Requiem

Gespiegelte Gesichter
Bilder die verblassen
Von Schwermut gezeichnete
Fallende Tränen
Einer erlöschenden Sonne

In das Unsagbare
Wohin keiner folgen kann
Wenn das letzte Licht
Einem Herz entweicht
Aus dem eine Lilie erblühen wird

„Teure Bilder im Abrissbau“

Die Wendung zur Abstraktion war in den 50er Jahren des 20. Jh.s eine Konstante.
Zwei Jahre vor ihrem Tod, drei Jahre nach dem Tod ihres Partners und Ehemanns, malt Suzanne Dechamp „Unterwelt“.
Der Abschied von Dada etc. um 1923 war ihr ungewöhnlich leicht gefallen. Fast wirkt es, als sei sie als Frau froh gewesen, endlich dem Geflecht der Normen, Normbrüche, konstruierten Nonsense und ihrer fortgesetzten Erschaffung und Zerstörung entflohen zu sein.
„Unterwelt“ sucht, findet eine Welt. Ob sie neu sei, hängt von der zugrunde gelegten Geschichte des Sehens ab.
Kunst im Abrissbau – Eingang zur Unterwelt

*

1. Stock

Archipel der Anarchie VI

Die Maschine
Oder,
Über die Gefahren der Tyrannei – Wenn Vampire einen Staatsstreich verübten


Aufzeichnungen aus den Tagebüchern des Wanderers
Die Massen strömen in die große Kathedrale, füllen aus, das mächtige Bauwerk, ein Bollwerk gegen unsichtbare Feinde, vor langer Zeit unterworfen. Jeder Atemzug hallte von den toten Steinen wider, schwang beschwert von Seufzen und Ächzen, türmte sich auf, schlug Bögen, übertrumpfte sich gegenseitig
in einer Kakophonie menschlichen Leidens bis in die höchsten Türme, die die
ganze Stadt überragten. Eine verkommene Stadt, ein Moloch der sich selbst
gebiert und im selben Augenblicke verschlingt. Ein Schatten lag auf der Scher
benstadt, einer gottverlassenen Gosse, die heiliger nicht sein könnte. Ein
Elend zwang uns Menschen in die Sklaverei, sind wir doch nur Vieh für unsere
Herren. Ich blickte auf, vernahm die Dissonanz des Chors auf den oberen Reihen, machte mir keinen Hehl daraus. Eine von Not und Elend gebeutelte Gesellschaft, und das war dieser Ort, diese Kirche des Schmutzes, stellvertretend
für jeden Kiesel, jedes Pflaster und jedes Dach, wenn man denn eines über
dem Kopf hatte, nur ein blut- und staubbedeckter Palast größenwahnsinniger
Opulenz im Nebel, der die Stadt heimsuchte, würde nicht das schwache Licht
einer sterbenden Sonne dafür sorgen, zumindest einmal wöchentlich, Schutz
vor der Grausamkeit der Regierung zu gewähren, die derzeit mit wohl Wichtigerem vertraut war, nutzten sie doch die nötige freie Zeit für ihre blutigen
Fehden, um die Oberhand in den Parlamenten zu gewinnen. Ich lief weiter in
Richtung der unzähligen aus feinem Marmor und Obsidian geschliffenen
Bankreihen. Ein merkwürdiges Zusammenspiel der sich im fahlen Licht immerwährend bekämpfenden Elemente. Über mir ein Fresko, das die Geschichte der Scherbenstadt abbildete. Es wirkte plastisch. Beim genaueren
Betrachten konnte man einige Verfehlungen des Künstlers erkennen. Manche
Proportionen schienen gar mit Absicht obszöne Ausmaße anzunehmen. War
ich wahnsinnig? Der Wahnsinn ist ein ständiger Begleiter und Weggefährte in
dieser Welt, in der Stoßgebete nur von denen gehört werden, die sie in die Welt
gesetzt hatten. Mit messerscharfen Zähnen warteten sie auf ihre Beute in der
Dunkelheit. Einem Katz-und-Maus-Spiel geradezu entgegenflehend.


I.
Die Menge erhob sich und verschwamm mit den unzähligen Heiligen und Ornamenten, die das Licht durch die zahllosen Glasfenster, ein jedes an jeder
Seite der oktogonalen Türme, sieben an der Zahl, ein jeder entwächst wie fluoreszierende Sporen aus dem Kadaver eines toten Tieres.
Das Farbspiel und der Missklang erheben das Mittelschiff, an dessen Rand
ich mich befand, in Höhen, dessen Tiefe sich niemandem erschlossen hatte.
Die Gemeinde setzte einen Kanon an. Ein vielstimmiges anhaltendes Brummen, das im viel-farbigen Panoptikum tanzte.
Das Surren erzeugte ein mir wohlbekanntes Vibrieren. Die Stimmen erzeugten
Raum und füllten ihn mit Leben. Jeder einzelne Verstand, jeder wache Geist
entäußerte sich, drängte in den Raum, der entstand, zwängte sich mit letzter
Kraft hinein. Der Priester trat hervor und war nunmehr Dirigent, der ein Orchester zu befehligen versuchte, schwank er den Weihrauch wie einen feinen
Stab um die richtige Reihenfolge zu bestimmen, gestikulierte rigide, wies jedem seinen Platz und die natürliche Ordnung zu. Der Raum war voll, die Gemeinde bereit.
Das Getöse der gewaltigen Orgelpfeifen, die scheinbar überall installiert wurden, zerriss den Vorhang, der sich zwischen Gemeinde, Raum und Priester
befand. Tiefe Töne, die jeden in die Tiefe zwangen, verneigten sich vor der
Herrlichkeit der vor kurzem aufgetretenen geistlichen Würden. Gehüllt in alabasterweiße Laken (ich dachte an den ersten Schnee, als alles noch friedlich
war, zumindest in meiner Erinnerung, die schnell der vom Straßenschmutz
und Unrat und der Tristesse eines ewigen Herbstes wich.) behängt mit Gold,
welches ihn immer wieder spiegelte, ihn zu loben (oder zu verurteilen?).
Sein Blick, der eines strengen Schullehrers, der gerade zur Prügelstrafe an
setzte, aber dennoch etwas väterlich Sanftes innehatte, vernahm alles in sei
ner Gegenwart. Hier war man den allsehenden Augen des dunklen Pontifex
bewusst. Ewige Lebensspenderin und Herrin der roten Hallen der Scherbenstadt, unsere Göttin.
Niemand bekam sie je zu Gesicht. Nur die
Aufgestiegenen und jene, die ihr dienten. Die Fürsten dieser Welt, mit gottgleichen Mächten ausgestattet.
Wer vermag eine natürliche Ordnung anzuzweifeln, die unnatürlicher nicht
sein kann?
Meiner Tagträumerei wurde ein schnelles Ende gesetzt, als sich die Gemeinde
ein zweites Mal erhob, sich anschickte einer Unterwerfung beizuwohnen, die
man euphemistisch simpel die „Säuberung“ nannte. Wären Töne von dieser
Welt, sie wären flüssig, mitreißend, brächen sie in rostiger Schlacke wie ein
Sturzbach über einen herein.
Sturzbach.
Es führte ein großer Fluss aus der Stadt heraus, bekannt für seinen Gestank,
beseitigte er doch schnell die Probleme übervoller Häuser, aber auch glanzvoller Paläste, wenn er scharfkantige Klippen hinabstürzte, dabei die Mühlen der
Werke antrieb, wo sich Täter in Unschuld wuschen, im stickigen Schlamm
ihrer Mordlust suhlten, mit dem Blut mancher ihre Leben freikauften. Morden
ist nicht einfach ein Akt der Rache oder Verzweiflung. Mord ist ein perverses
Melodram irdischer und himmlischer Gefühle, berauschend. Todesrausch.
Der dunkle Pontifex hat seine Freude daran. Welche Stadt kann schon von
sich behaupten ihre Lichter leuchten durch den Tod. Grabeslichter. Mord ist
ein Geschäft, eine Ware, gar Kunst. Welche Stadt kann schon von sich behaupten jeder Einwohner sei ein Künstler.

Erinnerung an einen Anfang

Nun bin ich hier. Die Flamme springt auf, wird hoch und schlank, dürstet nach Wachs und nach Licht. Die Blume verströmt ihren Duft, auf der Fensterbank die Erinnerungen, Schalen, Gehäuse. Ein Hafen. Ein Vater, ein Fluß. Vor dem Fenster die Nacht. In der nassen Kälte schimmernd das Glasdach der Post, Laternen wie Flammen hintereinander am Weg. Über quer stehenden Häusern der weite Himmel, tief grau, schwarz, wo er sich an Dächern und Fassaden abzeichnet. Dazwischen ein heller, blaugrauer Fleck, ungewiß, ob durch die Spiegelung im Fenster oder durch Wolken verursacht. Im Glas verlaufen die Wände. Eine Baskenmütze auf der einen, ein alter Kalender auf der anderen Seite.

Bilder der Stadt, die noch unvermittelt nebeneinanderstanden, sich formten, aufstiegen, wieder versanken. Das weite Grün eines Parks, flach, die großen Bäume in der Ferne. Herbstsonne. Wolken, die immer dichter wurden. Das Unterholz, mit schwammigen Pilzen im hohlen Innern des Baumstumpfs. Plötzlicher Regen. Der anschwellende Sturm, der an den Ästen reißt, Zweige abbricht, achtlos, wie mutwillige Kinder. Blätter, die sich erhoben, davongetragen, oder niedergeweht von schwankenden Bäumen in den Fluß regneten. Ein Wirbel zwischen Kleingartenkolonien und dem Waldstück, auf den Weg stürzende Äste, abgerissen von einer Windgewalt, prasselnd im nächsten Moment, auf den Kies geschlagen. Dazu Regen, in kaum spürbaren Tropfen.

Die Villen am Rand des Parks auf dem morgendlichen Weg. Dunkel. Fassaden von Häusern, alt, wie alt? Hunde, in gestrecktem Lauf, den Atem vorm Maul.

Die Kutsche, die auf der Straße auftaucht, fern noch, Pferdegetrappel, das unwirklich klang, sicher hatte er sich getäuscht. Ein aufgerissener Himmel am Straßenende, über den Häusern. Ein Horizont, der das Ende der Welt zu sein schien, dieser Welt. Das Getrappel kam näher. Auf dem Kutschbock der Mann im grauen Mantel. Scheu lief das Pferd, den Autos voran, blieb hinter ihnen zurück.

Vollmond, der groß zwischen den verlaubten Wegen aufschien, zwischen den Ästen, den Schäften der Bäume. Ein Wald in der Stadt. Knackendes Unterholz, wenn ich die Wege verließ. Krähen in den Bäumen. Oder kreisend.

Hafen des Zimmers, in der fremden Stadt. Spiegelnder Widerschein, die Kerze im Fenster, das aufspringende Licht. Kälte des Raums. Der kleine Kachelofen. Das schmale, lange Zimmer. Und das Haus. Das alte, unsanierte Haus.

(2002/2025)

Archipel der Anarchie V

Das Gebet; Oder wenn Geister einen plagen.

„Gestern Nacht verband mich noch,
was alles aus den Schatten kroch.
mit dem was ich zu fassen suchte,
als schwarz geschmückt der elendig Verruchte,
aufgebahr;
fürwahr,
ich stand.


Ich stand, gespannt.
Die Stille machte mir zu schaffen,
in der Dämmerung, der immerwährenden,
vermummte Kapriolen, Freudensang der Pfaffen,
grotesk, verklemmt sie bleich gebaren – mein Urteil, vernichtend.
Ich verbarg, verspannt.


Welch Leid und Lieb sie künden,
Frömmigkeit verdeckt ihr Sünden,
denn welcher Schein scheint heiliger,
als Sterne, die kopfüber stünden,
scheidet Wasser von den Massen.
Ich verstand, entspannt.


Ein Preisen ging umher, zu zählen allerhand,
doch was bereits verkauft, kann man nicht pfänden,
thront überhöht,
Loblieder und Posaunenchöre,
ein farbenfrohes Kerygma;
höre Lucifer,
höre der Ungeborenen Epiphania.


Man führt zur Schlachtbank alle Reinen,
sollen sie sich doch vereinen,
Nein!
Das wär zu viel des Guten,
lässt sie doch allesamt ausbluten, den auferstandenen Pöbel,
der da ruft: ‚Ich will wer sein.‘,
verdankt sich selbst sein Schuften,
denn nur er selbst betet in der Herren Gruften.


Mit Schmeicheln und Erweichen lässt man die Jahre gehen,
viel hilft viel wenn‘s drum geht Verborgenes zu sehen,
wär man doch nicht so blind geboren,
müsst man den Schaden selbst ausbaden,
wär nichtig alles Mühen,
doch wer sah jemals Rosen in den Wolken blühen?


Solch schleierhaft Geschwader an eitrig triefend Cherubim,
schreien hinaus: ‚verzweifelt nur‘.
Glasfenster stark beschmutzt;
Bestandsaufnahme – intim,
blick ich hinaus, vertiefend;


Kommt vor dem Fall Vergeben statt Vergehen,
folgt man womöglich falscher Spur.
Morgen bin ich wohl erlöst, gar aufgelöst,
Wer weiß dies schon,
trete ich auf den Balkon,
heb an zum Fluge,
schweb umgekehrt davon!“,


sagte B., als er die Freude schöner Götterfunken bestaunte, um sich im Glanz
der Furien zu läutern.

Gedicht über Bäume

„Mehr Infos unter“

Was für eine

Unaussprechlich,

„Todesstrafe für Attentäter … gefordert“

Hass ist Unlust, verbunden mit

Unaussprechlich,

„Könnte Monate dauern … versteckt unter Wohnhäusern“

Lust und Unlust – oh Gott —

Der Trieb,

Das Begehren

Das Wesen selbst …

„Herr erbarme dich“

!

*

You think, you’ve lost your love

zig Millionen getötet

1840 Opium (Waffen)

* *

Diese Prinzessin – das bin ich

Du?

Gedicht nicht über Bäume

Also musst du endlich lernen zu verzeihen,/Oder du wirst zwischen deinen Hunden grau.

1836?

1899?

1900?

Fastentag

Lernen, lernen und lernen.

Sterben?

Wie die B.

Archipel der Anarchie IV

Der Wald

Oder,

wenn Tiere Horrorromane schreiben würden

„Als die Tiere sich erhoben und anfingen sich ihrer Herren schmerzlich zu entledigen, da sprachen sie mit einer Stimme und erfuhren, was echte Hingabe bedeutete“,

sagte B., als er den Lebensbaum erklomm, um nicht im Schein der fahlen Flügelsonne zu vergehen.

Ein Geist

§ 33

„Ich bin Geist – und heute bin ich eine Taube!

Ich erhebe mich gen Himmel,

durchdringe pfeilschnell,

schnabelwärts

den dichten Dunst des domestizierten Menschen,

gefangen in seiner Angst.

Felder und Weiden ziehen an mir vorbei,

doch ich vermag keinen Unterschied zwischen ihren

und den Heimen meiner Art zu erkennen.

Wir sind Spiegelbild ihrer Laune es sich gemütlich zu machen,

fern vom Dreck, makellos,

sich den Dreck unsereiner morgen für morgen auftragend,

um den eigenen zu vergessen.

Wir fühlen wie sie, kleiden uns wie sie, erziehen unsere Kinder wie sie – und

doch sind wir Ding!“

§ 34

„Ich bin Geist – und heute bin ich eine Schabe!

Ich krieche im Schlund der Maschine.

Manche flüstern unseren Aufstand herbei.

Was bleibt vom Menschen über, wenn er fällt,

vom Schorf bedeckt,

nicht minder mehr bloß Kreatur im Geiste ist?“

§ 35

„Ich bin Geist – und heute spaziere ich im Wald!

Der Mensch ist Schande und Auswurf dessen,

was er versucht einzugrenzen und zu unterwerfen.

Gleicht der Mensch dem Wald, so gleicht dieser nicht ihm,

doch der Mensch hat es vergessen,

denn die Hölle; das sind nicht die Anderen,

sondern die Gleichen!

Es wird der Tag kommen, da die Winkelspinne Gericht hält und die Feldmaus

nicht mehr weinen braucht.“

Eine Trauer

§ 36

Heute ist der Tag nach gestern

und der Tag vor morgen,

wenn wir das beabsichtigen zu tun,

was wir gestern erst ersponnen,

aber heute nie begonnen.

§ 37

Heute ist der Tag an dem wir das zu Grabe tragen,

was wir gar nicht erst begangen haben,

weil wir doch schlicht die Zeit, die Kraft nicht finden,

da wir nicht mal suchen,

sondern uns im gestern winden,

um im morgen zu ertrinken.

§ 38

Heute ist der Tag an dem wir aufgegeben haben,

was wir nicht einmal gewonnen,

denn wenn wir glauben zu meinen,

dass wir den einen, den wir heute nennen,

gestern noch als morgen,

aber heute schon als gestern kennen.

§ 39

Heute ist zeitlos, eine Plastikrose im All.

Heute ist Verfall

§ 40

Die Anarchen ehren die Bäume und das leise Rascheln ihrer Blätter.

Auf jedem Grab erwächst ein Neuer. So schließt sich der Kreislauf ihrer Leben.

Denn wo die Toten ruhen,

da webt die Winkelspinne ihren Faden

und die Feldmaus schreibt sie ein, die Namen der Anarchen,

ins Buch der Geschichte,

wenn sie an den Wurzeln der Weltenwende nagt.

Archipel der Anarchie III

Der Souverän
Oder,
Über die Indigenialität

Die Zeit dreht sich vorwärts.

Ich höre ihren Klang im Kohlebecken.

Ich rieche ihr Kommen in der Räucherpfanne.

Ich blickte sie von hinten.

Als der Panzer der Gürteltiere noch nicht gemacht und die Pferde noch aufrecht schritten; in der Zeit, da die Winde noch sangen und der Flug der Vögel noch nicht bestimmt war, da erstreckte sich das Nichts wie ein Ölfilm von vorne bis hinten. Tosen und Rühren entstand aus der Mitte des Nichts. Kein Laut war noch gemacht und keine Wiederholung. Das Nichts aber erfasste das Ein-All. Auch das Dunkel war gänzlich unbekannt. Nichts leuchtete in ihm. Im Ein-All schwirrte die Teilung. Die Teilung hingegen empfand noch keinen Grund, den es im Nichts pflegte zu suchen. Es ergab sich noch kein Sinn, aber eine Bewegung entsprang der Teilung aus dem Willen zur Freigabe. Noch war keine Bedingung an die Freigabe geknüpft und niemand auffindbar, der sie empfing. Eine Zeit und zwei weitere Zeiten sauste der Wille durch das Nichts im Ein-All. Aus dem Mangel an Begrenzung entwich dem Willen die Willkür. Sodann vergrub sich der Wille in der Rührung, während die Willkür das Tosen heimsuchte. So war die Wendung geworden. In der Wendung erfand sich der Grund. Aus dem Grunde erfasste sich der Sinn der Bewegung. […] Sogleich vollzog sich die Teilung zwischen Ein-All und All-Einem. Das All-Eine wanderte eine Zeit inmitten der Felder […] Viele Zeiten legte es Laute an, die sich verbanden. In der Verbindung kam der Sinn ins Sein.“

Hymnus Creacredibi I


Ein Gericht
§ 21
Die Anarchen besingen die Taten dereinst geschlagener Schlachten Tag um Tag.
Damals, als die Freudenfeuer noch die Macht derer brachen, die,
erwählt von der gehörnten Ratte, Stein für Stein des Weltenrunds verbogen,
bis ihr Geist ruhelos auf der Fläche kreiste.
§ 22
Die Anarchen kennen keinen Missbrauch der Macht, denn Macht ist unsichtbar, haftet dem
Ding an. Macht ist ein Schatten, geschmiedet im Rauch der roten Esse.
Die Anarchen kennen keinen Rauch, nur die Asche ihrer Erkenntnis, die sie in Eden ausstreuen, wo die Bäume süße Früchte tragen.
§ 23
Ist die Ernte eingefahren, treffen sich die Anarchen in der Mitte des Archipels,
um zu beraten. Groß ist der Drang nach Veränderung, doch die Uhren der
Anarchen stehen still, denn sie kennen keine Zeit. Zeit ist Gegenstand der
Macht und der Mächtige gebraucht sie, um den Eifer der Masse zu messen.
Ein Fluch ist der Eifer,
denn er dreht sich in Spiralen,
baut Türme,
suhlt sich in den Qualen
und vergisst das Recht die Ernte zu bewahren.
§ 24
Hört, ihr Anarchen,
hört den Ruf des Bewahrers, der da ruft zum Fasten.
Die Anarchen kennen keinen Überfluss, denn ein jeder folgt ganz seiner Zeit,
um sich zu nehmen, was ein anderer kann geben,
dass er sich nimmt, was der nächste find’t.
§ 25
Als der Mensch die Maschine zertrümmerte, da entwich die gebannte Stunde,
verfing sich im Schatten der letzten Wolke und tat solch frohe Kunde:
„Gefesselt ward ich vielfach sehr,
geteilt in zwölf durch einen,
gewiss, ich bin zurückgekehrt,
dass alle Tage, alle Jahre ich euch diene und der Ernte Segen ewig währt.“
§ 26
Ein jedes Haus birgt eine Familie, eine jede einen Schatz.
Ein jedes Dorf birgt einen Sprecher, ein jeder einen Satz.
Ein jeder gewoben,
gesponnen im Hause des Bewahrers,
wo finden Plenen statt,
zu klären,
was es braucht,
um der Anarchen Leben so annehmlich wie möglich zu gestalten.
Den Schatz, ihr wollt ihn finden? Er liegt im tiefsten Winkel eurer Seele,
wenn ihr mimt der Hummel klang,
doch zäher Honig tropft und tropft und trübt der Nachtigallen Sang.
§ 27
Jeder Anarch ist Ausdruck seiner ihm vom Schöpfer verliehenen Macht und
seines Vermögens. Jeder Anarch sein eigenes Volk,
das strömt im Rhythmus des Libellentanzes ein ins Hause des Bewahrers,
um dem Wanderer, dem Feind der gehörnten Ratte, zu danken.


Zoon Politikon
§ 28
Im Hause des Bewahrers gibt es zwölf Sitze. Elf für die elf Gemeinden des
Archipels. Der zwölfte jedoch ist für den Wanderer, der allzeit Obdach findet,
wo sich seine Wege kreuzen.
§ 29
Ruft der Bewahrer, so versammeln sich die Sprecher und beschließen, was
der Lauf der Stunde längst von ihnen eingefordert hat.
§ 30
Begeht ein Anarch eine Untat,
was selten passiert,
da die Anarchen einander kein Unrecht anzutun brauchen,
weil ein jeder von Kindesbeinen an lernt,
dem Nächsten, dem Anderen,
Demut zu erweisen,
so versammeln sich die Sprecher,
um zu richten.
§ 31
Die Anarchen kennen nur die Wahrheit und so muss der Täter dem Opfer sein
Herz öffnen, um sein eigen‘ Tür und Tor zu verschließen,
auf das er mit ihm wandere, bis sich die Wege wieder kreuzen.
Gerät eine Gemeinde in Not,
so sind die anderen verpflichtet ihre Besten zu entsenden,
um der Jammer Zwietracht zu beenden.
§ 32
Die Anarchen erliegen keiner Täuschung, denn die Sprecher sind Wesen von
hohem Stande und entstammen aus der Mitte einer jeder Gemeinde. Jede Familie beherbergt einen Sprecher, denn die Anarchen entscheiden im fairen Spiel, wer ihre Interessen bewahren soll.
Ihr Schatz ist der Zufall und ihr Sprecher das Glück.

Archipel der Anarchie II

Das Wort – Was wenn etwas fehlt?

„Als der Mensch begann sich selbst zu viel zu werden und anfing sich seiner Gattung schmerzlich zu entledigen, blieb nichts übrig auf den nun ruhigen Wassern des einen Ozeans, außer einem kleinen Archipel; dem Archipel der Anarchie, wo die ersten und letzten ihrer Art beheimatet sind, die Anarchen. Freie Wesen, unter ihnen die Menschen, die in friedvoller Koexistenz miteinander her leben.“, sagte B. und stieg in das kleine mit Brettern aus Hyazinthenholz behauene Boot auf dem Weg nach Nirgendwo ans Ende des Kosmos, mit nicht mehr behangen als dem ausgeleierten mit weißen Farbtupfern übersäten, neonschwarzen Pullunder, um dort Wohnung zu nehmen, beauftragt den passierenden Pilgern von der neuen Welt, dem neuen Menschengeschlecht, eingefangen in den Grenzen seiner kunstvoll ausgeschmückten, akazienbraunfarbigen Bilderrahmen der eigenen Vernunft, zu berichten.

„Im Anfang war das Wort und nur das Wort, das ganz fassungslos, gesponnen am Rad der Zeitenwende, vom Himmel auf die Erde fiel.

Im Anfang war das Wort, der Sinn, der Verstand; und alles war eins.“, sagte B. und setzte sich, den Blick auf den sich formierenden kupfernen, mit Staub geschmückten Sternenwirbel gerichtet, als er den Acheron passierte, um sich mit Omphalos zu vermählen.

Revolte

§ 1

Als die Anarchen den Krieg in freier Übereinkunft mit allen Parteien gewannen und die Herrschaft der Dinge, die letzte aller Herrschaften, beendet worden war, befreite sich zuallererst die Sprache. Da erkannten sich die Menschen und es viel ihnen wie Schuppen von den Augen. Töricht waren sie gewesen.

§ 2

Es gab nur noch das Ich und das Du, denn ein jeder begegnete dem anderen in gegenseitiger Liebe. Weiße Menschen, schwarze Menschen, Menschen mit oder ohne Armen, Blinde und Taube. Juden, Muslime, Christen und Heiden.

§ 3

Es gab weder das Es, denn mit dem Dahinscheiden des Es war die Herrschaft der Dinge beendet, geschweige denn ein Wir oder Ihr, nur den einen und den anderen, damit sich keine Rotte mehr über jemanden erheben brauchte.

§ 4

Keiner brauchte mehr die Dinge zu fürchten, denn der Mensch gab ihnen eine Seele. Oh, welch wundersame Wechselwirkung stellte sich ein, als der Mensch anfing mit den Dingen zu sprechen und auf ihre Antworten wartete. Und sie freuten sich über die Dinge, als sie anfingen Fragen zu stellen.

§ 5

Ein Stuhl war kein Stuhl mehr, ein Tisch kein Tisch und ein Stift kein Stift. Es gab ja nur noch das Ich und das Du. Namen waren überflüssig, als der Mensch begann sich in die Endloskette seiner und der himmlischen Schöpfung einzureihen, um im ewigen Du aufzugehen, das alles mit allem verband, die treibende Kraft, die Brücke zur Welt der Beziehungen.

§ 6

Was waren die ersten Worte der neuen Welt?

„Du?“,

fragte der erste Mensch und da erkannte der andere sich

„Ich?“

und fortan lebte alles in Eintracht, im Gleichklang des Schweigens.

§ 7

Denn das Schweigen ist die Sprache der Schöpfung. Als der Mensch inne hielt und anfing zu Schweigen, da war er in der Lage zuzuhören. Als der Mensch anfing zuzuhören, da floh der Hass aus seiner Sprache mitsamt den anderen Schrecken, die er einst über die Schöpfung brachte.

§ 8

Die Anarchen kennen keine Wörter, die das infernalische Feuer heraufbeschwören. Sie kennen nur die Wörter der Liebe und Hingabe zueinander, mit der sie allen Dingen Leben einhauchen. Da sie keine Wörter des Hasses gebrauchen sind sie nicht auf die Dinge des Hasses angewiesen und so schaffen und erdenken sich nur Dinge der Liebe innerhalb ihres Tagwerks. Insgesamt nutzen die Anarchen nur sehr wenige Worte, da sie das Schweigen schätzen gelernt haben. Sie sprechen kurze Sätze voll an Ausdruck und Klang in einem alle Ebenen der Emotion ansprechenden Rhythmus, gespeist aus dem Gleichklang des Einen dessen Frequenz in ihrer Kehle vibriert.

§ 9

Die Anarchen beherrschen jede Geste, denn für sie sind Gesten Kunst, Spiel und Ausdruck zugleich. Sie lieben die fließende Bewegung, als wehte ein zarter Hauch über goldgelbe Gerstenfelder im Lichte der Spätsommersonne.

§ 10

Die Anarchen lachen, und sie lachen ein echtes Lachen, weinen echte Tränen und verspüren echte Freuden, da die Maske, die ihnen das Ding überstülpte, heruntergerissen ward.

§ 11

Die Kinder der Anarchen lernen die Sprache durch Nachahmung, bringt doch jede ihrer Generationen eine eigene hervor. Sprechen ist ein performativer Akt der Selbstaufgabe und -offenbarung, bei der alle Sinne angesprochen und genutzt werden.

§ 12

Die Anarchen kennen vier Sprachen mit denen sie einander begegnen: Die Sprache der Natur, die Sprache der Dinge, die Sprache des Klangs und die Sprache des Tanzes.

§ 13

Die Sprache der Natur verleiht allem Lebendigen eine Seele und damit Würde. Dem tut es die Sprache der Dinge gleich, denn jedes Ding ist gleich viel wert wie das Leben seines Schöpfers, ist Teil, was bedeutet, dass es geteilt werden will. So kommt dem Ding kein Unleben zuteil, damit es den Menschen nicht erneut unterwerfe;

Nein, durch das ihm verliehene Eigenleben reiht sich das Ding in die lebendige Schöpfung ein, gereicht ihr zum Segen. Es, das Ding, wird vom Es zum Du.

§ 14

Die Sprache des Klangs formt die Worte der Liebe, mit der eine solch süße Poesie den Alltag bereichernd geformt wird, die beim ersten Hören einen jeden ergriffen die Tränen in die Augen treiben lässt, überwältigt von der bedingungslosen Hingabe. Man stelle es sich wie ein Ringen nach Luft vor, stiege man aus giftigen Dämpfen empor und ließe ein, den reinigenden Sauerstoff.

Berauscht von der Schönheit der Worte kommt der Mensch in Bewegung, tanzt im Gleichschritt dieser Melodien seinem Gegenüber entgegen.

Archipel der Anarchie

Ouvertüre – Was, wenn die Revolution zum Mythos wird?

Was bleibt einem von der Welt, wenn der Hunger eine neue gebiert?
Wo steht der Mensch heute;
und, was noch viel wichtiger ist;
was verlangt er uns, den alt und spröd gewordenen Geistern noch alles ab?
§ 1
Der Mensch will weder sterben, noch leiden,
aber er erträgt das Leben dennoch nicht,
verdammt zu Unrast und Unleben.
§ 2
Sieg dem siegreichen Untod, triumphierend über die Zeit.
Ich sehe wie das aufgedunsene Gehabe
jener grotesken Antagonisten stolz auf den
Promenaden im Schein der allzu festlichen Gesten zirkuliert,
die sich ihm niederwerfenden Massen verschlingend.
§ 3
So stellt man mich erneut auf eine Probe dem Kapital den Kampf anzusagen,
jenem Götzen der Pestilenz, um den sich der Plebs drängt,
lechzend nach der Wärme des ersten aller Feuer.
§ 4
Ich bin es leid am Weltschmerz zu vergehen,
will aufwachen aus diesem grässlichen Traum,
dieser perversen Proklamation einer für beendet gehaltenen Welt,
die sich selbst von der eigenen Vernichtung abhält,
die Wahrheit mit einer Lüge nach der anderen verschleiert.
Wie also brechen den Bann?
Rammt euch die Messer zwischen die weichen Knochen,
in die feisten Bäuche und schwingt euch empor zu den Sternen,
denn euch wurde alles genommen, außer die Gewissheit einsam zu sein.
§ 5
Ebenso viel habe ich für seine Apostel übrig,
Apologeten einer apathischen Apartheid
mit Sinn für den wohl größten Frevel meiner Zeit;
Kurzsichtigkeit.
Denn wenn er kommt,
der Krieg aller gegen alle,
gibt es keine Rückschau mehr.
§ 6
Welch‘ ein Hundesystem, sich selbst Wohlfahrt schimpfend.
Ich bin es leid zu produzieren und zu konsumieren.
Produktion und Konsum sind untrennbar verflochten.
So spinnt die Traumspinne ihren Faden um die scheidende Vernunft;
zieht die Schlinge stramm und führt uns am Seidenstrang in die Unmündigkeit.
§ 7
Ich künde das Ende der alten Welt,
die stirbt doch keine Erlaubnis dazu hat,
gar nicht fähig dazu ist,
weil wir es nicht sind.
§ 8
Welch‘ Schmach den eigenen Tod bis ins kleinste Atom zu spalten,
auf, dass sich ein jeder den Verlust der eigenen Leibhaftigkeit herbeisehnt.
Das Kapital ist zum Sterben verdammt und mit ihm die anhaftende Menschheit.
Es will zu seinem unsteten Siechtum zurück.
Doch der Mensch verkraftet die Fluten des Abgrundes nicht.
Zu klein ist sein Verstand ihn zu fassen.
Und so treibt er im pechverklebten Urstrom der Selbstvergessenheit.
Das Kapital bringt nichts als die kosmische Unruhe – das ist sein Urseinsgrund.
Es ist nicht dazu bestimmt zu verweilen,
an der Schönheit der Schöpfung derweil sinnliche Freuden zu verspüren.
Das Kapital kennt kein Leben,
aber doch braucht es dies,
um ja nicht von der Erde zu scheiden,
damit es zum Abgrund, aus dem es entschwunden ist, zurückkehren kann.
Alles Heilige ist ihm fremd und so wird es alles was uns dereinst teuer und
lieb ist;
die Herrschaft, die Schöpfung, die Liebe, den Gott
und sogar den eigenen Tod konsumieren und reproduzieren,
bis letztlich alle Substanz der Seele zermürbt ist.
§ 9
Ja, es saugt sich fest an jedem Seelentrieb
und absorbiert unsere erbauliche Schaffenskraft,
genauer seine Genuität.
Kapital hat keine Seele
und vor Neid erzürnt hat es sich zur Aufgabe gemacht sie zu beherrschen.
Wehe, der wache Beobachter entzieht sich seinem Einfluss.
Kapital heißt Abhängigkeit.
§ 10
Der Mensch wurde nicht geschaffen das Unleben der Leere zu ertragen,
die es in alle Herzen reißt
und so wählt er, besten Gewissens dieser Welt etwas Gutes getan zu haben,
den Freitod.
§ 11
Was übrig bleibt, ist die Wut.
Hütet euch vor den Hütern der Ordnung,
denn damit die alte Welt sterben kann,
muss alle Ordnung fallen,
denn sie hält die Wut nicht aus, im Wissen, dass ihre Zeit gekommen ist.
Also greift sie zur Kontrolle.
Das Endstadium des Kapitals.
Ich ertrage meine Wut nicht mehr.
Ich bin es leid dieser Welt einen letzten Schrei entgegenzusetzen,
bevor ich in meine eigene flüchte.
Die alte Welt wird sterben
und so bleibt mir nichts anderes übrig in eine jenseits der Wirklichkeit zu
fliehen.
§ 12
Ich bin weder Wirtschafts- noch Kriegsflüchtling,
geschweige denn, dass ich um Leib und Leben fürchten muss.
Nein,
ich flüchte in die Dimensionen der Phantasie und Kreativität,
weil ich zu den unvernünftig Privilegierten meines Standes gehöre,
denen sie noch nicht genommen wurde,
restriktiv ausgesaugt der Zwecklosigkeit und dem Hohn am Pranger preisgegeben,
unfähig von einer besseren Welt zu träumen.
§ 13
Fürwahr bedarf es einer Reaktion der Unterdrückten, ihrer Phantasie beraubten;
der Entrechteten Spieler, Tänzer, Maler, Denker und Schreiber,
kurzum jeder der der Welt noch Demut vor dem Einen erweisen kann.
Die Lethargiker herrschen über die Schaffenden;
und die Depression über den Frohsinn.
§ 14
Kreative aller Welten, vereinigt euch,
auf dass wir jedes einzelne Muster, jede Faser,
jede nur erdenkliche Form dekonstruieren,
die Illusion der Gequälten Stein für Stein abtragen;
und die Schleier frohlockend zerreißen,
um sie nach unseren Vorstellungen neu zu erbauen und mit Liebe zu erfüllen.
Baut auf das neue Haus der Zusammenkunft.
Reißt sie ein, die Grenze zwischen der Wirklichkeit und der Phantasie.
Höret, haltet euch bereit für die große Beseelung;
Ja,
befreit euch vom Joch der Abhängigkeit.
§ 15
Wer waren wir so blind und taub – so gierig –
uns dem Strom hinzugeben – die uns erteilte und verliehene – Verantwortung,
an die gehörnte Ratte abzugeben.
Hört von der kommenden Welt,
die ich euch nun künde,
auf dass ihr mit mir, die ihr noch Willens seid,
das Schiff Richtung Eden besteigt.
Unsere Wiederkehr ist ungewiss.
§ 16
Es ist Zeit die Reise über den Abgrund anzutreten.
Noch seid ihr in Fesseln,
beseelt vom garstigen Geist der Maschine.
Denn die Maschine ist das geliebte Kind der gehörnten Ratte.
Geißelt euch nicht noch selbst für eure eigene Unmündigkeit;
dafür seid ihr erhabenen Subjekte viel zu schade.
Zerschlagt mit aller Macht,
mit der ihr euch Tag um Tag peinigt und den Kopf zermartert,
mit der ihr euch hetzt,
die Maschine
und verjagt die gehörnte Ratte,
zurück in die Tiefen der Erde,
aus der sie im schwelenden Schwefelkleid
und mit ihr die den Planeten befallende Pestilenz emporgestiegen war.
Dann seid ihr frei! Ihr habt einzig euer Leben zu verlieren,
den Tod aber zu gewinnen.

Die Kellerassel

Dicker Rauch,
dünner Bauch,
Bombenhagel,
weißer Spargel,
Fliegen durch das Hinterland.


Hosenlatz
und Gummifratz,
Feuerflamme,
von der Stange,
liegen Leichenteile quer verstreut.


Schützengraben,
Unbehagen,
Steuerknüppel
für die Krüppel,
such das Heu im Nadelhaufen.


Alles gut,
alles neu,
denn die Fliegen wern dich kriegen
und die Investoren feinen Schnaps.


Auf das Leben,
einen heben,
denn was bleibt dir,
du Soldat,
wenn die Anstalt vor dir schwebt?


High-Performer,
Kugelnormer,
Bildschirmschoner,
Plastekloner,
druckst du auch den Ausdruck und Geschrei?


Und der Krieg,
der mir lieb,
mit Bedauern
an den Mauern,
aufgehoben,
wie verlogen,
wird der Grund für Gründe sein.


Und der Mund,
bunter Hund,
Ungeheuer,
teuer teuer,
redet sich in Rage rein.


Fliederblüte,
Gott behüte,
nicht sehr kurz
der Pulverfurz,
Fallen in der Hinterhand.


Und der Friede,
der so prüde,
schlägt besonders aufs Gemüte,
wenn ich ihn im Sommerschlussverkauf
nur kriege.

Ein Lied,
wie zwei Schneeflocken, die fallen,
weißem Rauschen bei Mitternacht lauschend,
verzahnt.
Ein Hauchen sie durchhuschend.
Rauchend träumt ein Sein.

Leise floss das Lied, das man der alten Tage wegen öfter anstimmte, aus
dem mit Holzapfel bewehrten Telekopf, wie zwei Schneeflocken, die fallen.
Zwei Schneeflocken, die fallen/
Verklemmt/
Einander, nimmer auseinander/
Gehemmt/
Wandern immer/
Und mäandern/
Liebe, die im Leib entbrennt.

Es war wie ein ewiger Herbst, als sie beisammen Kartoffeln
schälten und über die Helden der Arbeit sangen, da dröhnten aus dem
Gebüsch heraus zwei Lichter, wie zwei Schneeflocken, die fallen, einander nie berührend; man vertraute auf die Sicherheit des Lichtes,
mit der Gewissheit man werde schon selbst in der bei einem sitzenden
Dunkelheit leuchten. Pustekuchen; schade um die erbeuteten
Kartoffeln, die zertreten nun den Park düngen. Die Beine in die Hand
genommen, überlegen, um des Überlebens Willen, stürmten Bertram,
Wladimir und die anderen ein jed in eine Richtung, Hand in
Hand, wie zwei Schneeflocken, die fallen, preschend auf Toyotascheiben
klatschen, wenn der Wind sie erfasst, den Lichtern ausweichend.

Ein Lied, wie zwei Schneeflocken,
die fallen.
Wie Wildgänse über Wüsten flattern.
Ein Lied,
wie Hasenhoppeln
auf der Bundesstraße.


Ein Lied, wie zwei Schneeflocken,
die fallen.
Zankend sie beisammen,
unentwegt,
wie Quallen,
nesselspitz verfangen,
gleich Kristallen in der Nase.

Danzig

Schöne : reiche Stadt 

Deine Bürgermeister 

Vor 200 Jahren hatten 

Einen stattlichen 

Schmerbauch : samt-

Bedeckte Walrösser 

Goldgewirkte Stoffe 

Wurden verschickt

Die Segelschiffe landeten

Am Fluß : der Kai

Direkt an der Stadtmauer

Und nicht zu vergessen 

Der Kran : einst der höchste 

In Europa : lang ist das

Her : vor 90 Jahren 

Wuchsen die Leichenberge

Doch Dr. Spanner : der Anatom

Beschwerte sich über 

Mangel an Material 

In seinem Sezierkeller

Für die wachsende

Schar der Studierenden 

Wieso hat dieser Nazi

Schon gegendert

Wie auf dem KdF-Plakat

Das „Sonne und Grün

Allen Schaffenden“

Verspricht : ein Haufen

Ruinen ist draus geworden 

Nicht vorstellbar : dass

Diese Stadt zu 90 Prozent 

Zerstört war : sie glänzt 

Nicht : aber sie strahlt 

Würde und Alter aus

Die Juweliere zeigen

Ihre Bernsteinschätze

Draußen auf der Marianska

Es ist nur gerecht

Daß sie den Polen gehört 

Die sie gegründet 

Und wieder aufgebaut 

Haben : scheinbar

Als wäre das Unvorstellbare

Nicht geschehen

Ahlbeck

Ankommen in Ahlbeck 

Um sich zu Aalen

Wortfaul das Maul

Mit Mohn zu stopfen

Kuchen im Kopf

Statt heißer Zitrone 

Ich verrate dir

Nicht wo ich wohne

Im Nirgendwo

Heute hier nachher fort

Das ist mein Ort

Weiterzuziehen über 

Die Grenze : über Grenzen

Zu gehen im Kopf 

Und zu Fuß : was macht

Die Hand : sie gibt

Dir einen Kuß weil sie muß

Unsichtbar bleiben und stumm

Hierherum hierherum

Zweites Semester

Ein Tag im Frühsommer 1984. Der junge Mann, beinahe ein Junge noch, kein Zivildienstleistender mehr, eben am Beginn des 2. Semesters, sitzt im Garten der Eltern und der Großmutter und liest Peter Handke, „Wunschloses Unglück“, für eine Vorlesung mit dem Titel „Westdeutscher Roman nach 1945“. Er versteht nicht, was er liest, der Tag ist sonnig, der Vater im Garten, in seiner Nähe, tut oder sagt etwas, ohne Bezug zu dem Buch, die Großmutter nicht weit, nur die Mutter ist im Haus. Der Student im 2. Semester Germanistik freut sich über die vielen neuen Bücher, die er mit dem Geld der Eltern, des Vaters, gekauft hat, Koeppen, „Tauben im Gras“, keine sehr schöne Ausgabe, die noch zwei weitere Romane enthält, Hildesheimer, „Tynset“, ein hell orangefarbener Einband, der ihn neugierig macht, Andersch, „Sansibar oder der letzte Grund“, ein Taschenbuch aus der Schweiz, mit schwarzem Umschlag, und Handke, „Der kurze Brief zum langen Abschied“ und „Wunschloses Unglück“. Einigermaßen verständnislos wird er alle diese Bücher lesen, noch sind sie nur Besitz, und das wird lange so bleiben, jetzt aber der Beginn eines Studiums, das Durcharbeiten einer umfangreichen Lektüreliste. Verstehen, wenn überhaupt, empfinden, nach- und mitempfinden wird er erst, nach und nach, und dann, Jahrzehnte später, wenn die Großmutter schon lange nicht mehr lebt und auch die Eltern an der Schwelle stehen, er selbst in seinen späten Fünfzigern, und da wird ihm jener ferne Maitag, oder war es Juni, vor Augen sein, das Haus mit seinen Bewohnern, der Vater im Garten, die Großmutter auf der Terrasse und die Mutter, die er nicht in Zusammenhang bringen konnte mit seiner Lektüre und dem „Wunschlosen Unglück“, denn er wußte oder fühlte nicht, daß dieses Unglück das seiner Familie, das seiner Mutter und auch sein eigenes war. Das Unglück, das, da beschrieben, schon nicht mehr Unglück schien. Er hält das schmale Buch in den Händen, und auf den wenigen Seiten zwischen dem braunen Einband ist seine ganze Familie, das Haus und der Garten und, noch immer, der ferne, anscheinend ewige Tag in einem Mai oder Juni, als er anfing, Peter Handke zu lesen und Literatur zu studieren.

Zeit (2008)

Es war schwer, an einem so kleinen Bahnhof wie diesem mit nur einem einzigen Bahnsteig den jungen Mann zu übersehen, der, wie ich, auf den Zug wartete, mit einem für die hiesige Gegend ungewöhnlichen Hut. Während ich weiter hinten, fast vor dem kleinen Bahnwärterhäuschen stand, ging er manchmal ruhig neben dem Gleis auf und ab, sichtlich wartend, doch sichtlich mit Zeit, ohne eine Spur von Ungeduld oder Hektik im Gang oder dem jungen Gesicht. Er wirkte gelassen, sein Gang hatte etwas Geschmeidiges und gleichzeitig Festes. Wenn er stehenblieb und schaute, war es, als könne er den Zug durch sein gelassenes Warten wie ein Magnet ein Stück Eisen anziehen. Er schien die Waggons dem Fahrplan und seinem Warten anzubefehlen, ganz sicher, als würde er den ersten Wagen bereits an einer unsichtbaren Leine heranziehen. Dann wieder stand er so gelassen, daß ich beinahe hätte vergessen können, daß wir beide an einem Bahnsteig warteten. Die großen krummen Bäume noch ohne Blätter, doch in der Sonne des südlichen Lands, das verfallene Gebäude mit seiner langgestreckten, einsehbaren Mauer gegenüber, das abendliche Licht der Szene gaben dem Bahnhof einen unglaublichen Halt, stellten ihn in ein Bild, in dem es die Zeit nur als lang anhaltenden Nachmittag gab, als ein starkes, wenn auch allmählich abnehmendes und andere Töne in sich aufnehmendes Licht. Wenn der Mann auf die Uhr sah, dann nicht, wie ich es so oft beobachtet habe, mit dieser raschen Geste, jenem nervösen Habitus, der sofort wieder vergißt, wie spät es eigentlich war, sondern wie jemand, der einen tiefen Atemzug tut und sich dabei einer Sache vergewissert, die für ihn eine gewisse Relevanz haben mag, in andern Rechnungen sich aber bescheiden und minder wichtig ausnimmt. So, als messe er das, was er auf dem Ziffernblatt sah, mit einer anderen, inneren Zeit, und als gebühre dieser der Vorrang. Gemessen schritt er wieder etwas an das vordere oder hintere Ende des Bahnsteigs, blieb dort wie eine Skulptur im Licht stehen, wartete, beinahe mit der Landschaft aus Schilf und hohem, gelben Gras verschmolzen.

Diktatur

Eine Gesellschaft, die mich spazieren und herumstreifen läßt, die mir die Verantwortung für meine Wegzehrung nicht abnimmt, aber auch nicht den Weg markiert, von dem ich gefälligst nicht abzuweichen habe, eine Gesellschaft, die mir Muße gewährt, ob ich nun arm oder reich bin – diese Gesellschaft bezeichnete Zhuangzi als frei. Was nach fast gar nichts als Bedingung klingt, ist in Wirklichkeit eine gewaltige Herausforderung an die Menschlichkeit. In aller Regel versklaven oder verdinglichen die Reichen die Ärmeren. Die Gesellschaft wird ganz offensichtlich von einem Netz der Abhängigkeiten durchzogen – um die Ärmeren noch ärmer zu machen, um sie einzuspannen in Frondienste, öffentliche Dienste, Konzerninteressen, Familienclans. Demokratie und Diktatur bilden die Enden der Bahn einer Pendelbewegung, die mit kurzer Verzögerung dem zyklischen Grundgesetz des Kapitalismus folgt: Haben sich die Volksmassen vermeintlich von ihren Despoten befreit, sehen sie sich spätestens nach einer Generation erneut unterjocht, vom Clan der alten Despoten, die die Revolution überlebten oder von neuen Despoten, die sich zur Macht aufgeschwungen haben oder von beiden im Verbund. Warum folgt der Aufstand der zyklischen kapitalistischen Krise? Solange die Überproduktion konsumiert werden kann, wähnt sich die Mehrheit in Freiheit und fügt sich in das System. Erst wenn der Konsum unterbrochen, unterbunden oder untergegangen ist, revoltiert die Masse: Sie spürt die Ausbeutung, wenn der Lohn ausbleibt; trotz harter Arbeit ist die Existenz bedroht, materiell oder politisch. Im besten Fall mündet die Revolution in einer zyklischen Beschwörung demokratischer Werte, setzt die Spielregeln der Demokratie wieder ins Recht und verhindert für ein oder zwei Generationen die Machtübernahme, bis wiederum Einzelne ein Vielfaches der ökonomischen oder politischen Macht der Gesamtheit akkumuliert haben (so verfügt Apple derzeit über mehr Vermögen als alle Staatshaushalte der EU zusammengenommen). Das zyklische Pendeln zwischen funktionierender Akkumulation und revolutionärer Disruption, zwischen Demokratie und Diktatur erhöht infolge des allein aufs Technische fokussierten „Fortschritts“ seine Frequenz. Die Garagen- und Hinterhoffirmen des Silicon Valley haben innerhalb einer Generation geradezu aus dem Nichts die absolutistische Macht erworben. Sie planen nun ihr eigenes Spiel, eine Planwirtschaft 2.0, die den Arbeiter nicht mehr beansprucht, sondern nur noch beköstigt und stillhält – die Konsumtion muß laufen.

Auf Maglanovic

iz pes’en zapadnych slavjan

Das Dorf liegt still.
___ Die Amseln singen.
So lebt mensch hier
___ mit allen Dingen.

Mit seinen Dingen
___ läuft es gut,
Und zwischen zwei Ringen
___ hängt immer Glut.

Der Mensch geht weit,
___ wo mensch ihn lässt:
Glück nur zu zweit
___ wär‘ noch kein Fest –

Die Guzla zittert
___ im Morgenlicht,
Der Sänger wittert
___ ein neu‘ Gedicht…

Die Amseln suchten
___ nach Ton und Wurm.
Die Menschen fluchten
___ ob Pest und Sturm.

Die Guzla dämmert
___ im Mondenschein –
Seit vielen Jahren
___ liegt sie allein,

allein im Dunkeln,
___ wo Wind noch weht:
Die Sterne funkeln
___ zum Frühgebet.

*

Eine Blume, keine Blume
___ war er schrill
Im Mondenschein.

Licht fiel auf die
Offene Landschaft,
_______________ :

Hell und schrill
___ im Mondenschein,
Warst du –
________ H y a c i n t h _ e

.

Das Kreuz

f.J.R.

Im Rücken gerinnt
______ der Augenblick.
Die Augen noch trun-
______ ken von Farbe mit
______________ Form, ist
Bereits ein Punkt
______________Ewigkeit ent-
Standen : Kreuzung
___ zweier Linien
______ im Gedächt-
______________ nis, war
Es immer nur Zukunft,
______ das kommende

______ :

L e b e n

,

*

1834

Tschu, die Kanonen spuckten aus! Die Schiffe an den Flügeln
Weißer Wolke bedeckten diesen Ort des Kampfs,
Das Schiff fuhr in die Newa ein – und da, im still Gekräusel
Sich wiegend, schwamm der junge Schwan.

Frohlockt‘ der Russen Flotte. Die breite Newa
Ganz ohne Wind, im klaren Tag ward tief nun aufgewühlt,
Mit voller Breite schwappte sie, die Welle auf die Inseln
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .