nocturne (elfter gesang)

wer mich kannte wusste
dass ich gedichte vom himmel herunter log
in ihnen schwammen fische durch leuchtreklamen
stiegen über den schildern luft- und sprechblasen auf
in die lichtglocke über der stadt
wurden stimmen beschworen
urtümliche laute aus u-bahnschächten
mischten sich mit dem rascheln der lindenblätter
vom warschauer platz vom czernowitzer platz
vom donauufer in budapest und vom schwarzmeer bei odessa
wer mich kannte wusste
dass in meinen vom himmel herunter gelogenen gedichten
am horizont schneeberge aufragten
über sie zogen singschwäne in ferne geschichten
die an orten wie teheran und kabul spielten
dort standen mädchen am straßenrand
und winkten burschen bei reiterspielen zu
später weinten die mädchen
wenn die toten körper der burschen
auf lastwagen in die stadt zurückkehrten
wer mich kannte wusste
dass selbst das blau am himmel lüge war
in ihm spiegelten sich die augen von geckos
die an hauswänden hockten und auf das ende der zeit warteten
menschen beobachteten die tiere und glaubten
sie brächten ihnen glück
die augen der menschen leuchteten dann blau wie der himmel
ich bog um die nächste straßenecke
sah fische und hörte singschwäne
und die nacht und die lügen nahmen kein ende

Skylarking (Flucht und Wiederkehr XX)

Da Menschen des Stromes aus ihren konditionierten Träumen erwachen, ist der junge Tag noch gehüllt in den Leib der Nacht; doch rufen Trommeln aus dem fernen Tempel, die Kontinuität des Seins und der Zeit zu ehren. Die Fellachen hoffen auf Verkündigung des heliakischen Aufgangs – der Rückkehr des Sirius nach siebzig Tagen – und mit ihr, nährender Milch gleich, des reichen Schlammes ihrer Felder.

Kahle, geschminkte Priester vibrieren in Trance, andere verteilen eine starke Tinktur des blauen Lotus. Es ist kalt, gemurmelte Gebetsformeln perlen wie Tau aus Kehlen, da mehr und mehr Versammelte sich übernatürlichen Gesängen ergeben, die nun wie Honig aus dem Inneren des Heiligtums fließen, ja zu tanzen scheinen. Nach und nach, ähnlich einer kollektiven, hypnotischen Verwandlung, invertiert ihr Bewusstsein von Alltag und Überlieferung. Dann, kurz vor der Morgendämmerung, beginnt  der Tempel, die Ankunft der Götter verheißend, magisch zu glühen.

Die Hohepriester, kundig des mittels mystischer Symbolik kodierten Wissens der Anderweltentränke, architektonisch hervorrufbarer Tonfrequenzüberlagerungen, wie auch jener elektrischen Effekte unterschiedlich leitender Baumaterialien oberhalb riesiger, unterirdischer Wasserkavernen, treten nun, verliebt in die eigene Allmacht und als Halbwesen gekleidet, flüchtig im Halbschatten tausender Jahre auf.

seebestattung

die fische haben ein eigenes totenreich
nur dort können sie unter sich sein
sie betreten es über spaltöffnungen
an der unterseite des meeres
gesunkene schiffe und ertrunkene seeleute
haben keinen zutritt
in ihrem totenreich atmen die fische feuerluft
die ihnen ein kolibri zufächelt
in ihren ewigkeitsgedanken
trinken die fische die weisheit der welt

Im Kleinen Kaukasus

In der Schlucht zwischen kargem Gestein
Hat Sergo seine intakte Familie eingerichtet
Vierzig Schafe : zehn Kühe : acht Kälber
Hühner : ungezählt : den Großvater

Die Ehefrau : einen Sohn : eine Tochter
Jeder hat seine Aufgabe : er baut
Und holt die Gäste von der Straße ab
Durchs Geröll mit dem Jeep : robust

Muß das Fahrzeug sein : sie kocht
Und kassiert die Miete : der Sohn studiert
Die Tochter geht noch zur Schule
Jeden Tag drei Kilometer zu Fuß

Über Hängebrücke : die Papa als erstes
Gebaut hat : als sie das schräge Land
Jenseits des Dorfes kauften : den Opa
Herholten zum Tierehüten : er blickt

Sich den ganzen Tag um : wohin sich
Die Kühe verkrümeln und treibt sie
Mit einem Stöckchen zur Tränke
In Magdeburg und Berlin war Sergo

In Dessau und Dresden : Soldat
Der sowjetischen Armee : so lernte er
Den Westen im Osten kennen : zimperlich
War er nicht : sondern gut zu Fuß

Beim Autofahren feuert er die fremde Frau
Am Steuer an : dawai : dawai
Ungewöhnlich : sie fährt und lockt
Seinen Offizierston hervor : vorwärts

Aufwärts : Niki : der Hund zeigt uns den Weg
Zur Burgruine hinauf : am Turm rechts
Halten : hinab ins Tal dem Bach folgen
Dann am Fluß entlang : in Pfeilrichtung

Dann liegt es vor uns : das Höhlenkloster
Von Vardzia : im Winter vereinsamt
Beinahe die einzigen Besucher sind wir
Zurück laufen wir die Straße entlang

Treu vom Hund begleitet : bis zur Marschrutka
Wir steigen ein : der Fahrer entpuppt sich
Als Sergos Bruder : weigert sich
Geld zu nehmen : ne nado : ne nado

mecklenburg (gesang für ein polnisches fischgericht)

vater spricht von häuserbauen
auf der weide die stute galoppiert
über die straßen zieht salzluft
in bernsteinfarbenen fenstern spiegeln rosenblätter
schneefalter einen krieg zwei kriege
bist du fort gezogen und gestorben
dein gummibaum erinnert noch
deine schwestern sind alle tot deine brüder
nur einer hat überlebt

ruhe kehrt ein in die prallen ähren
des vaterlandes verräter ziehen weiter
nach osten süden im norden liegt ein meer

und wellen heben an zu einem gebet
für moränen geschiebemergel findlinge toteis
zittert deine hand zittert dein haar
im wind spielen zwei möwen
alles ist grau
und du spielst mundharmonie

die tage lehnen sich an ein scheunentor
das stroh ist geerntet auf elektrischen schlachtfeldern
eines junkers lippe befiehlt uns zu bleiben
bad doberan
das umland erwacht
an einem kühlen morgen stand jan in der tür
und wollte bleiben
auf ein leben und einen tod
klirrten die gläser

Repräsentative Aromastoffe

Peter aus Leipzig wollte ein Zeichen setzen. Er hatte genug von dieser Scheinwelt. Von einer Welt, in der Politiker ungestraft behaupten konnten, dass dieses Land eine Demokratie wäre. Dabei war es doch klar, dass es keine Demokratie war. In einer Demokratie, da gibt es Volksabstimmungen, wie in der Schweiz. Aber ohne Volksabstimmungen, da ist das keine Demokratie, sondern eine Republik. Da war sich Peter ganz sicher. Repräsentative Demokratie, so ein Quatsch, dachte Peter. Genauso wie das Wort „naturidentische Aromastoffe“. Das waren auch bloß „repräsentative Aromastoffe“. Je öfter man zu einem chemischen Produkt „naturidentisch“ sagen würde, um so schneller würde das Volk das Vertrauen in die Produkte verlieren. Das ist doch logisch. Peter war klar, das war der Grund, warum so viele Leute die Rechten wählten. Diese gigantische Lüge der repräsentativen Demokratie machte die Rechten stark. Die Rechten logen auch, nur noch nicht so lange.

Das ist doch alles so klar, dachte Peter. Die ganzen Worte hier, die waren alle falsch. Hier gab es nichts mehr zu diskutieren. Hier gab es keine Freiheit mehr. Alles war falsch und faul. Perfekt glänzend wie eine Erdbeere mit der Konsistenz und dem Geschmack eines Kohlrabis. Peter wunderte sich, dass außer ihm das niemand zu wissen schien. Niemals zweifelte einer der Politiker oder einer der Nachrichtensprecher an der Demokratie in diesem Land. Peter wollte es allen erklären.

Er ging zum Mitteldeutschen Rundfunk und wollte seine Erkenntnis allen mitteilen. Nur fünf Minuten, am Ende der Nachrichten. Mehr brauchte er nicht. Aber er kam nicht einmal am Pförtner vorbei. Der ließ ihn abblitzen. Die waren an der Wahrheit überhaupt nicht interessiert, die vom Mitteldeutschen Rundfunk. Peter erkannte, dass er keine Chance hat, dort seine Erkenntnis zu verbreiten. Der MDR war ein Ratatouille aus Gummigemüse.

Oder doch. Peter wusste es. Er musste eine Selbstmordanschlag verüben. Dann wäre Peter in allen Nachrichten. Sofort. Das mussten die senden. Das war 100-Prozent sicher. Den MDR, den würde er sprengen. Peter legte sich einen Sprengstoffgürtel um. Verkleidete sich als schwarzbezahlte 450 Euro-Putzfrau mit Bundestagsputzerfahrung. Borgte einen Doppelfahreimer, klaute einen Wischmopp. Und schon stand er im Büro der Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks. Hätte er gar nicht gedacht, dass er es bis dahin schaffen würde. So einfach. Er zündete den Gürtel. Nichts geschah. Peter hatte nicht gemerkt, dass die Auberginen nach Düngemittel rochen. Es fehlte der typische nussige Duft der natürlichen Aubergine. Peters Auberginen waren bloß lasche Wasserbomben. Gummigemüse, aufgezogen in Nährlösungen. Hatten nie in richtiger Erde gewühlt. Diese Supermarkt-Auberginen waren so falsch wie die Demokratie. Nur richtige Auberginen können platzen. Peters ansonsten makelloser Sprengstoffgürtel lief aus. Es war vorbei. Peter hatte die letzte Chance zu Wahrheit verpasst. Peter wusste es.

Gummigemüse

http://www.anonymekoeche.net/ , 24. Mai 2009 / Claudio

Im Moment haben wir einfach nur Wetter, Wetter, Wetter. Man kommt ja gar nicht mehr zum Bloggen ob den vielen Grillfeuern, die entfacht und Freunden, die warm gehalten werden wollen. Den Türken sei Dank gibt es einen Salat, der schlichter nicht sein könnte: Patcan Salatas. Im Sommer ein perfekter Begleiter zu gegrilltem Fleisch. Ansonsten auch als erfrischende Vorspeise (Mezze) zu orientalisch angehauchten Menüs.

Es gibt, zugegeben, verschiedene Zubereitungsarten für diesen Salat. Mit Jogurt oder ohne, mit unterschiedlichen Gewürzen, Knoblauch, Zwiebeln, Zitronensaft und Öl. Kann man alles weglassen. Über die Jahre habe ich zu einer ergreifend einfachen Version gefunden. Es gibt übrigens auch verschiedene Auberginen: Bitte keine dieser spanischen Attrappen (vgl. franz.: attrape = Falle). Die sehen auch nach Wochen rumliegen noch aus, als wären sie aufblasbares Gummigemüse: makellos und aufgepumpt. Ich kaufe meine nach Möglichkeit beim türkischen Gemüsehändler. Sie sind von der Form her etwas schlanker und weisen da und dort unbedeutende Makel auf.

Die Aubergine waschen, trocken tupfen und unzerteilt in den 200 Grad heissen Ofen legen. Übervorsichtige stechen sie mit der Gabel mehrmals ein, weil sie sonst platzen könnte – am ehesten wohl die spanischen …Nach 30 bis 40 Minuten ist die Aubergine gebacken und die Haut schön schrumplig geröstet. Am nussigen Duft erkennt man sofort, ob es eine gute Aubergine ist. Eine Hors-Sol-Wasserbombe würde nur auslaufen und nach Düngemittel riechen. Die Haut lässt sich sehr leicht abziehen. Wenn sie etwas ausgekühlt ist sogar ohne, dass man sich dabei die Finger verbrennt. Anschliessend das Fruchtfleisch in kleine Stücke schneiden.

Zum Schluss wird einzig und allein Naturjogurt unter das Auberginenfleisch gehoben.

Tango Blues, Neujahr 2018

In der Mühle drehen sich die Körper
An einer Tasse halten sich einsame Herzen fest
Dichter Nebel umhüllt die alternden Köpfe
Tragen schlurfend zur Schau ihre Lust

Vertief den Augenblick : hauch den Atem
Mit halbgeöffnetem Mund ins Ohr
Des Fremden an deiner Brust : spürst du sie
Auch : die bunten Raketen im Bauch

Wieviele Lieben ruft der Tango herbei
Wieviele Lieben brechen beim Tango
Entzwei : die Körper drehen sich
Dampfend entweichen die Seelen

Vorbei ist das Tänzchen : mit halbfeuchten
Händchen lauert hinter den Säulen der nächste
Noch hält er sich an einer Tasse fest
Das letzte Haar am Hinterkopf : verwirbelt

Schweißperlen mischen sich : mein Gott
Wie schön : mit diesem Geruch
An der Backe : kommst du
Niemandem sonst nahe : Hilfe

Was mach ich bloß : ich gehe
Drüber weg und weiter : in der Mühle
Drehen sich die Körper : manche
Stehen : hören auf : sich zu sehen

Denken ohne Gewalt

Chap. IV

Eduards Putenwelt

Zum Dekadenten muss man talentiert sein, man muss
seidene Nerven besitzen, die beim geringsten Luftzug
ein verwirrendes Stimmungs-Tremolo tanzen. Endlich
in den Handgriffen und Kunstpfiffen der Selbstpeinigung
Routine haben. Kommt zu dem allen noch eine
rationelle oder auch unrationelle Dosis von eleganter
Pose, ein Kursus in der Akademie für höhere Schminkkunst
– so ist der Dekadent fix und fertig.

Ottokar Stauf von der March in Die Gesellschaft 10, 1894/5

„Wie lange war Venus bewohnbar?“ Eduard stellte die Frage wie ein Lehrer. „Fast zwei Milliarden Jahre. Genug Zeit für eine Zivilisation. Heute sagen wir, sie war von Anbeginn zu nah an der Sonne. Wir haben einen Mond, wir sind das Gleichgewicht, Venus der Borderline-Case, die galoppierende Schwindsucht. Um sie herum ein heißes, bernsteinfarbenes Licht. Die Venus ist ein Symbol für uns geworden, für etwas…“

Eduard unterbrach sich, als Esther den Saal betrat, „fast nur russische Sonden sind dort gelandet, das Auge mit der Sicherheit längst geschmolzener Sonden machte sie für uns zu einem Kunstwerk. So wie die Venus von Botticelli eines ist, und so, wie das Modell unseres Zykluses es für uns getan hat. Esther hat etwas davon verstanden.“

Die Idee sei Denken ohne Gewalt gewesen. „Eduard, ich weiß jetzt auch, warum du uns vor dem Kochen klar gemacht hast, dass gewisse Dinge einfach nicht in Frage kommen. Ich pflichte dir bei, Puten werden nicht gegessen. Ich bin dafür, dass sie ihre Augen weiter ganz lebendig offen halten und uns beobachten, damit wir Teile der wahren Putenwelt werden können.“


meine woche

am sonntag verwandle ich mich
in einen baum lasse ich
den frühling herein gebe der katze
zu fressen
oder nicht

am donnerstag muss ich mich erinnern
an die kindheit alte fotos fallen
mir in die hände
ein einkaufszettel
den mutter schrieb

am mittwoch werfe ich
meine blätter ab

am freitag kaufe ich ein
lauter dinge auf mutters einkaufszettel
einige gibt es schon lange nicht mehr
in den auslagen und regalen
gehen spinnen um

am montag suche ich die katze

am dienstag gebe ich es auf

am samstag gehe ich
in mich versuche ich
ordnung zu bringen
in die gedanken mein leben
beknie den gott der zweifelnden und verlorenen

dass er gnädig ist
und mir einen achten wochentag schenkt
für dich mit dir

lyrisches beizeiten

unten ist die erde
offen verschlingt
gedichte
und menschen
geht in den himmel über

wir wussten es
lange nicht

bis der zebravogel es verriet
mit seinem schlagenden gesang
der wie der hammer
des sargtischlers schlägt

dreimal kurz dreimal lang
beim vierten mal
fängt das holz
an zu beten

das offene in der erde
das nicht
zuheilt

[so oft ich es auch wieder verschließe]

Eingetaucht

In die Armut der Welt
Lassen wir Smaragde wachsen,
Bringen dem nichtigen
Chlorophyll eine Huldigung
Gefilterter, polarisierter
Worte

Was die trägen Verbünde
Heterogener Moleküle
Nicht vermögen –
Unsere Lichtgitter
Schenken es der
Sprache

Eingetaucht bleiben wir
Unter Wasser, amphi
Bolische Balinesisch
Chinesische Wörter
Zähler ohne Wasser
Strom,

Gas – das Licht fällt
Immer in dunkelste
Ecken, wo Amphibien
& Schmetterlinge
Sich Gute Nacht
Wünschen

Wasser & Strom in der
Hochzeit ihre Elemente
Lassen es knistern,
Worte werden am
Doppelspalt gebeugt
Verstärkt &

„Denn an der Verbindung von Astronomie und Nächstenliebe hängt die Würde des Menschen.“ (Tschüss! Philosophische Poetik 1)

Revers

Weihnachten war denkbar nahe, und Esther fror bei dem Gedanken, den Abend allein in der Wohnung verbringen zu müssen. Gesine und die Kinder waren ins Gebirge verreist, während der Ehemann Alexander immer stärker autistische Züge bekam. Esther warf den Gedanken an Gesine, den Mann und die Kinder weg, voll Ekel, voll Ekel. Sie verbarg ihre Schulter in Vyvyans Revers. Was sie eigentlich, wie schon Eduard ihr zweideutig geboten hatte, wegen der Ansteckungsgefahr nicht mehr tun sollte.

Die ganze Nacht

—— nein, liebe frau kleist. Ich glaube eher, dass hier versucht wurde zu sagen, dass sich die Himmelskörper, und so auch der Mond und die Erde, nach harmonischen Gesetzen bewegen, nach einer musikalischen Harmonie, welche das Fundament der Welt ist. Und auch zugleich ihr Nicht-Fundament. Aber es trägt sie jedenfalls, also diese musikalische Gesetze, die Töne und diese Nicht-Töne, diese Bewegungen, diese immer auf diesen Ebenen kreisenden Bewegungen, auf diesen Ebenen, die sich schneiden, und das alles ist ja keine Wüste, weil ja alles klingt, aber ich komme von der Erzählung ab, ja ich wollte erzählen, in Prosa wollte ich erzählen, dass, wenn man also ein Gedicht schreibt, also nicht irgendein Gedicht, sondern ein gutes Gedicht, also ein richtig gutes Gedicht, das klingt ja dann auch, da bewegen sich auch die Töne, da schneiden sich ja auch die Ebenen, und irgendwie versucht man ja damit, diesen harmonischen Gesetzen näher zu kommen, dieser schrecklich schönen himmlischen Harmonie, diesem gewaltigen unhörbaren Klang, für uns jedenfalls unhörbar, meistens jedenfalls, außer in bestimmten Momenten, wo man ganz da ist, ganz und vollkommen in dem Moment, ganz konzentriert, also eigentlich darin verschwunden, also dass dann das Gedicht kein Zeichen mehr ist und kein Anzeichen und keine Bedeutung sondern reiner Klang, und dieser Klang ist die reine Bedeutung und die Nicht-Bedeutung zugleich, ach, aber wir werden ja immer daran scheitern, immer nur daran scheitern, mit jedem Gedicht daran scheitern, selbst mit unserem allerbesten Gedicht werden wir ganz gewaltig scheitern, wir sind ja in diesem himmlischen Klang dazu verurteilt, immer wieder zu scheitern und zu scheitern und zu scheitern und es trotzdem wieder zu versuchen, immer wieder zu versuchen, und dieser blöde viereckige Mond an diesem blöden Kran um den die Motten ihre enger werdenden Kreise ziehen, das ist ja bloß Hybris, das ist ja bloß vermessen, das bedeutet ja nichts, gar nicht, überhaupt nichts, das ist ja bloß ein Anzeichen, das auf uns weist, das weist auf uns, aber da, wo wir sind, da ist ja nichts, da ist ja bloß Leere, immer nur Leere, wir weisen ja bloß auf diesen viereckigen Mond zurück, und der steht uns bloß im Weg, da sehen wir die Sterne nicht und die Planeten und den richtigen Mond, der mal rund ist und mal nicht rund, der also immer anders klingt, und immer anders die Orchidee auf meinem Schreibtisch anschlägt, und ihren silbernen Schatten, den der richtige Mond, und auch die unzähligen anderen Schatten, die Schatten der unzähligen Sterne und der acht oder neun oder mehr oder weniger Planeten, die alle schreibt die Orchidee auf meinem Schreibtisch, schreibt sie immer wieder, hat die Möglichkeit, sie immer wieder zu schreiben, immer wieder neu, und zugleich immer wieder gleich und doch immer wieder anders, dieser unendliche Verweis auf die Unendlichkeit, nein, kein Verweis, kein Zeichen, kein Anzeichen, die Unendlichkeit klingt hier, sie ist hier, sie ist da, einfach nur da, in den Schatten der Orchidee, hier auf meinem Schreibtisch, und auch ihre Prosa, liebe frau kleist, auch in ihrer Prosa, da ist sie da, einfach nur da ——

Da fliegen die Motten jetzt hin

Was aber bringt die Motten, nachdem sie hingeflogen sind, wieder zurück? Eine große Frage, die hochkant im Raum steht – ganz wie der Kran vor Ihrem Fenster. Sicher sind Sie schon eine Weile unruhig in Ihrem Schlafzimmer hin- und hergepantert (im Gegensatz zu Max Goldt prokrastinieren Sie aber nicht), schon die dritte Nacht lässt Sie vor Helligkeit nicht in den erholsamen Sonntagsschlaf finden, der doch so wichtig für die sensible Schreiberseele zu sein scheint. Sie sind ausnehmend produktiv, was mir wie Manie erscheint, angesichts der Bühnenbeleuchtung, die in ihrem Schlafzimmer herrscht. Sie reißen, im Gefühl, endlich handeln zu müssen, in einer wahnwitzigen Bewegung den Vorhang zur Seite. Dass Sie erneut „Steinerle Bau“ lesen, macht Ihnen ein Gefühl in Augen und Hirn, als hätten Sie beides an die nächstgelegene Steckdose angeschlossen. Sie befürchten, durchzudrehen, mit panisch aufgerissenen Augen betrachten Sie den Fortgang des literarischen Mainstream. Der Notarzt ist weit, das Telephon auch. Sie sind ein wandeldes, panterndes Standbild, ein Paradox im künstlichen und künstlich hellen Mondenschein. Dass dieser nun auf Ihr Gesicht leuchtet, erleichtert die Situation nicht. Es treibt Sie beharrlich in den Wahnsinn. Da fliegen die Motten jetzt hin, denken Sie, da fliegen sie hin, sie fliegen hin, hin, hin, und wieder hin, da fliegen die Motten jetzt hin. Die braune Mehlmotte zuerst. Dann die graue Seidenmotte, die steinfarbene Kleidermotte, alle sind sie wiedergekommen wegen „Steinerle Bau“. In endloser Kreisbewegung, in der es nur ein Karussel, Karussel, aber kein Hin oder Zurück gibt. Zurück, denken Sie, ja dann wären sie ja wieder bei mir im Schlafzimmer. In der Kleidung. In meinem Mehl. Mein Mehl, mein Haus mit Garten. Auto auch. Selbst der Sitz aus Leder hat kleine Löcher.

In memoriam

Auf dem Amt für empirische Literatur hatten sich zwei Hypochonder und eine Hysterikerin eingefunden. Die Hysterikerin hatte Vorrang. Sie hatte gerade ihren Mann mit einem alten Studienkollegen betrogen und erhoffte sich dringenden ästhetischen Beistand. Aber der Sachbearbeiter runzelte nur die Stirn. Nach einem Schweigen, das als Echo von den Wänden zurückprallte, äußerte er kurz und trocken: „Franz, dieser Fall geht an dich. Sieh zu, ob du ihr Eselsohren wachsen lassen oder lieber einen handfesten Käfertraum verpassen willst. Diese eingebildeten Menschen werden immer frecher. Neulich war einer bei mir, der erzählte mir die Geschichte irgendeines Großonkels aus der mütterlichen Linie, an dessen Grab heutige Dorfbewohner eine Kakerlakenhochzeit veranstaltet hätten. Als ob solcherart Produktwerbung auch nur im Ansatz etwas mit dem zu tun hätte, worum wir uns hier kümmern sollen.“ Eine Tür schlug zu. In der Ferne quietschten die Ketten oder Seile eines Paternosters.

Motten

Ich wählte meine Kleider diesmal sorgfältig aus. Als ich den
Kleiderschrank öffnete, fiel mir der Wintermantel entgegen. Er war
voller Löcher, eine frisch geschlüpfte Motte kroch aus dem Pelzkra-
gen. Angeekelt ließ ich den Mantel auf das Parkett fallen. Ich schob
die übrigen Kleider auf der Stange auseinander, die verschiedenarti-
gen Empfindungen an den Fingern und die Farben narkotisierten
mich. Ich lief zum Fenster, öffnete einen Flügel. Wärme kam mei-
ner Hand entgegen und versprach eine laue Nacht.