Im Namen der kosmischen Hirse [4]

War es derselbe Tag, an dem wir uns trafen, zwei Irrläufer in den kosmischen Weiten des interplanetaren Raums, Kometengesichter mit dem urplötzlich aufglühenden Lächeln unter einem Scheitel ewigen Eises, oder war es der andere Tag? Du fragtest nicht, nicht nach dem Unterschied desselben und des anderen an jenem Abend, seine gleitenden Bilder werden mir ewig im Trudeln eines Kindes beim Umrunden der Erdachse vor den Augen stehen, nicht nach der Zukunft der Menschheit, Karrussell galoppierender Interessen, meine Augen ertranken in der Blindheit eines Glücks, das die Züge fließender Satzfetzen trägt.

Du erzähltest mir ein Stück jener Landschaft, den unverhofften Platzregen am Ende eines langen, schwülen Tages, die dich einst glücklich gesehen hatte in deiner eigenmächtigen Darstellung des Lebens. Hoch aus dem Himmel, wo die Träume von Ungeborenen hängen, fiel ein elektromagnetisches Prickeln, jemand hatte einen Sack Hirse über den Teppich eines Kinderzimmers geschüttet, und allmählich, im Prozess der Verfestigung von Minuten aus Sekunden und von Stunden aus Minuten, zeichneten sich Muster ab im Hintergrund, dem Jenseits der in ständigem Pulsieren begriffenen Brennpunkte zweier Augen, und ich glaubte der Erzählung ohne Weiteres, dass sie sich um die Entstehung des Feuers drehte.

Unverhofft [3]

Wir trafen uns auf dem Bahnsteig. Du hättest mich nicht erkannt. Als Teil hektischer Menschenströme eilten wir aufeinander zu, und als du unwillkürlich den gesenkten Blick hobst und unsere Augen sich begegneten, nickte ich dir als Teil eines ausladenden Lächelns zu.

Du bliebst stehen. An die kurzen, bedeutungslosen Worte dieser Begegnung vermag ich mich nicht zu erinnern. Du warst auf dem Weg zu einer zeitfüllenden Arbeit, ich sorgte mich um meine kranke Mutter, zu einer anderen Jahreszeit wären wir wohl einfach aneinander vorbeigelaufen. Wir verabredeten uns für den Abend desselben Tages.

OHNE MICH!

Ich fange nie an zu schreiben, bevor ich nicht eine Kanne Kaffee getrunken habe. Wenn ich genug Kaffee getrunken habe, tanzen meine Worte auf dem Bildschirm und die Bilder kommen mir zugeflogen. Ich setze mich an den Küchentisch und fahre meinen Laptop hoch. Das Schnurren und Klicken, das mein Laptop veranstaltet, mischt sich mit meinem Schlucken des Kaffees. Mein Laptop und ich – wir haben uns gut aufeinander eingespielt. Die letzte Tasse Kaffee ist leer, der Laptop öffnet ein leeres, blankes und frisches Dokument. Ich habe das Telefonkabel herausgezogen, die Klingel ausgestellt und alle Fenster verschlossen. Was soll – was kann jetzt noch passieren? Ich werde versuchen es zu beschreiben: Ich lege meine Finger auf die Tasten, sodass sie das Wort Womöglich schreiben würden. Mit diesem Wort will ich anfangen und habe auch schon ein Bild dazu. Noch bevor ich die Tasten drücken kann, höre ich hinter meinem Rücken ein Zischen. Ich halte inne, warte, das Zischen verstummt, ich konzentriere mich wieder auf mein erstes Wort Womöglich und das Zischen ist wieder da. Ich löse vorsichtig meine Finger von den Tasten – die das Wort Womöglich geschrieben hätten und drehe mich um. Neben der Spüle steht eine Flasche Wasser und zischt. Jetzt wo ich weiß, wo das Zischen herkommt, versuche ich mich wieder auf das Wort Womöglich zu konzentrieren. Die Flasche zischt sofort wieder. Es klingt immer gefährlicher. Ich kann ihre Zähne in meinem Nacken spüren, die sich sofort in mein Fleisch vergraben würden, wenn ich das Wort Womöglich schreiben würde. Ich will ihr zeigen wer hier der Boss ist und konzentriere mich wieder auf Womöglich -. Das Zischen wird sofort noch lauter. So als wäre die Wasserflasche eifersüchtig auf mich und den Laptop. Ich überlege, wie ich sie einbeziehen könnte, bei dem was mein Laptop und ich vorhaben, aber mir fällt nichts ein.

Ich sehe die Flasche an und sie nimmt ihr Zischen ein klein wenig zurück. „Bitte. Lass uns doch eine Weile schreiben und danach will ich sehen, was wir – du und ich unternehmen können!“ Ich widme mich wieder meinem Laptop und das Zischen schwillt zu einem wilden Knurren und Zähnefletschen an. Ich springe auf und schreie sie beide an. Den Laptop und die Wasserflasche. „Schluss jetzt! Ich werde jetzt einen Spaziergang machen. Tragt es untereinander aus. So geht das nicht!“ Ich knalle die Tür hinter mir zu und während ich die Stufen nach unten renne, höre ich das Zischen und Knurren der Wasserflasche und das Klicken und Klappern des Laptops. Sollen sie es unter sich austragen! Ohne mich! Womöglich werde ich ab morgen immer in Cafés schreiben müssen.

 

JOHN FANTE IS WAITING!

Ich setzte mich an die Schreibmaschine. Jetzt würde ich einen Satz schreiben, einen einzigen, perfekten Satz. Wenn ich einen guten Satz schreiben konnte, würden mir auch zwei gelingen, und wenn ich zwei schreiben konnte, waren auch drei möglich, und wenn ich erstmal soweit war, gab es überhaupt keine Grenzen mehr.
– John Fante

Bandini. Arturo Bandini – immer pleite und der größte Schriftsteller. Der größte Schriftsteller von allen größten Schriftstellern!!!

John Fante sitzt an seiner Schreibmaschine und tippt – ein Wort – dann das nächste. Es gefällt ihm nicht was er da schreibt.

Komm schon Bandini sag was! Rede mit mir! Verdammt!!! Rede! Wo sind sie – die Worte – die Sätze?

Ist es zu dunkel? Können die Worte nicht zu ihm finden – weil es zu dunkel ist – hier in dem Zimmer?

Fante hat das Licht in seinem Hotelzimmer ausgemacht – eine Kerze brennt und es genügt zum Schreiben! Es muss genügen. Bandini versteckt sich vor der Vermieterin die hinter der Miete für drei Wochen her ist.

Fante hat die Miete nicht – er hat noch viel weniger nicht – er hat nichts zu essen – nichts zu trinken – dreht sich mit den Tabakresten in einem Toilettenpapier die letzte Zigarette – und sieht hinaus auf ein paar ausgetrocknete Palmen. Hier ist er also. Bandini ist in Los Angeles.

Geliebtes Los Angeles – liebe mich und ich danke es dir!

Ich schreibe von Dir – über Dich – in Dir – aus Dir heraus – mit Dir zusammen!!!

Los Angeles – sei lieb zu mir – ich dank es dir – wir sind hier – gemeinsam – du brauchst einen Schriftsteller wie mich! Ich brauche eine Stadt wie Dich für mich! Ich – der deine Geschichte schreiben wird. Der Dich zeigen wird – wie Du sein kannst – wie gut du sein kannst zu einem wahren Schriftsteller! Ich bin Bandini – Arturo Bandini und mein Roman den ich dir – DIR schenke wird heißen – ASK THE DUSK! Es ist die Geschichte eines Mannes – eines Schriftstellers – der liebt – der kämpft – der lebt und leidet – hier hast Du ihn – deinen Helden! Los Angeles – ich bin bereit! Ich hab keine Zeit! Nichts zu verlieren und hab dir SO VIEL zu sagen!

L. A. Sei nett zu mir! Ich werd es dir zeigen! Stadt! Du! HEY STADT!!!

Ich bin hier und Du bist hier und ich bin der GRÖSSTE Schriftsteller von ALLEN!!! Sieh mich an Los Angeles! Siehst du mich nicht?

Liebst du mich nicht?

Ich werds dir zeigen!

Eines Tages werde ich sein – was ich jetzt schon bin – ein großer Schriftsteller!

Und alle können es sehen. Alle müssen es sehen! ALLE! Alle werden es sehen!

Ich brauche eine Liebe für meinen Roman! Eine LIEBE die man nicht lieben kann – ein LEBEN das man nicht leben kann.

In einer Stadt die nicht mehr atmen kann. Mit meinen Fingern – die tun sollen was sie tun sollen – einen Buchstaben nach dem anderen tippen und tippen und mir aus dem Herzen schreien – ohne zu denken – ohne auch nur ein bißchen zu lenken.

Fante! Du bist ein Genie! Das ist ein Anfang! Ein wahrer Anfang und es wird ein großer Anfang und ein großes Ende und dazwischen – wird es brennen und lodern und stürmen und rauschen und knallen und fluten und bersten und jauchzen und knarren und explodieren. Eine Explosion! Ein Erdbeben!

Mein Buch wird eine bebende Explosion!

Hier bin ich Arturo Bandini – ein Beben – eine Explosion! SEHT HER! – SCHLIESST EURE AUGEN – SONST WERDET IHR GEBLENDET – HÖRT HER – IHR – HIER HABT IHR EINEN DER ES EUCH ZEIGT WIE ES GEMACHT WERDEN MUSS!!!

Wer sind die anderen? Die anderen – sind anders und alle sind sie gleich! Ich bin hier – die anderen – sind weg und nichts mehr wert! Einen Dreck wert und viele noch weniger! Da komm ich her – aus dem Dreck und ich erzähl euch was! Ihr – ihr – ihr mit eurer Stadt! Ihr mit euren Träumen und Wünschen – ihr – ihr – ihr! Ihr seid alle gleich und ich bin anders! Mit aller Kraft bin ich anders und bin Arturo Bandini! Vergesst den Namen nicht! Ich bins – euer Arturo Bandini! Ich zeig euch eure Stadt – eure geliebte Stadt! Ich werf euch euren Dreck vor die Füße! Wisst ihr eigentlich wer ich bin? Ich bin Arturo Bandini!!!

Ich schreie und schreie und lache und lachend werde ich euch schreiend auf eure Straßen spucken – rotzen auf die Straßen auf denen nichts mehr wächst – auf eure Stadt – die mich nicht will! Die mich nicht braucht – wie sie euch nicht braucht! Ich schreie und ich schreie und ihr hört mich nicht! Ihr hört mich nicht? Nachdem ihr mich hört – hört ihr keinen anderen mehr – nie mehr – niemals werdet ihr mehr hören als mich! Mich – Arturo Bandini!

ICH BIN ARTURO BANDINI!

Wo bist du? (***[2]**)

Ich hatte dich seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Die Frage, ob das vektorielle Zucken der Sonne am Himmel Ausdruck einer kosmischen Körperstruktur ist oder aber so erruptiv vonstatten geht wie die Geburt eines Weltuntergangs, hatte mich nicht wieder losgelassen. In der Erinnerung an deine Stimme kamen meine Gedanken immer neu auf die sonderbare Gestalt jenes Zitterns zurück, aus welchem der Satz über die längst vollzogene Zukunft der Menschheit, Apotheose der Selbstbegegnung von Arm und Reich im abgedunkelten Raum eines Baukastens über sich hinaus verweisender Dinge, an jenem Abend erstanden war. Plötzlich war die Sonne untergegangen, deine Fingerspitzen hatten sich zurückgezogen in ein schwarzes Licht, das seitdem den Beginn einer jeden Nacht mit einer Schwerkraft umhüllte, die der unsichtbaren Sonne ebenbürtig war. Seitdem standen deine Augen jeden Abend am Horizont und schauten mich mit einem Zittern an, in welches hinein der Akkord aus dem Innern benachbarter Weinflaschen gefallen war, abstrahierte Form eines Universums, das noch von keinem Auge eines Körpers je angeschaut worden ist. Auge eines Körpers, ja, so war es – das erruptive Zittern deiner Stimme hatte meinem Ohr ein Gesicht offenbart. Die Augen hatten an dir vorbei die Bewegungslosigkeit deines Körpers wahrgenommen, selbst das kleinste Zucken wäre als kurzzeitige Verdunkelung der Sonne dem fragenden Blick zu Bewusstsein gekommen – allein: das fragende Zittern blieb.

En passant

Es waren Nervenerschütterungen, die Frau von Morast bereits beim Gang in den Frühstücksraum zu schaffen machten. Roulettekugeln rollten für diejenigen, die sich vor dem Leben und seinen Sonderformen ekelten. Walzerklänge lullten auch die zähesten Paralytiker ein. Ihr Kopf, so schien es Frau von Morast, musste mit Vichywasser gefüllt sein. Der Baron würde sich abermals über das Schweigen bei Tisch bekümmern und die Zeitung zur Seite legen, weil seine statuenstille Gattin ihm langsam unheimlich wurde. Dabei leuchtete die Sonne heute doppelt hell, wo er doch gestern ein paar Mark beim Pferdelotto gewonnen hatte. Diese paar Mark waren nicht nur symbolisch bedeutsam. Frau von Morast hatte eine Schwäche für Kaugummiautomaten, in die man 10-Pfennigstücke einwerfen musste, um schließlich eine farbige Kugel zwischen die geweißten Zähne schieben zu dürfen. Sie hatte ihrem Mann vor dem Frühstückstee einen nervenberuhigenden Strandspaziergang vorgeschlagen, der nun von dem Sprudelwasser in ihrem Kopf unterminiert zu werden drohte – ein baroneskes Leiden, wie Dr. Kellermann am gegenüberliegenden Tisch erheitert konstatierte und die Faltmappe zuklappte, in der er allerlei Kuriositäten des urläublichen Lebens mit einem braunen Filzstift notierte.

Herr und Frau von Morast hatten den stets in der Scheintätigkeit von Geistesarbeitern sich Bereithaltenden schon länger registriert und mit Unbill festgestellt, dass seine Aufmerksamkeit sich verstärkt auf sie zu richten begann. Das war eine narrative Indigestion, jawohl. Sicher kaute Frau von Morast bereits beim 1. Frühstück farbenfrohe Kaugummikugeln, die sie in einem Silberetui beherrbergte, und dessen Knipsen in den Ohren des Barons jedesmal ein Vibrieren (die Synapsen arbeiteten eilfertig) auslöste. Sicher trocknete sich Herr von Morast beim Essen in regelmäßigen Abständen die Hände, die etwas Feuchtes auszudünsten schienen. Das Handtuch, überzuckert von bunten Aufdrucken wie je pisse en passant oder never figure inside my brain, hing über der Stuhllehne, und die Baronin reichte es ihrem Mann, sobald er ihr etwas ins Ohr flüsterte, mit dem er offenbar nach dem Handtuch verlangte. Rituale, die bei den Gästen auf Spott oder Mitleid stießen. Zudem waren die Beiden vollständig overdressed. Unter ihrer schillernden Garderobe trug Frau von Morast drei Korsagen mit lila Spitzen. Die Baronin war feige, und ihr Mann schiss keine Dukaten, flüsterte sie erregt, die Schlaffheit seines Rückens betrachtend. Doch die Neugier von Kellermann war eine geistige Indigestion.

schlafstatt für schlaffe tiere

hochwald +++ schutz vor schwarzschnee : windgeröll +++ schlafstatt für schlaffe tiere : tags +++ nachts : tanzplatz für hungerzähne +++ büchsenrevier für dämmerungsblinde jäger +++ wer kennt die moral des hochwalds +++ tosebach :  streifsau : fluggemse +++ ich habe mich durch ihn durchgeschlagen : bin durch +++ ihn durchgerutscht : die nadeln +++ stecken noch in meinen vier buchstaben

das es +++ vergiß

Wir ziehen uns zurück : du & ich +++ sie & er : vergiß das es +++ vergiß das wir : wir ziehen uns zurück +++ in keuchende schluchten : auf schluchzende höhn +++ immer ist bei uns der fauchende bruder +++ immer ist bei uns das maulende luder +++ sie hört nicht : was du sagst +++ du sagst nicht : was sie hört +++ er hört nur auf sie : sie sagt +++ was sie will : ich ziehe mich zurück

Das Recht des Schönen

Der Streit um den Erhalt des Welterbetitels des Dresdner Elbtals zeigt, dass das Schöne eines Ortes, und mag er auch noch so einmalig, einmalig schön sein, in Recht und öffentlichem Diskurs keine Rolle spielt. Ein Ort hat keine Stimme, er ist auf uns angewiesen, nur wir können seine Schönheit gegen Zerstörungen verteidigen, die letztlich fast immer auf Aufwertungs- oder Verwertungsmaßnahmen beruhen. Man protestiere einmal gegen eine neue Straße oder eine neue Fabrik, weil man auf einer Wiese oder in einem Tal oder auf dem Platz vor der Kirche gern spazieren gehe, ja man klage einmal vor Gericht gegen eine Baumaßnahme mit der Begründung, das Schöne eines Orts sei bedroht. Im ersten Fall erlangt man bestenfalls den Ruf eines Spinners, im zweiten Fall wird die Klage verloren werden, weder ist das Schöne ein klagbarer Wert, noch darf irgendjemand für sich in Anspruch nehmen, rechtlicher Vertreter einer Wiese zu sein, über die er als Nichteigentümer allenfalls spazieren geht. So wird denn die meist schon zu Beginn verlorene Schlacht mit den gerade so erlaubten Waffen geschlagen. Tritt man öffentlich für die Wiese ein, gründet vielleicht gar eine Bürgerinitiative, so bekommt von den PR-Abteilungen das Etikett eines Investitionshindernisses verpasst, über Nacht wird man zum Ökofuzzi, zum Altkommunisten oder sonstwie wertlosen Teil der Gesellschaft. Mangels eigener PR-Abteilung kann man da nicht mehr viel machen. Die vom Wiesenspaziergänger auch mit noch so guten Argumenten ausgearbeitete Pressemitteilung wird kaum zitiert, eine Plattitüde des Offiziellen hingegen gelangt leicht in die Tagesschau. Manchmal ist die Wiese irgendwie ein Denkmal, und mit etwas Glück verweigert das zuständige Denkmalamt die Linientreue zum Investierenden. Das Ergebnis ist dann meist ein Kompromiss auf Kosten der Wiese, ein paar Quadratmeter bleiben erhalten oder kommen als Ausstellungsstück in die Grünfläche des Innenhofs eines Museums. Andere Möglichkeit: auf der Wiese findet sich ein seltener, unter Naturschutz stehender Käfer. Dann dürfen Naturschutzverbände die Rechte des Käfers verteidigen, was aber meist damit endet, dass der Käfer eingesammelt und auf eine andere eigentlich von Artgenossen bereits besetzte Wiese, umgesiedelt wird. (Mit Käfern darf man machen, was mit Menschen eigentlich verpönt ist. Das geschieht mittelbar, mit Lärm, mit Hässlichkeit. Der Wiesenspaziergänger verliert mit der Wiese ein Stück seiner Heimat und steht bald, wenn alle Wiesen in der bewährten Taktik der kleinen, winzigen Scheibe in Bebauungsgebiete umgewandelt sind, heimatlos da. Entweder er resigniert und bleibt, oder er flieht, flieht zu einer anderen Wiesen. Am Ende landen dann alle Wiesenspaziergänger in einem Flüchtlingslager an der letzten verbliebenen Wiese, bis auch diese mindestens mit Entlüftungssäulen für einen darunter verlaufenden Straßentunnel versehen ist.) Außerdem gibt es noch die Möglichkeit, der Wiese zu einem Titel zu verhelfen, am besten zu einem, der, von einem Gutachter bestätigt, nützlich fürs Marketing ist. Das Schöne der Wiese selbst spielt da keine Rolle. Wenn heute etwas von Experten und Kommissionen nicht in Gutachten und Zahlen ausgedrückt werden kann, dann gilt es nichts, dann ist es im Diskurs praktisch nicht existent.

Wie also dem Schönen der Wiese, der Wiese selbst zu einer Stimme verhelfen? Erinnern wir uns an den Käfer: anerkannte Naturschutzverbände dürfen als Träger öffentlicher Belange seine Rechte verteidigen. Naturschutz ist nach dem Gesetz ein öffentlicher Belang, das Schöne nicht. Hier sollte das Gesetz der Wirklichkeit angepasst werden, denn das Schöne ist zweifellos, solange wir nicht vollständig in den virtuellen Raum umgezogen sind, ein öffentlicher Belang. Jetzt benötigen wir nur noch den, der die Rechte der Wiese in den üblichen Anhörungs- und Gerichtsverfahren vertreten kann. Wer ist heute noch eine Autorität auf dem Gebiet das Schönen? Das könnte jeder sein, aber, auch im Naturschutz darf nicht jeder die Käfer verteidigen. So bedauerlich es ist, es muss eine Autorität her, eine Expertenkommission. Nur das Urteil einer Expertenkommission ist heute im Diskurs existent. Im Urteil einer Kommission wird selbst das Unsagbare zum Begriff. Wen nehmen? Die Dichter, die bildenden Künstler, die Komponisten, all die, die sich den Schönen Künsten verschrieben haben. Ihre Verbände, mag es nun der Komponistenverband sein oder der Neue Kunstverein, können die Träger eines öffentlichen Belangs sein – des Schönen. Sie können die Wiese vertreten. Sie können, müssen nicht, die Verteidiger des Schönen der Wiese sein. Auch das Schöne hat ein Recht auf Existenz.

Am Abhang hinterm Stadion (Bildungsroman: [1])

„…dem Bewußtsein ist der Gegenstand aus dem Verhältnisse zu einem anderen in sich zurückgegangen und hiermit an sich Begriff geworden; aber das Bewußtsein ist noch nicht für sich selbst der Begriff, und deswegen erkennt es in jedem reflektierten Gegenstande nicht sich.“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1986, S. 108

Wir saßen auf den Steinen aus weißem Granit und spürten durch die Blicke, Worte und Satzfetzen hindurch die Wärme des sich abkühlenden Tages. Es roch nach verbrennendem Gras. Du hattest mir gerade die Hand auf den himmelwärts gerichteten Knorpel des dir zugewandten Schultergelenks gelegt, ein leichtes Antippen, und hinter der stehenden Wand eines eigenwilligen Geruchs  warst du steif und fest in deiner Behauptung eingesponnen, der Begriff des Vektorraums sei durch die mit ihm gesetzte Einheit zweier Gruppenstrukturen in der Verschmelzung eines algebraischen Körpers mit der als stets reversibel zu denkenden Bewegung einer Wolke aus Pfeilelementen nichs weniger als die vorweggenommene Zukunft der Menschheit. Ich hörte das Zittern in deiner Stimme. Nebenan perlte ein Akkord aus der um ihn herum versammelten Gruppe jugendlicher Trinker, noch war nichts gestimmt, und die zuckenden Schatten des bereits einsetzenden Geschwirrs insektenjagender Luftwesen zeugten von einer Gefahr, in die wir beide nun mit Leib und Seele eingelassen waren: zwei sitzende Gestalten in einem großstädtischen Amphitheater. Ich antwortete, die Idealität eines Vektorraums sei zu schwach für die Bildung eines Kerns aus Idealteilern – die notwendige Ringstruktur würde vom Körper vor dem Entstehen eines Binsenraums einfach aufgehoben. Da warst du es, der abwinkte. Das Licht sagte zum Abend: „Komm!“, und der Abend kam; doch er blieb nicht.

Calculated Poetry

It’s calculated parody,
A no-equation-poetry
The final nausea
Vulnerably flexible,
Not splitting, splattering
On stoneware and Porcelain
But shimmering white – Der Preis für die Liebe –
Italian glazed tiles.
Crashed are my boxes of paint
Purple crush on your blond pageboy hair:
In Asymmetry
Lines must fall.
All by your leave.
And give me time to pay for it.
We’re in the year 25
Since I first craved 4
Don’t want to say it
Just so.
It’s a parody, my calculator.
I’m hooked, I’m here.
Like an open equation
I’m worldwideweb.
Not for a joke, it’s poetry.
When it first began
The spin-spinning affair
With your hair, your fabrics, to pass your idle time,
That Summer was
The green-spleen gap
For further writing —The fountain-pen
Of 25 juvenile years
And three months more —
My Irreversible —Waste of Time.
Deep in the house
They question me:

While this is Anything But Cryptography

Ankunft

Die Fahrt auf dem Fluss hatte einige Jahre gedauert: das Geriesel der
Quellen, gleichmäßiges Plätschern, so wie Gewohnheiten irgendwann Ge-
Danken sind & sich abwenden von dem Ort, da sie das Licht der Welt
Erblickten. Alles fließt. Die Erinnerung schult sich zunächst in der Beob-
Achtung der Ränder – vom Hier & Jetzt aus beginnt der Blick in die Ferne
Zu wandern, rastlos durch das Zucken der Augenmuskeln hindurch überm
Unfassbaren Grund einer Wellenbewegung. Mit der Zeit werden Ufer erkennbar,
Linien der Unterscheidung, und wenn erst der Finger im Wasser mit der
Netzhaut in Berührung gekommen ist, entfaltet sich in der Vorstellung
Jenes Heiligtum außerhalb des handgreiflichen Miteinanders der Körper,
Das sie heute immer noch Raum nennen.- Raum, Rh-Aum & die zusammen-
Geballten Fasern der Knochenbeläge, die unter der Haut hervorquellen,
So wie sich das Wesen zurückzieht & die Linie zur Begrenzung der nur
Nur ihm zur Verfügung stehenden Innen- kreisläufe preisgibt an das
Molekulare Großgetümmel dieser Welt. Götter & Menschen in Eintracht bei-
Einander – als Schichten unterm Mikroskop; später schiebt sich das Getöse der
Unmäßig leicht auf dem Schädel last- enden Luftschichten zwischen die
Außenpunkte des Gesichtsfeldes, das von nun an als in sich fest ver-
Nähtes Segeltuch den Körper aller Dinge so dicht umhüllt wie der
Brausende Wohnraum der Winde den Planeten.

A und O

A und O

Engel schreiben nicht

mit der Feder

Sie sind an

alpha

beten

Vor dem Richtstuhl

mit dem goldenen Buch

in dem sie nicht

stehen

So überfliegen sie

die Seiten

mit ausgreifendem Flügel

Beschreiben

den Bogen

Zurück zum Anfang

von omega

Epitaph: Probleme um Gleis neun drei Viertel

1

Vielleicht bin ich zu alt für diesen ganzen Zauber.

Ich trat vor die geheimnisvolle Wand und stieß mir den Kopf. Dabei wusste jeder um die selbstverständliche Mechanik dieses Ortes. Aber es war der falsche Ort. Oder sollte es gar ein falsches Geheimnis sein?

Ich hatte am Anfang von Bahnsteig neun gestanden und die Leute beobachtet, fast eine halbe Stunde lang. Ich hatte keine Mühe gescheut, ihnen mit kühlem Kopf und ruhigem Blick auf die Spur zu kommen – vergeblich.

Ich stand an einer Bude am Anfang von Bahnsteig neun und beobachtete die Leute. Es war das auf einem Hauptbahnhof übliche Gedränge. Wege und Blicke kreuzten sich kurzzeitig, um schon im nächsten Moment einander ganz zu entschwinden. Ich stand da und war ein Teil davon.

Dann begannen mir die Blicke in der Seele zu jucken. Oder war es nicht vielmehr so, dass meine Blicke in den anderen Seelen zu jucken begannen? In den kurzen Momenten des Blickkontakts begann es zu jucken und zu zucken wie vor einem Gewitter. Man wurde auf mich aufmerksam. Ich war entdeckt.

In der Bahnhofskuppel erschien ein Taubenpärchen. Fast schien es, als hätten sie sich verirrt. Sie konnten unmöglich immer hier herumfliegen, schließlich waren sie keine Menschen. Mein Blick glitt unwillkürlich nach oben. Ich studierte die Topographie des Luftraums von unten. In der kuppelförmigen Dachkonstruktion ragten allerorten ungemütliche Spießer hervor, als Taube hätte man sich unmöglich dort niederlassen wollen.

Vielleicht als Eule. Aber Eulen hatte ich hier nicht gesehen. Ein Problem war es mit den Tauben. Die flatterten dort oben herum, als litten sie unter Verdauungsstörungen.

Als der Blick wieder die Erde erreichte, war der Bahnsteig wie leergefegt. Wo eben noch hunderte von Leuten mit Koffern rastlos aneinander vorbei gelaufen waren, gähnte nun die Leere eines verlassenen Bahnsteigs. Es war zum Ausrasten! Wieder war ich ausgetrickst worden.

 

2

Wenn es mit Beobachtung und Nachahmung nicht gelang, wie wäre es dann mit den Mitteln der Weltgeschichte? Ein vulkanischer Gedanke bemächtigte sich meiner, ich begann mich zu fühlen wie Alfred Nobel in der Blüte seiner Jahre. Dort war also Bahnsteig neun, oder sagen wir lieber – der Bahnsteig, wo zwischen den Zeilen der Gleise etwas Unverhofftes erwartet werden durfte. Ja, zwischen Gleis neun und Gleis zehn wohnte die Verheißung.

Ich stand am Anfang des Bahnsteigs, über mir ein hemmungslos flirtendes Taubenpärchen mit Verdauungsstörungen, unter mir die Erdkugel, wie sie einst schwebend auf dem Schreibtisch eines Giganten vergangener Jahrhunderte rotiert haben mochte, nur größer. Ich hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und fingerte an etwas Festem herum. Jetzt hatte ich es in der Hand. Wenn ich jetzt die richtige Bewegung ausführte, es wäre soweit. Zwischen den Fingerkuppen hatte sich eine ganze Salzwüste abgesetzt, es rieselte ununterbrochen. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es sich bis ins Innerste durchgerieselt hätte.

Da verschlug es mir den Atem. Ich wollte tief Luft holen, doch es gelang nicht. Ich versuchte vorsichtig zu röcheln, so wie man in Hollywood das Nahen des retardierenden Moments einzuröcheln pflegt – allein: es wollte mir nicht gelingen. Obwohl ich genau wusste, dass ich mich auf dem Hauptbahnhof befand, am Anfang von Bahnsteig neun, der zwischen den Zeilen der Gleise ein Geheimnis birgt, sah ich vor lauter verhindertem Röcheln keinen Bahnhof mehr. Vielmehr stand ich allein in der Einöde, um mich ein weites weites Feld, und ich spürte es unaufhörlich rieseln. Unwillkürlich hielt ich mir die Nase zu.

Mittagessen mit Eberhard Spengler. Ein sehr sachliches Experiment

Die Serviette war aus bleichweißem, gestärkten Leinen. Eberhard Spengler lüftete sie vom Teller, entfaltete sie als hätte er Geburtstag und somit Überraschungen zu erwarten – die Erwartung war das, was es auszukosten galt, – und wurde urplötzlich von dem Drang befallen, sie sich um den Hals zu legen und dann langsam immer fester zusammenzuziehen. Unter schwerem Atmen widerstand er diesem Drang. Eberhard Spengler war nicht der Typ für kühle Experimente. Mit verspannter Nackenmuskulatur und krampfhaft geschlossenen Fäusten bemühte er sich um Haltung. Er wußte, die Serviette mußte aus seinem Blickfeld verschwinden, hier, jetzt, sofort. Das Radio spielte „Sunny“, einer dieser Schlager aus den Siebzigern, die man in mittleren Restaurants um die Mittagszeit (warum saß Eberhard nicht in der Mitte des Raumes?) so häufig zu hören bekommt. Für Eberhard Spengler klang dieser unsägliche Refrain wie „Schalli“. Schalli, das war, hach ja, wie konnte er das vergessen – sein Kollege Gustav Schaller, der jetzt Kundenberater bei einem renommierten Bankhaus war. Gustav Schaller hatte Glück gehabt. Haarscharf vor dem ersten, möglichen Griff nach der Zyankalikapsel hatte er den Job bekommen und die traurige Institution verlassen dürfen, in der er, Eberhard Spengler, immer noch knechtete.

Warten Sie nicht auf den Weihnachtsmann, Herr Spengler. Die Tageskarte liegt vor Ihnen. Heute ist Dienstag.

Henriette Spengler öffnete die Tür. Sie war erstaunt, Ihren Mann davor zu finden. Der sah aus, als hätte er schon ein paar Schnäpse intus. Henriette Spengler war eine erfahrene Frau. Sie kannte die Männer, sie kannte besonders ihren Mann und seine speziellen Bedürfnisse. Den Vormittag hatte Henriette damit zugebracht, sich mit einem Rasierapparat, der eigentlich für ihre Unterschenkel gedacht war, das Deckhaar systematisch kurz zu scheren. Das war Henriettes Rache an der Welt, der Welt, die sich ihr nur in Form von Eberhard Spengler präsentierte. Eine kleine, klägliche, ja alltägliche Welt, in der einzig und allein der totale – nein nicht Krieg – der totale Eberhard herrschte, eine Welt, in der schon bei Tagesanbruch der Glanz des absoluten und vollkommenen Eberhard schauerlich am Himmel erstrahlte. Jetzt war später Nachmittag und das Licht des Eberhard Spengler schon ein wenig blasser geworden.

Doch gerade diese Blässe machte Henriette unsicher. Sie deutete ihr vage an, daß etwas in ihrem Mann vorging, vorgegangen sein mußte -, daß da etwas nicht stimmte. „Gib mir meine Krawatte, Henriette“, sprach Eberhard Spengler, ohne seine Frau zu grüßen. Ich will sie dem Mädchen da unten am Fluß schenken, das, wie Du weißt, jeden morgen und jeden Abend dort steht und überlegt, ob sie nicht ins Wasser springen sollte. Sie wird nicht springen, das weiß ich. Die Krawatte wird sie auf andere Gedanken bringen. Meine Liebe, denkst Du denn, eine Wasserleiche sähe schöner aus als ein Mädchen mit einer Krawatte um den Hals? Wenn Du jetzt nickst, wenn Du jetzt sagst, doch, ja ich könnte es mir vorstellen, dann weiß ich, Du hast nie darüber nachgedacht.“

Ja, Eberhard Spengler, da liegt dein Problem. Du denkst über Dinge nach, die später weder passieren, noch andere interessieren, und weil ständig Dinge passieren, von denen du, Eberhard Spengler, nicht einmal den Hauch einer Ahnung hast, müßtest du das Denken eigentlich einstellen. . Siehst du, jetzt beugt sich Henriette vor, um dir einen Kuß zu geben. Gleich wird es Abendbrot geben. Die Dinge geschehen ganz von selbst und dein Denken war nur Sand im Getriebe. Tschüs, Eberhard!

Etwas Erbauliches

In der Nacht vor Weihnachten schrieb sie einen Roman. Weil der Schnee nicht hatte kommen wollen. Das Thermometer war auf drei Grad Celsius stehen geblieben, es roch nicht nach Fichtennadeln, es roch nach Benzin und schmutzigem Regen. Schmutziger Regen hat einen eigenen Klang. Man weiß, dass volle Mülltonnen vor der Haustür stehen und vor den Feiertagen nicht mehr abgeholt werden. Man weiß von dem aufgeweichten Papier, den lappigen Kondomen, stinkenden Milchtüten, die auf dem Hof herumliegen und festgewaschen werden. Man muss etwas trinken an diesem Abend. Der Wecker ist auf sieben Uhr gestellt, sie wird den Klingelbefehl löschen, bevor er scheppernd beginnt. Sie wird weiterschlafen und den Zug verpassen. Die Eltern werden sich aufregen. Kann das Kind nicht mal zu Weihnachten pünktlich sein. Sie wird in ihrem Zimmer sitzen bleiben, Teelichter in den Kerzenhalter legen, sie anzünden und dabei zusehen, wie sie in Form einer Wendeltreppe in den Raum brennen. Sie wird die Fenster weit öffnen und den Regen hineinlassen, die Rinnen mit der schlammigen Brühe betrachten und die vorbeirauschenden Autos, die Benzingestank in den Regen entlassen. Und Kerzen. Wenn die ersten heruntergebrannt sind, wird sie neue einlegen. Sie hat Vorrat, hundert Stück gekauft. Sie wird den Stecker aus dem Telefon ziehen. 

Er hatte sich etwas Erbauliches von ihr gewünscht. „Schreib doch mal was erbauliches“, hatte er beim ihrem letzten Besuch im September gesagt. Kerzenlichter waren nicht geeignet, sich daran zu erbauen. Sie brachte nichts ein. Sie war ein Verlustgeschäft. Aber sie wollte Kerzen. Was war erbaulich? Eine geglückte Liebesbeziehung? Eine tödliche Familiengeschichte über Obstgärten und Kinderchen? In Obstgärten war man allein und beklommen. Ab und zu plumpste eine überreife Frucht ins Gras. Es köderte einen das Schweigen. Sie wollte in Obstgärten sitzen und mit den ins Gras gefallenen Mirabellen ihr Alleinsein feiern. Die waren klein, wurmstichig und wurden von Mutter nicht gemocht, denn sie blieben an ihren frischgeputzten Schuhsohlen kleben. „Mit diesem Obst ist nichts anzufangen, nicht mal einkochen kann man es. Der Mirabellenbaum muss weg.“ Sie erinnerte sich an den süßen, etwas faden Geschmack und das Weiche, Runde in ihrem Mund, das sich mit der Zunge leicht zerdrücken ließ. Die Mirabellen waren weich und nachgiebig wie das Kerzenwachs.

Hausbesitzer sind um die Weihnachtszeit herum die einzigen verbliebenen Menschen. Sie machen sich an deinem Briefkasten zu schaffen, freuen sich über die frischen weißen Schildchen, sind beglückt wie Schulkinder. Der Zug aus einer Havannazigarre macht sie erwartungsvoll für Mußestunden, heute kehren sie auch die lappigen Kondome mit Blattwerk vom Hof. Dass schwermütige Musik aus den Boxen tönt, überhören sie. Vielleicht ist es auch die Kerzenstimmung, in ihrem Haus mit seltsamen Rundungen an den seltsamsten Stellen. Baugerüste ruhen stumm, wollen seit Monaten ihre Beute nicht freigeben. Balkontüren werden aufgestoßen. Sie sind so alt, dass ihr Knarren vertraulich klingt. Regenschauer wehen herein. Ältere Herren mit grauen Bärten und PDS-Mützen treiben vorbei, schlingern auf Fahrrädern durch das schlechte Wetter. Du kratzt Tapetenreste von der Wand, überlegst zum wievielten Male, ob du die vergilbte und von Tesastreifen entstellte Wand über deinem Bett streichen sollst. Starrst den Stuck an, der in jedem Zimmer anders aussieht. Ziehst mit den Augen Kurven und Rundungen, Kreisbewegungen um eine leere Mitte nach und entdeckst in den Bewegungen die Walzerseligkeit, die nie statt fand. Manchmal, wenn es hier sehr dunkel ist, leuchtet ein grünes Schild mit Zeichen Notausgang. Doch du findest die Tür nicht. Trittst in Abstellkammer Nr. Zwei, Staub rieselt in deine Nase, ein Strick baumelt aus drei Metern herab und du weißt, dass da oben ein Stuhl in luftiger Höhe hängt. Der richtige Ort für eine persona non grata. Doch du kommst nicht dorthin.

Subfébrile

Was nun? Ein paar Abende hatte ich im Haus verbracht, jetzt stand ich auf dem weißgekachelten Flur der Heilanstalt, ein Kind mit Zöpfchen, falschen Erwachsenenhandschuhen und rutschenden Söckchen. Adressen vergisst man nicht. Sogar Gedichte hatte ich in meine Tasche geschoben. Ein Handgepäck, innen verstärkt für fragiles Transportgut. „Komm in den totgesagten Park und schau…“ Gleich würde ich in norma­lem Tempo an die Rezeption gehen und um einen Termin bei Dr. Malot bitten. Ein Schamgefühl lähmte meine Zunge. Schwarzer Pelz. „Normale Menschen sind hier ausverkauft!“ Dr. Malot hatte von einer „Vitalistischen Vernagelung mit pathologischer Tendenz in der Beziehung zur Welt“ gesprochen. Begriffen, eindeutig?, fragte er, zweideutig klang es. Ich nickte höflich und bot meine Hilfe an, als mich Dr. Malot nach einer ersten Untersuchung bat, die Glühbirne in der Wandleuchte auszu­wechseln. Einweisung. Medizinischer Fachjargon.  

Mittags kam mir Dr. Malot auf dem Korridor entge­gen. Er forderte mich auf, ihm Gesellschaft zu leisten. Im Sprechzimmer bot er mir einen Ses­sel an, in dessen Mulde man so bequem saß wie auf einer Folterbank. Dr. Malot fing ohne Über­lei­tung von meinem Krankheitsbild an. „Wissen Sie“, sagte er, während er mir eine Zigarette ansteckte, Sie sind wirklich ein me­dizinischer Sonderfall. Eigentlich gehören Sie ins neunzehnte – allerhöch­stens ins frühe zwanzig­ste Jahrhundert. Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht ruhen müssen, wer vertreibt Ihnen die Zeit? Wovon bezahlen Sie die Arztrechnungen?  … verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht kränken, Frau … wie heißen Sie noch mal?“ Ich sagte ihm kurz meinen Namen und täuschte Gleichmut vor, indem ich den Rauch meiner Zigarette lang­sam an die Decke blies. Dr. Malot verstand. „Nun, Sie haben ja im­mer noch die Wahl, sich zu trennen. Davon. Oder stehen Sie dem derart nahe, dass es Sie … na, sagen wir mal – eine Überwindung, ich meine eine Selbstüberwindung kosten würde, es uns oder sich selbst zu überlassen?“ Die Folterbank wurde bequemer. „Ich – also die Ärzteschaft und auch das Pflegepersonal sind Ihnen äußerst zugetan. Sie glauben ein Opfer zu sein? Ein Opfer Ihrer Krankheit, deren Sinn und Inhalt sie nicht verstanden haben. Es gibt leider auch keine deutsche Bezeichnung dafür, sonst würde ich Sie Ihnen nennen. Doch, vielleicht. Darüber mögen andere urteilen.“ Ich war rot geworden. Dieser Mann war schlimmer als Doktor Böck, der die Dinge wenigstens taktvoll in die Schwebe brachte. Und nun forderte er mich allen Ernstes heraus, diesen Begriff zu nennen. Ich nahm ein weißes Blatt Papier von Dr. Malots Schreibtisch und malte ein schwarzes Haus darauf, das wie ein Buchstabe aussah, aber nur eine wirre Linie war. Dr. Malot nickte zufrieden. „Und gehen Sie zu Ihrem Freund. Er erwartet Sie in der Liege­halle.“ Ich sah an mir herunter. Ich trug eine Satinhose mit weiten Beinen, die enger fielen, sobald man auf­stand. Langeweile. Nun in Ordnung. Dr. Malot legte die Stirn in Falten. „Ich erinnere mich an – ja, letzten Frei­tag, gingen wir gemeinsam in das Café am Opernplatz. Sie besuchen ausgewählte Cafés? Nun, ich habe mich daran gehalten. Ihr Freund raucht, nun, also hatte ich französische Zigaretten besorgen lassen. Wie wir so saßen und plauderten – wissen Sie, ich habe selten ein so anregendes Ge­spräch geführt, von vielem verstehe ich ja nichts. Wir Ärzte sind Amputierte. Uns fehlt ein we­sentliches Organ. Unsere Nerven sind zu abgestumpft – oder viel­leicht besitzen wir gar keine. Ich sah Dr. Malot mit meinem kühlen Märchenblick an. Er war gerissener als ich, er stand auf. Wir gingen in den steril glänzen­den Flur. Es fiel mir schwer, mit Dr. Malot Schritt zu halten. Da jedoch mein inneres Tempo auf Hochtouren stellte mein Mund Dr. Malot unaufhörlich Fragen. Er kam tat­sächlich hier und da in Erklärungsnöte. „Sie sind ein schlaues Frauenzimmer, das muss man Ihnen lassen. Meine Erfahrung mit Frauen beschränkt sich auf – bitte verzeihen Sie mir dieses Wort – Kuriositäten, ja ich sammle Kuriositäten … wähle meine weiblichen Bekannt­schaften nach dem Grad ihrer Extrava … ihrer Abweichung von der Norm …“ Dr. Malot verwirrte sich, schluckte ein paarmal und fand dann zu seiner alten Haltung zurück. „Hören Sie. Sie sind viel zu klug, als dass sie meine Befremdung nicht verstehen würden. Sie sind so etwas wie ein Rubin, ein Aquamarin in meinem Frauenkabinett … Sie sind ein …“ „Werden Sie nicht poetisch, Herr Dr. Malot. Ich habe ein ganzes Män­nerkabinett in meinem Wandschrank, falls Sie das interessiert. Postkarten von toten Dichtern. Und den Aqu­amarin trage ich an meiner linken Hand.“ Ich hielt Dr. Malot meine Hand entgegen, an welcher der Stein wie transparentes Was­ser leuchtete. „Kommen Sie bitte zum Punkt, wir sind gleich in der Liegehalle. Sie gehen zu schnell.“ Wir waren tatsächlich eine ganze Weile den Gang entlang gelaufen ohne irgendwo anzukommen, wahrscheinlich hatten wir einen Umweg ge­macht. „Sie tragen einen Aquamarin? Merkwürdig, dass mir das erst jetzt auffällt, wo Sie es sagen.“ Dr. Ma­lot schnaufte. Der Korridor bog jetzt wieder seitwärts ab und mir schien, als seien wir hier vollkommen falsch. Aber ich ver­traute mich Dr. Malots Führung an. Seine scheinbare Lan­geweile zeigte bereits Symptome einer inne­ren Ge­spanntheit. „Dies ist ein ordentliches Hospital, ja ein ordentliches.“ Wir waren stehengeblieben und lehnten jetzt unter einem hohen Bogenfenster. Dahinter ein Garten, in dem Patienten ihre Runden dre­hen durften. Wie Lustwandler. Spaziergänger in spe. Ich spürte, dass mein Sprechapparat mir nicht gehorchte. Deshalb überließ ich Dr. Malot das Wort und starrte nur unbewegt auf seinen weißen Kittel. Ein Chefarzt in guter Position trifft sich mit einer snobistischen Kranken, die über körperliche Affekte, die ja nun einmal zur Natur des Menschen – besser des Menschentie­res – gehören, so spricht, als seien sie etwas Einzigartiges, nur ihr Gehöri­ges. Komm in den totgesagten Park und schau…“ „Dreimal habe ich im letzten Winter die Grippe gehabt. Mein Freund hat danach immer gleich die Kleider gewechselt und die Bilder signiert, die er von mir malt, auch wenn sie noch feucht waren. Dann hat er sie ins Licht gehängt. Wenn nach mir eine andere Frau oder ein Mann zum Modellstehen kamen, was sich selten ereignete, da niemand bereitwillig – für ‘nen Appel und ‘n Ei, Herr Dr. Malot –  ‘ne Lungen­entzündung riskiert, hat er immer zu mir gesagt ‘Das Licht ist dein’. Pathos war sein – ganz klar…  jedenfalls.. die anderen Bilder hingen danach … auch im Licht, weil der Raum das so vorschreibt, aber nie waren sie – signiert.“ Dr Malot kramte in seinem Kittel. „Hier haben Sie ein wirksames Grippemittel, für den nächsten Winter.“ Ich steckte es ein. Mit einem Mal standen wir in einer Halle, die ich heller in Erinnerung hatte. Vielleicht war es auch nicht dieselbe. Einige Kranke lungerten faul in ihren Sesseln, blätterten in Magazinen und hofften auf Genesung. Als sie Dr. Malot erblickten, grüßten sie verhalten. Der über­triebene Respekt vor Ärzten war ihnen mit der Muttermilch eingeflößt worden. Ich stand vor einer dreiflügligen Glastür, über der das kaum noch lesbare Schild „Liegehalle“ etwas schief in ver­renkten Buchstaben angebracht war Dr. Malot drückte die Klinke. Das Kind mit Zöpfen und rutschenden Söckchen folgte ihm. Die Handschuhe hatte ich mir heruntergezogen. „Wir können nichts mehr für Sie tun.“

Inskriptionen. Die Erste

Die erste Runde der Inskriptionen nähert sich dem Ende. Bis zum 31. März können noch Texte für die Anthologie Nr. 1 eingeschrieben werden. Die Redaktion liest schon eifrig und wird im April die Auswahl zusammenstellen. Damit geht Inskriptionen ins zweite Jahr und, wenn frei nach Platon Papier so etwas ist, wie der kleine Tod des Wortes, in ein zweites Leben … 

W A H R H E I T

Die ausgesprochene Lüge nennt gern sich Wahrheit
sie ist eine tausendköpfige Hydra
In ihrer Unbezwingbarkeit hadert sie dennoch
mit diesem Geschehnis
Und so sprechen ihre häßlichen Häupter
dass es bereits geschehen ist
Vergessen kann man es – die Bestie sprach es aus
nicht abzuschlagen ist ihre Behauptung
Selbst wenn sie einen Kopf verliert
ist er aufblühender Same zu neuer lächelnder Fratze
Und es tönt aus den geifernden Mäulern:
Es betrifft dich nicht, denn es ist längst passiert
Das angerichtete Blutbad fließt bereits
in den Adern unseres neu geborenen Verstandes
Der sprudelnde Rumpf schloß sich
zu einem neuen verdrehten Hals –
Der Trompete der Atemluft
und dem Kehlkopf mit der triftigen Zunge
Tröstet euch, denn es ist schon vorbei
die Anderen traf es mitten ins Herz
Es ist reine Wahrheit – sie wollten es so
sprach man doch täglich vom Leitsatz des Tages:
SUCHT NICHT – SO WERDET IHR FINDEN
DAS WAS IHR EUCH NIEMALS GEDACHT HABT
Seid getrost und vergesst nicht
die Aufgabe unter dem Leib des Ungeheuers
Seine Schatten werfenden Panzerplatten
sind das Schieferdach unter dem Nachthimmel
Denn die Wahrheit wird euch berichtet
aus verloschenen Sternen
Deren Licht euch noch nicht erreicht hat.

Süße Provinz

Süße Provinz +++ nicht hinaus : hinein wollen wir +++ immer tiefer : in die Berge +++ Schluchten hinab : mit gellendem Schrei +++ hinterm Bach liegt die Provinz anderer Zunge +++ ein reißendes Dazwischen : kälter als Eis +++ schreckt niemanden : die beiden Alten +++ sind als Jungen drüber gestiegen : zu einer Zeit +++ in der es noch Eis gab : jetzt sitzen sie +++ im Salonwagen & betäuben ihre Demenz +++ mit süßem Sekt : wozu eigentlich +++ die Kindheit schmeckt schon süß : wir Abenteurer +++ erkunden die Kneipen : mit ihren Wandbildern +++ märchenhaft brave Knappen : auf Wanderschaft +++ den Rucksack voll Wein : wer will weg von hier & nicht hinein

Leipzig nießt

Die Messe ist gelesen, ich schlage die Montagszeitung auf und sehe: Nießen. Jetzt muß ich den Namen doch erwähnen. Der Überschrift wegen. Ein fülliger Barde mit rotblondem Haar, rotblondem Bart, schwarzer Brille. Der im Neuen Rathaus die Arme hochreißt wie ein gedopter Radrennfahrer auf der Zielgeraden. Kämpferisch, sportlich, wie der Liebhaber des Pferderennsports, der zwei Tage vorher die Faust hochreckte nach der Siegesmeldung und sich mit Bier besprühte. Wild entschlossen, wie der ehemalige Panzerfahrer, der einst in Klagenfurt seine Faust präsentierte. Nießen hebt beide Arme in die Luft, was auch heißen kann: Ich kapituliere. Aber so ist es nicht gemeint, wirklich nicht. Das Leipziger Lesespektakel – in der Selbstwahrnehmung der Stadt immer ein Superlativ: das größte Literaturfest Europas mit knapp 2000 Veranstaltungen – platzt aus allen Nähten. Das Sympathische an der Zahl ist, daß sich hinter ihr etliche unbekannte Autoren verbergen. Was heißt unbekannt? Außer den Debütanten, die eine Chance verdienen, bleibt in Deutschland eine Großzahl preisgekrönter Dichter anderer Zungen unbekannt – und unbedeutend. Der Filz der Feuilletonredaktionen filtert effektiv und läßt sie nicht an die Oberfläche des öffentlichen Bewußtseins steigen. Da genügt es nicht, den Pulitzer Prize for Poetry zu gewinnen oder den NIN Award of Literature. Manchmal denke ich, da wäre ein neues 68 vonnöten oder eine 89er „Wende“ – im Westen. Statt über diese beiden Ereignisse immer wieder nur nostalgisch zu debattieren. Leider hat sich die Zahl der Besucher Leipzigs zur Buchmesse nicht in gleichem Maße vervielfältigt wie die Zahl der Veranstaltungen. Und die in den Hochglanzmagazinen hochgelobte Verflachung des „Formats“ Lesung zur „Leseshow“, zum „Event“, multimedial natürlich und massenkompatibel, zieht die Gäste in die Katakomben der Innenstadt. Ernsthafte literarische Programme – im Panometer mit Kurt Steinmann beispielsweise, der zwei Jahre lang jeden Tag 15 Verse der Odyssee neu übersetzte – verwaisen außerhalb des Innenstadtrings. Wen interessieren sie schon? Es wird gefeiert, man feiert sich selbst. Die Auferstehung des Partymenschen, bitte nicht zu früh am Morgen. Mit Literatur hat das nichts zu tun. Und was, bitteschön, ist eigentlich „Literaturvermittlung“? Wenig erfährt der Zeitungsleser am Montag nach der Messe von Alida Bremer, die in unglaublicher Detail- und Kontaktarbeit, kroatische Autoren nach Leipzig vermittelt sowie – noch wichtiger – die Übersetzung und Veröffentlichung ihrer Werke arrangiert hat. Auch ihre Nächte, scheint es, waren länger als der Tag. Die Augenringe nicht weniger dunkel. Was, also, bleibt von der Buchmesse in Leipzig 2008? Der Kater mit Gewißheit nicht, der ist am Montagabend schon verflogen – sondern ein paar neue Bücher, unter anderem aus dem Kroatischen.