, woher. Johnny schlummert ein Weilchen. Hitze und Wind, die Haut dampft wie ein Haufen frischer Erde. Nach der Rast setzen sich Johnny und Mickey schweigend in Bewegung. Es ist schon spät. Bis zum Zeltplatz sind es noch einige Kilometer. Am Haus fährt ein Auto vorbei. Der Garten taucht allmählich in abendliches Licht. Sie beschließen, den Text noch einmal zu überarbeiten und in der nächsten Woche endgültig darüber abzustimmen. Es ging um viel. Konsens minus Null. Es ging um alles.

Sinnile Profile

Liebe Gemeinde. Oder wie sagt man unter Dichtern und Denkern : Liebe Köpfe. Oder sollte ich besser sagen : Liebe Schreiberlinge. Und Linginnen. Linglong, Hauptsache lieb. Jedenfalls geht hier etwas Liebenswertes den Bach hinunter, was doch den Berg erklimmen sollte. Russisches Geschwätz und englisches Palaver füllen die Spalten der Kommentare. Wofür wirbt hier er, oder darbt da wer ? Tribut ans Medium ? Überblickt das noch jemand ? Und die Beiträge ? Bedeutungsschwangerer Kurzsinn. Wenns doch ein Leichtsinn wäre. Auch Trübsinn wär Gewinn. Wahnsinn war schon. Scharfsinn scheitert. Sinnlos, sinnfrei, sinnlich, hoppla, das war wohl ein Irrtum. Vielleicht greifen wir ja nächstens zur Sinnkarte, blue velvet, um unsere völlig zeitlosen und geschmacksneutralen Botschaften zu übermitteln. Sinnkrise. Sinn-Leffers war ja auch schon mal pleite und hat es überlebt. Aber das ist ein Textilfilialist und kein Sprachverwalter. Also was. Konkurs anmelden ?

Die Nacht in Erdöl versunken:

Auf dem Meeresgrund

Die Sonne in

Tiefer Meditation; so

Tot kein Herz kein Ohr

Dessen Trommelfell –

Hitzige Paarung

Dreier Augen & After –

Nicht schon auf dem

Asphalt, Asphalt

Der Milchstraße gekocht hätte

Anoushehs Traum

Eines Nachts öffnete sich der Himmel
Über der Stadt die Engel
Hatten einen Schrotthaufen
Von der Größe eines Kinder-
Zimmers nach außerhalb
Der bewohnten Zonen
Geschossen; meine Glieder
Begannen zu jucken – Griff
Des Auges nach den Sternen:
Farbe und Bewegung verschmolzen
Zu einem Film ohnegleichen (ich sehe
Die Schneehasen hoppeln durch eine
Schwerelos-Endlosschleife puls-
Ierender Kindheit, Ierender Kindheit
Von auf der Tonspur lichtlosen Denkens
Heraus geschnittenen Parabeln) nichts
Andres ergibt mehr ein Gleichgewicht
– – – – – – Seitdem arbeite ich
An den Stellen meines Lebens wo
Es über die Oberfläche hinaus
Schwappt Fisch wo die Dinge zwischen
Fall und Befreiung schweben wo
wir die Sonnensegel hissten

(Frei : featuring : Kubrick : SPACE TOURISTS. 2009)

Behindertes Begehren

Ein gutes Buch ist so selten wie ein guter Banker, ein guter Lehrer, ein guter Arzt, ein guter Journalist. Eines der besseren Bücher der guten Bücher ist „Ruf mich bei deinem Namen“ des Amerikaners André Aciman, der in Alexandria geboren wurde. Der Roman beginnt: „´Später!´. Das Wort, die Stimme, die Attitüde. Ich hatte noch nie erlebt, dass sich jemand mit einem ´Später´ verabschiedete -…“. Auch ein Trivialroman könnte so beginnen und hätte dann einen ausgezeichneten Anfang. Acimans Roman ist alles andere als trivial, obwohl seine Story, oberflächlich betrachtet, nicht fern des Trivialen ist. Simpel gesagt: Was die Leser zu lesen bekommen ist eine Sommer-Sonne-Strand-Geschichte, die am häuslichen Pool, an italienischen Gestaden, in geräumiger Professorenvilla, im provinzialischen Städtchen unter südlichen Himmel stattfindet. In dieser Umgebung und Atmosphäre treffen zwei „Knaben“ aufeinander: der 17-jährige Professorenbengel Oliver und der aus den USA angereiste Student David. Trotz ihrer Jugendlichkeit sind die Beiden geprägte Persönlichkeiten, die ihrer natürlichen Unmittelbarkeit hinderlich ist. Diese Behinderung, auch im Begehren, weiß der Erzähler geschickt in feinsinnigen Szenen zu variieren. So ist für die dauernde Spannung des Romans gesorgt. Das Erwarten, das Unerfülltsein, das Wiedererwarten, das Wiederunerfülltsein garantieren das Auf und Ab, das die Neugier der Leser immer neu anstachelt, obwohl der Roman in den Handlungen eher handlungsarm ist. Die eigentliche Bewegung findet in den Gedanken der gleichermaßen musisch begabten und orientierten Hauptpersonen statt. Immer dominiert das Geistige, obwohl das körperliche Begehren, also die schwer zu bekennenden, dann doch mit ungeteilter Lust zu lebenden Gefühle, maßgeblich die Begegnung von David und Oliver bestimmen. Sie sind Empfindsame, überaus Empfindsame, die unentschieden sind in ihrer Entschiedenheit. Ihre Gefühle pendeln: Von Frau zu Mann, von Mann zu Frau. David und Oliver erleben sich in ihrem Unvermögen, angesichts aller möglichen Möglichkeiten. Sie erfahren miteinander, in ihrer Unvollkommenheit, Momente des Vollkommenseins. Sie sind Menschen voller Spaß an der gebildeten, bildenden Sprache, Menschen, die sich aussprechen wollen und immer wieder einander sprachlos machen.

Kurzum, sie sind nicht einfache schlichte Menschen. Sie sind zu schön, zu klug, zu selbstgewiß. Zumindest werden sie so vom Autor aus gutem Grunde geschildert. Er will Distanz zu den Figuren, will dass sich niemand verliebt in die Schönheit, die Klugheit, die Selbstgewißheit. Das wäre die Sache des Trivialromans. Das wäre die Sache eines schwülstigen Schwulenromans. Das wäre die Sache eines beliebigen Unterhaltungsromans.

„Ruf mich bei deinem Namen“ ist ein unterhaltender Roman eines starken, sprachkundigen Schriftstellers. Der Roman hat die Qualität, die einst eine Erzählung wie Stefan Zweigs „Verwirrung der Gefühle“ oder James Baldwins Roman „Giovannis Zimmer“ hatten. Das Sprachbewußtsein von André Aciman bestimmt die literarische Konstruktion seines Romans. Szenen und Dialoge sind derart konzentriert und komprimiert, dass sie ohne weiteres in ein anderes Medium zu übertragen sind. Der Leser des Buches sieht einen Film. In dem ist mehr zu sehen als nur eine Sommergeschichte. Die Leser nehmen teil an Lebens-, Menschengeschichten, die, in ihrer Besonderheit, so besonders dann doch nicht sind. Das ist das Gute, das André Aciman so gut geschildert hat, dass sein Roman mit Genuß gelesen werden kann. Mit Genuß? Kann man das heute noch sagen? Ja, warum denn nicht? Weil einem so viele Bücher gar keinen Genuß mehr bieten?!

André Aciman: Ruf mich bei deinem Namen. Aus dem Amerikanischen Renate Orth-Guttmann. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 2010. dtv 13894. 286 Seiten

Begierde begehrenswert ?

Hat sich wohl allmählich so entwickelt! Das, was „erotischer“ Roman genannt wird, ist eine Domäne der Damen geworden. Eine Wahrnehmung, die nicht erst aufkommt, wenn einem die Anthologie „Heiße Begierde“ zwischen die Finger gerät. Elf Frauen und drei Männer wurden von einer Herausgeberin namens Marie van Helden eingeladen, etwas zum Mehr-Personen-Sex zum besten zu geben. Schlicht gesagt, die Schreiber unterhalten mehr oder weniger flott mit Storys von mehr oder weniger flotten Dreiern. Wer will, kann auch Orgie dazu sagen. Wer Orgie sagt und erwartet, kann auch von Geschichten sprechen, die den Vorzug haben, voller orgiastischer Vollendung zu sein. Wenn das keine traumhaften Phantasien sind! Phantastische Phantasien sind´s, die in der Mehrzahl auch als pure Pornographie abgetan werden können, sofern zwischen Erotik und Porno zu unterscheiden ist.
Leichter und bestimmter ist festzustellen und festzulegen, wie eine Geschichte geschrieben wurde. Die meisten wurden von Leuten verfaßt, die mit Maske Courage zeigen das heißt, sich hinterm Keuschheitstuch des Pseudonyms verbergen. Desto maskenhafter, desto konstruierter, schlüpfriger, schematischer, also schlechter die Geschichte. „Locker machen“ wird den Begierig-Begehrenden eins ums andere Mal zugerufen! Das Lockermachen hätte die Sache der Geschichtenschreiber sein sollen. Dann wäre sicher mehr Spaß in den körperlichen Umschlingungen und Verschlingungen gewesen, weil Sex, wie bekannt, zuerst im Kopf anfängt. In den Storys stürzen sich Gehirnlose gern zu schnell aufs und ins Geschlechtliche. Das ist dann der Höhepunkt – der Phantasielosigkeit der erotischen Phantasie.
Eine erotische Geschichte muß keine Trivialgeschichte äußerer Effekte und so der Effekthascherei sein. Sinnlichkeit und Sinnigkeit des Sex ist in den Texten so arrivierter Autorinnen wie Anne West und Nina George. Ihre Beiträge machen die Anthologie zu einem Musterbuch heißbegehrter Erotika. Jener Erotik, die Geist, Witz, Charme hat, weil sie geistreich, witzig, ernsthaft-ironisch geschrieben ist. So wird die Lust am Lesen lustvoller Geschichten geweckt und gesteigert. So wird die Last des Lesens lustloser Lustgeschichten eliminiert. „Heiße Begierde“ muß man nicht begehren. „Heiße Begierde“ gelesen, ist gut zu unterscheiden, was im Begehren weniger begehrenswert ist.
Heiße Begierde. Erotische Phantasien. Hg. Marie van Helden. KnaurTaschenbuch Verlag: München 2010. Bd. 50532, 294 Seiten, 7,95 Euro

Moldau

zwischen Fels & Laubwäldern schlängelst du dich
hindurch : von den großen Völkern mißachtet
überrannt von Kelten & Langobarden
die Tschechen haben den Fluß : der ihnen heilig ist

zum Strom gestaut : böhmisches Meer
nun füllt es die Täler : untergegangen
sind die Schaufelraddampfer : kein Nebel
kann aufsteigen : alles ist Moldau

an den Ufer angeln die Männer still
kleine Fische : sie brauchen nicht viel
um glücklich zu sein : das macht ihre Größe
aus : im Vergleich zu großen Männern

die ihr Selbstbewußtsein in Jachten & Villen : im Equipement
zeigen : die Frauen ruhen still
im Schatten unter raschelnden : hohen Birken
genug : um einen kühlen Kopf zu bewahren

zwei Kajaks aneinander gebunden : fertig ist das Schiff
Opa & Maminka : Kind & Kegel
drauf verfrachtet : schon treten sie an
die jährliche Pilgerreise : die Moldau hinab & hinauf

an den Ufern ankern die Hütten
der tschechischen Weisen : unterm Drbákov
einem grüngefleckten Schaf : das sich sanft
zum Schlaf streckt : die Vorderläufe eingeknickt

lagern pensionierte Drachentöter : strecken die Füße aus
auf ihren gelandeten Booten : auf vier Beinen
hochgebockt : schweben sie in der Luft
die Kämpen von einst haben die Schlacht

gegen die Baugenehmigungsbehörde gewonnen
die Moldau strömt gleichgültig unter den Booten hinweg

Aki im Wunderland

Das Buch der Bücher des Leipziger Schriftstellers Thomas Böhme heißt „Schnakenhascher“. Der bislang umfänglichste Roman des Autors ist eines der drei Bücher („Heikles Handwerk“, „Martha“), die in diesen Monaten erschienen.
„Schnakenhascher“ ist die Zusammenfassung und in der Zusammenfassung die ausführlichste Erweiterung vieler erzählerischer Arbeiten, die der Verfasser seit zwei Jahrzehnten schreibt und den die Literaturkritik, wenn sie ihn denn beachtet, hartnäckig als Lyriker vorstellte. Böhme ist ein Erzähler, dem die allgemeine Unaufmerksamkeit die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit bisher versagte. Armer Autor! Noch ist Zeit genug nachzuholen, was nachzuholen ist, wie das jüngst für Walter Kappacher und Peter Wawerzinek der Fall war. Der Roman „Schnakenhascher“ ist beste literarische Lektüre und nicht nur etwas für versierte Leser. Den Titel kann man provokant nennen, ihn als peinlich empfinden oder, ganz im Gegensatz dazu, als poetisch. Und das ist nicht nur der Titel!
Mit „Schnakenhascher“ haben die Leser eines der poetischsten Prosabücher der deutschen Sprache der letzten Jahre in der Hand. „Schnakenhascher“ ist das Buch eines Traumes, den sich der Erzähler erträumte, für den „Der Traum als Gesamtkunstwerk“ das selbstverständlich Erstrebenswerte ist. Der Roman ist das Gesamtkunstwerk einer verträumten und somit traumhaften Kindheit. Und nun sage einer: Kindheit hat nichts mit Träumen, mit Traumhaften zu tun. Die von Thomas Böhme erzählte Traum-Kindheit ist keine wahre Kindheitsgeschichte. Böhme ist der spielerische Sinn nicht abhanden gekommen, der schlichte Kindertage zu den schönsten Kindertagen machen kann. Der Roman ist das phantasievollste Spiel mit der Phantasie, die der phantasierende Erzähler leisten konnte. Ganz und gar zum Vorteil der Leser, die in der Wirklichkeit Zeiten und Orte bestimmen können, die dem Roman den Stoff lieferten. Wer es braucht, kann ohne Schwierigkeiten ausmachen, dass er in eine bekannte, mitteldeutsche Stadt (Lulu) mitgenommen wird, die seit Jahrhunderten für ihre Messen bekannt genug ist. Wer es braucht, weiß sich sofort in den sechziger Jahren. In den Zeiten, da John F.-Kennedy ermordet wurde und die Kontrolleure des Warschauer Paktes die Hoffnung, die Sozialismus genannt wurde, endgültig in Prag erwürgten. Und wer´s nicht lassen kann, spricht von einer Kindheit in der DDR, die – außer im Nachwort des Verfassers – nicht mal mit den drei Buchstaben erwähnt wird. Alles, was es zu erzählen gibt, konzentriert sich auf die Brüder Alexander und Raul Liebezeit in Unschlittstraße 23. Versachlicht gesagt auf die Kindheit Alexanders, der mit Inbrunst in sich die Idee vom idealen Bruder Raul hegt und pflegt, dass sich sowas von Bruder jeder wünscht. Dass der liebenswerte und geliebte Bruder spurlos verschwindet als Alexander und auch Raul die Grenze überschreiten, die aus dem Kindesalter führt, wird wohl niemand wundern. So muß das sein, als sich Akis Wunderland in der Erwachsenenwelt verliert! Wer will von der noch etwas wissen? Der Erzähler, der alles im Blick hat und zu ordnen versucht, ist nie gänzlich abwesend und sendet immer wieder schwache Signale aus seiner belasteten Schriftsteller-Existenz. Ob nötig oder unnötig fragt man kaum. Als ironische Eitelkeiten des Erzählers können gelten, was gar keine Eitelkeiten sind, wohl aber mit der Geschichte Alexanders – einer „Kindheit im Bernstein“ – zu tun haben. Dieses Bild vom Bernstein im Sinn, erübrigt es sich, nach dem Sinn des Realen in der erzählten Kindheitsgeschichte zu fragen oder gar zu forschen. Das Buch ist eine Realität, eine literarische Realität, die ihre unverwechselbare Qualität hat.
Kinderland ist ein Lieblingsland vieler Literaten, also nicht nur ein Tummelplatz von Thomas Böhme. Sein Kinderland ist ein Platz, den er sich erdichtet hat, um sich in ihm wohlzufühlen. Um „Dinge“ fühlend zu erleben „an die sich niemand sonst mehr erinnern will“. Um dieses Erinnerns willen hat der Erzähler angestrengt und unangestrengt seine Fabulierlust und –kunst mobilisiert. Durch das Fabulieren bestimmt Böhme die Bedeutung seines Buches nicht durch das Traditionsthema Kindheit. Der Fabulierer gibt seinen Figuren Namen von Thomas Mann´scher Art. Wo sonst finden sich Namen wie Pagenstecher oder Liebeszeit, der des Bruderpaares, deren Zeit eine Zeit des Liebens ist? Eine Zeit, in der alles erotisch ist. Ohne Erotik ist keine Liebe eine gute Liebe. Der gesamte Roman, in all seinen episodischen Erzählungen, ist ein erotischer, erotisierender Roman. Erotik ist für Thomas Böhme nicht nur in der Liebe da. Das Sehnen ist voller Erotik, wie der Schmerz, wie das Sterben. Sich derart der Erotik verbunden zu fühlen, bedeutet für den Fabulierer zu den besten Bemerkungen, Beobachtungen, Betrachtungen nicht nur bereit zu sein, sondern in der Lage, in den Bemerkungen, Beobachtungen, Betrachtungen das Beste an Erzählerischem möglich zu machen. So wird der Erzähler fortwährend zu einem Anreger für die Leser. Ihnen wird der Roman nicht zu einem beliebigen Objekt, das sie veranlaßt, ständig zu vergleichen, was wie in der eigenen Kindheit war wie in dem Roman, sofern man seine Kindheit in den Sechzigern des Vorjahrhunderts hatte. Der Roman entgrenzt die eigene Kindheit. Erlöst er sie aus dem Bernstein, in der sie für den Verfasser eingeschlossen ist? Mit dem Roman in der Hand werden so manche Leser zum anderen Autor, neben dem Autor, die auf ihre Weise ihre Kindheit erschließen. Die Kindheit ist eine der ergiebigsten Zeiten des Entdeckens und die Zeit des Entdeckens der Kindheit eine der ergiebigsten des Lebens. Wie profan, dass alles seine Zeit hat! Wie poetisch alles Zeit sein kann, das ist erlesbar und so erlebar in Thomas Böhmes Roman „Der Schnakenhascher“.
Thomas Böhme: Der Schnakenhascher. Edition Cornelius. Projekte Verlag Cornelius: Halle 2010. 273 Seiten, Geb., 17,50 Euro

Poetischer Planet

Was hat sich Franz Kafka dabei gedacht? Hat er sich was gedacht, als er hämisch-abweisend von der „Kuh vom Kurfürstendamm“ sprach? Die Zurückgewiesene war die Dichterin Else Lasker-Schüler. Nicht nur Kafka wich der Frau gern aus.
Was hat sich Kerstin Decker dabei gedacht, die abfällige Bemerkung Kafkas in ihrem Buch „Mein Herz – Niemanden“ zu zitieren? Die Autorin offeriert das Buch nicht als Biographie. Es ist eine Biographie. Keine simple chronologische Darstellung eines Lebens. Sich über „Das Leben der Else Lasker-Schüler“ zu äußern, bedeutete der Autorin, darauf zu achten, was maßgeblich die Biographie bestimmte, um alle Achtsamkeit auf die bestimmenden Aspekte zu lenken. In der Beschäftigung mit der Anderen, hat sich die Autorin ihre Autonomie als Schreiberin bewahrt. Das Buch über und zu Else Lasker-Schüler ist die Biographie einer ausgewiesenen Biographin. Eigenes in der Entdeckung des Fremden nicht zu unterdrücken heißt, sich der Absicht und des Auftrags der biographischen Darstellung bewußt zu sein. Kerstin Decker schreibt: „Es ist die Pflicht der Biographen, Rätsel zu lösen“. Welches Leben ist ohne Rätsel? Das der Lasker-Schüler ist eines der Rätselhaftesten in der deutschen Literatur. Die Verfasserin hütet sich, Lösungen für ausgemachte Rätsel anzubieten. Alle Geheimnisse der Lebensgeschichte der Dichterin und ihre Dichtungen aufzulösen hieße, sie auf die Realität zu reduzieren, der sie sich entzogen hatte. In der Annäherung an die Dichterin bleibt Decker in der nötigen wie respektablem Distanz. Sie biedert sich der Dichterin nicht an. Sie artikuliert Zweifel, wenn immer Zweifel in ihr sind, ohne die unverhohlene Zuneigung in Zweifel zu ziehen.
Die in Wuppertal als Else Schüler Geborene war ein Wesen, das Manchem als ein Wesen aus einer anderen Welt erschien. Die Einen sahen sie als wandelnden Schmuckkasten, Andere als eine überkandidelte Orientalin. Sie wurde verdächtigt, eine stille Opiumnascherin zu sein. Nicht auf Äußerliches aus, kann Kerstin Decker über die auffällige Äußerlichkeit der Frau nicht hinwegsehen. „Sie ist eine, auf die man mit dem Finger zeigt“, stellt die Biographin fest. Das praktische Leben überforderte Else Lasker-Schüler. Sie war eine Forderin, die fortwährend überforderte. Im Leben wie in der Literatur. Als ließen sich Leben und Literatur trennen! Vor allem, wenn von Lasker-Schüler gesprochen wird, die nie langweilig leben konnte. Nun vom Leiden und den Leidenschaften im Sein und Schreiben reden? Das wäre zu einfach. Decker macht sich nichts einfach und nichts Einfaches. Wissen will sie, warum die Dichterin wie war. Sagen will sie, was ihr zum Warum und Wie zu sagen möglich ist. Sagen also, was nicht, was so noch nicht gesagt wurde!
Kerstin Decker nimmt wahr, welches die seelischen Wahrheiten der Dichterin waren, die die Wahrheiten ihrer Dichtung wurden. Wieder und Wieder wird Lyrisches zitiert, um Beziehung und Bindung des Literarischen zum Leben nicht nur anzudeuten. Das Authentisch-Lyrische gilt. Die Autorin muß nicht analysieren. „Diese Frau ist heimatfühlig“, ist lakonisch notiert. Die Bedeutung dieser Bemerkung begreifbar zu machen, ist eine Aufgabe von „Mein Herz – Niemanden“. Ihre Einsichten formuliert die Verfasserin formelhaft knapp, sobald sie die passenden biographischen Ereignisse aufruft oder aufgerufen hat.
„Heimatfühlig“ zu sein bedeutet, Wuppertal und dem Bergischen Land willig wie unwillig verbunden zu bleiben. In Berlin Charlottenburg, wo Lasker-Schüler ihr vitales Vagabundenleben Jahrzehnte lebte. In Jerusalem, wo die jüdische Emigrantin 1945 starb. Wo sich Lasker-Schüler, in des Wortes Sinne, durchs Leben schlug, sie war die Verletzte, die in ihrer Existenz gefährdete, die nie eine verbindlich Unverbindliche sein konnte. Im Verlangen, Selbst zu sein, war sie eine Spielerin, die keine Grenzen kannte. Alles war ihr das Möglich-Unmögliche oder Unmöglich-Mögliche. Gelebte Individualität verlangte ihren Preis. Else Lasker-Schüler zahlte, zahlte und zahlte. In ihren Lieben und Freundschaften. In ihrer Mutterschaft, die durch den Tod des 27jährigen Sohnes Paul tief verletzt wurde. Wenn, dann gehörte Paul das Herz der Lasker-Schüler. Keiner Konvention verbunden, allem Konventionellen widerstehend und widerstrebend, existierte die Dichterin in ihrem poetischen Planetensystem, in dem sie auf Entdeckungen aus war, um die phantastischsten Entdeckungen zu machen. Um sich lebenslang als ewig 14jähriger Knabe zu fühlen. Um als Tino, Prinz von Bagdad, als Jussuf, Prinz von Theben, durch die Tage zu ziehen. „Der Nur-Mann, die Nur-Frau wären keine Schöpfer. Das Schöpferische ist zweipolig“, ist einer der Schlüsselsätze zu Leben und Werk der Dichterin.
Substanzielle Sätze dieser Art sind Teil der Qualität des Buches, die nicht das Selbstverständliche ist. „Mein Herz – Niemanden“ ist keine bloße Fleißarbeit. Es ist die fleißige Arbeit der Autorin, die sich aufs Verstehen und Verständigen versteht. Das Prinzip der Collage, die geschickt Angeeignetes und Eigenes vereint, von Sigrid Damm seit Jahrzehnten praktiziert, ist auch das verbindliche Prinzip für die Lebensdarstellung der Lasker-Schüler. Beide Schriftstellerinnen, die aus Ost-Deutschland kommen, bringen der deutschsprachigen Literatur das Schreiben von Biographien neu bei. Das ist ein Ereignis, wenn Seele Seele erkennt wie in „Mein Herz – Niemanden“. Es ist ein frohes Aufatmen, wenn man durch das Buch ist. Es muß ein Aufatmen in Kerstin Decker gewesen sein, als der letzte Arbeitszettel ad acta gelegt wurde und der letzte Satz geschrieben. Welch eine Biographie! Welch eine Biographin!

Kerstin Decker: Mein Herz – Niemanden. Das Leben der Else Lasker-Schüler. Propyläen Verlag: Berlin 2009. 473 Seiten, Geb., 22,90 Euro

steifer iro auf kahlem kopf

Schleußig : scheußlich
Sollte es heißen : denn geschleußt
Wird hier niemand mehr : die schieber
Haben sich verkrochen : stehkragenproletariat
Bevölkert die jugendstilhütten & weiß
Nichts davon : weiß vor allem nichts von sich
Von der allgegenwärtigen angst vorm abstieg
In schleußigs hinterhöfen sitzt es sich
So schön im grünen : die kinder
Können sicher spielen zwischen den zäunen : hier
Brüllt niemand in die idylle : weil fern
Irgendwo ein tor fällt : die säufer
Klammern sich still ans tägliche bier
Am stromkasten & vermeiden es
Auf den gehweg zu kotzen : denn der ist heilig
Den heiligen autos vorbehalten : die hier ungestraft
Parken & kleine kinder anfahren : morgens
Auf dem weg zur arbeit : wenn alles schnell
Gehen (sprich fahren) muß : selbst der punker
Mit seinem steifen iro auf dem kahlen kopf
Beschwert sich & ruft das ordnungsamt
Nach schleußig : wenn einmal im jahr zu lange
in die nacht gefeiert wird mit gedichten : musik & wein