… und die Zeitung druckt weiter

Zwischentexte

1. Ansgar

Damals hatten sie den Fußboden aufgestemmt. Das muss um 1980 gewesen sein. Albert war noch im Vorstand bei Hugo Boss beschäftigt, Viola betrieb einen Kosmetiksalon, ich weiß, das ist ein altes Klischee, der Mann aber, Albert, war nicht in einer typisch männlichen Branche beschäftigt, er war gelernter Schneider und hatte sich hochgearbeitet … aber davon wollen wir jetzt nicht reden. Das Haus, stark sanierungsbedürftig bereits in den 1960er Jahren, musste nun kernsaniert werden. Und dabei stemmten sie den Fußboden auf. Albert schwitzte. Aber nicht wegen der harten Arbeit, die andere leisteten. Er schwitze, weil er wusste, dass früher mit Zeitungen gedämmt wurde, Zeitungen, die sicher noch lesbar waren, und eventuell Material zu tage beförderten, das ihm ermöglichte, sich erneut mit Violas Vergangenheit, der Vergangenheit seiner Stiefkinder beschäftigen zu können. Was er zu Tage förderte, war zunächst jämmerlich.

Da war zum Beispiel ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1907. Der alte Stadtanzeiger, auch damals schon mehr ein Werbeblättchen als eine seröse Quelle von Informationen, aber aus diesem Grunde mehr geliebt als andere Zeitungslektüre.

Der Stadtanzeiger war stark verblasst. Die Rezension, die dort zu lesen war, verheerend, etwas, das den Leumund ernst zu nehmender Menschen gründlich zu verderben im Stande war. Direkt unter der Lampenaufhängung, in der Mitte des Zimmers, des damals großen Wohnzimmers, des Salons, war dieses Blättchen nebst wirklich seriöser Lektüre zur Verhinderung von Nervenschäden einbettoniert worden. Und es war noch lesbar, lesbar gemacht worden offenbar, für die Nachwelt erhalten, Albert war sich sicher, dass dahinter Absicht steckte, 1980 sprach man noch nicht von Aluhüten, aber Viola hätte ihm damals sicher einen verpasst, die Stiefkinder waren noch zu klein, um etwas davon zu verstehen, aber Talente kapieren so etwas schnell.

Das dröhnende Lachen, das Werfen mit Gegenständen kann unter solchen Umständen nur als skandalös bewertet werden. Innerhalb eines Jahres hatte Ansgar über zwanzig Kilo zugenommen. Hatte er einst seinen Vater davon überzeugen können, dass es sich bei seinen Schauspielversuchen um Marotten handelte, so war er jetzt ernsthaft dabei, seine Karriere zu ruinieren. Er hatte sein Publikum mit Gesten schockiert, die selbst seine überdrehte Schwester nicht gutheißen konnte.

Und die Rezension im Tageblättchen lautete ungefähr so:

Der ungelernte Schauspieler Ansgar B. hat sich im neuen Stück, das er selbst geschrieben und auf die Bühne gebracht hatte, um Kopf und Kragen gespielt – ja, lächerlich, Kragen – welchen Kragen, welche Kleidung überhaupt, und der Kopf, der Kopf, sein Kopf war zu diesem Zeitpunkt anscheinend nur noch eine leere Porzellanschale, aus echtem Porzellan, aber leer.

Man verzeihe den Provinzschreibern ihre grauenhafte Handschrift. Niemand fragte sich, ob sie denn einen eigenen Stil hatten.

5 Kommentare

  1. In diesem Text ist die Zeitung ja rein fiktional. Und es geht auch nicht um Informationen, die man nur aus der Zeitung kennt, sondern um das Schicksal von Ansgar. Das ist poetisch.

  2. Bei diesem Text handelt es sich offenbar um eine Zeitschleife. Aber so ist es angeblich, unser Schicksal. Unser Schicksal? na ja,

    nu ja,

    noo

  3. Der Wöchentliche Stadtanzeiger
    Kritik zur Premiere von „Das Vogelnest“ Schauspielhaus zu W., Sonnabend, 14. September 1907
    Ein Nest voller Federn – aber ohne Flug
    Es ist stets ein Wagnis, wenn ein Autor sich anschickt, nicht nur die Feder zu führen, sondern auch die Bühne zu betreten. Herr Ansgar Fuller hat dieses Wagnis mit seinem Schauspiel „Das Vogelnest“ unternommen – und leider auf ganzer Linie verfehlt.
    Das Werk, in drei Aufzügen angelegt, beginnt mit einer Szene von solcher Langatmigkeit, dass man sich unweigerlich fragt, ob der Vorhang versehentlich zu früh gefallen sei. Die Dialoge sind von jener Sorte, die sich selbst für tiefsinnig halten, während sie in Wahrheit kaum über das Niveau eines besseren Stammtischgesprächs hinausreichen.
    Herr Fuller, der sich selbst die Hauptrolle zugedacht hat, agiert mit einer Gestik, die an das Zappeln eines schlecht gewarteten Marionettenmechanismus erinnert. Sein Vortrag schwankt zwischen übertriebener Emphase und völliger Tonlosigkeit – ein Wechselspiel, das dem Zuschauer mehr Rätsel aufgibt als das Stück selbst.
    Die Ausstattung, entworfen von Fräulein Renée Fuller, verdient immerhin eine Randnotiz. Ihre Kleiderentwürfe zeigen ein gewisses Talent zur Farbwahl, wenngleich die stilisierte Formgebung eher an Reklame für Damenunterwäsche erinnert als an ernsthafte Bühnenkunst.
    Besonders irritierend war der Gastauftritt der Autorin selbst, als „stumme Schwester“. Man hätte sich gewünscht, dass auch der Rest des Ensembles diesem Vorbild gefolgt wäre.
    Das Publikum reagierte mit höflichem Applaus, der jedoch mehr der Anstrengung des Abends als dessen Qualität galt. Einzelne Zuschauer verließen das Haus bereits nach dem zweiten Aufzug – ob aus Entrüstung oder Erschöpfung, ließ sich nicht feststellen.
    Fazit: „Das Vogelnest“ ist ein Stück, das viel verspricht und wenig hält. Es flattert, es raschelt, es fällt. Und am Ende bleibt nichts als ein Haufen Federn auf der Bühne – und die leise Hoffnung, dass Herr Fuller sich künftig auf das Schreiben von Postkarten beschränken möge.

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