Was soll das?

H. hatte gesagt, die Dekonstruktion sei im Grunde harmlos. Warum er das meinte, wusste ich nicht, aber ich dachte laufend darüber nach. Laufend, wie der Regen, der an den Scheiben herabrann. H. bevorzugte Foucault, der mit seiner Sprachkritik die Normen aushebelte und bereit war, sie zu sprengen, der bereit war, die Menschheit ins Irrenhaus oder ins Gefängnis zu stecken. Derrida hingegen bevorzugte es, einfach nicht zuhause zu sein. Er entzog sich. Bezog nicht Stellung, eierte herum, indem er allem Bedeutung zumaß, nur nicht dem, was da stand. Ich fröstelte, hatte aber immer noch keine Lust, mich anzuziehen. Vielleicht sollte ich nun den Text lesen, den ich heute geschrieben hatte. Das hätte dem sturzregenartigen Tag ein Gesicht verpasst, das sich mit dem Rund und dem Leuchten der Sonne vergleichen ließ.

Sage ich, der Schnee ist weiß, bezichtige ich mich dann unbewusst, über Menschen mit nichtweißer Hautfarbe zu schweigen? Sage ich der Schnee ist schwarz, setze ich dann ein Statement? Indem ich ein Oxymeron produziere, übe ich Gesellschaftskritik? Mache ich das Wetter weiter auf für Interpretationen, die noch kein Mensch je gelesen oder vor seinem geistigen Auge gesehen hat?

Diese und andere Fragen suchten mich während der Quarantäne heim. So heim, dass ich den ersten Weihnachtsfeiertag auf meinem weißen Sofa verbrachte, unter mir ein beiger Teppich, draußen tobte ein Schneesturm bei Tageslicht und die künstliche Beleuchtung am weiß eingesprühten Tannenbaum war eingeschaltet, wurde vom Licht des Tages beinahe geschluckt. Ich befand mich allein im Zimmer und die Musik war aus.

Ich war nicht erreichbar.

Derrida ist nicht zu

Hause, er ist

in Quarantäne.

2 Kommentare

  1. Fouc. macht Nietzsche weiter und sitzt dabei auf
    These 1 „Umwertung…“;
    das ist okay, wenn mensch dabei auf dessen
    These 2 „Übermensch…“
    verzichtet.
    Aber Derr. ist als Historiker vorsichtiger, „weniger revolutionär“: Vor der (positiven) [radikalen] Neufassung kommt die {möglichst} genaue, konkrete Kritik.
    Und diese sei auf eine Erscheinung „Text“ bezogen…
    Derr.s Grundthese, vgl. Grammatologie, vom dreifach gestuften „Bestimmunsgrund“ kultureller Struktur in der Geschichte des – westlichen – Denkens ist aus der Sicht radikaler Strukturkritik sicher immer noch triftig.
    Ob es eine dementsprechende Praxis von Kritik immer noch ist, vermag ich nicht einzuschätzen.

    1. Vielen Dank für diesen Kommentar. Nun verstehe ich das ganze besser. Und wer weiß, vielleicht traue ich mich auch mal wieder an die frische Luft. Immer nur zu Hause zu sein ohne zu Hause zu sein vorzugeben, ist auf Dauer doch nicht so erholsam wie gedacht. Grüße aus dem Leipziger Schuhkarton.

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