Echo auf: Mustafa Khalifa, Das Schneckenhaus

„Ecos da escrita“, zu deutsch etwa „Echos des Geschriebenen“ – unter diesem Motto stehen einige ausgewählte Texte von Studentinnen einer Germersheimer Übung: Kreatives Schreiben: Zielsprache Deutsch. „Ecos da leitura“, „Echos der Lektüre“, würde es ebenso treffen. Schreibanlässe sind jeweils Auszüge von übersetzter Literatur, auf die die – nichtmuttersprachlichen – Studentinnen sprachlich reagieren sollten.

Ein erstes Beispiel ist der Anfang von Mustafa Khalifas Roman „Das Schneckenhaus“, eine Abschiedsszene auf dem Flughafen Orly…

Mustafa Khalifa, Das Schneckenhaus. Tagebuch eines Voyeurs (Deutsch von Larissa Bender)

Suzanne und ich saßen in einem Café am Pariser Flughafen Orly und warteten auf den Abflug. Nach sechs Jahren würde ich in mein Land zurückkehren.

Sogar in dieser letzten Viertelstunde wurde Suzanne nicht müde, mich zum Bleiben zu überreden. Immer wieder führte sie Argumente an, die ich schon kannte, seit ich ihr vor ein paar Monaten von meinem Entschluß erzählt hatte, in die Heimat zurückzukehren und dort zu arbeiten.

Ich komme aus einer arabischen Familie christlich-katholischen Glaubens. Die eine Hälfte der Familie lebt in Paris, weshalb mir in diesem Land alle Türen für das Studium offen gestanden hatten. Das Studium war mir leichtgefallen, unter anderem weil ich des Französischen schon vor meiner Ankunft in Paris mächtig gewesen war. Ich hatte Regie studiert und war ein ausgezeichneter Student gewesen. Und nun wollte ich nach meinem Abschluß in mein Land und meine Stadt zurückkehren.

Auch Suzanne stammte aus einer arabischen Familie, doch ihre Familie war ausgewandert und lebte in Frankreich. In den letzten beiden Studienjahren waren wir ein Paar gewesen und hätten sogar mit dem Segen beider Familien heiraten können, sofern ich nicht darauf bestanden hätte, nach Hause zurückzukehren, und sie, in Frankreich zu bleiben.

Bei unserem letzten Gespräch im Flughafen sagte ich resolut:

„Suzanne, ich liebe mein Land, meine Stadt. Ich liebe die Straßen und Gassen dort. Das ist keine banale Romantik, sondern ein tief empfundenes Gefühl. Ich erinnere mich noch immer an die Slogans auf den Mauern der alten Häuser in unserem Stadtviertel. Ich liebe sie, ich sehne mich nach ihnen. Außerdem möchte ich ein außergewöhnlicher Regisseur sein, ich habe viele Projekte und Pläne im Kopf. Ich habe große Ambitionen. In Frankreich würde ich ein Fremder bleiben, ich würde wie jeder andere Flüchtling hier jobben, und sie würden mir nur ein paar Brotkrumen hinwerfen. Nein, das möchte ich nicht. In meinem Land habe ich Rechte, dort bin ich niemandem zu Dank verpflichtet. Mit ein wenig Mühe kann ich es dort zu etwas bringen. Abgesehen davon, daß mein Land mich und meinesgleichen braucht. Deshalb ist mein Entschluß zurückzukehren endgültig, und jeder Versuch, mich umzustimmen, ist zum Scheitern verurteilt.“

Ein paar Minuten herrschte Schweigen. Wir vernahmen den Aufruf, es war Zeit für den Abflug. Wir standen auf und kippten den Rest unseres Bieres hinunter. Ich sah sie mitfühlend an, Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie warf sich mir an die Brust. Ich küßte sie flüchtig. Solche Situationen kann ich nicht ertragen.

„Ich wünsche dir alles Gute“, sagte ich.

„Ich dir auch. Und paß auf dich auf!“

Ich bestieg das Flugzeug.

(Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Bonn, 2019. Original: Al-Qawqa’a: Yawmiyy?t Mutala??i?. 2008)

Texte zu Mustafa Khalifa, Das Schneckenhaus

Innerer Monolog Suzannes

Wie kann er mir so etwas antun? Nach allem, was wir zusammen erlebt haben, die vier Jahren an der Uni, das dunkle und feuchte Zimmer im Keller, die gemeinsamen Freunde… wie kann er jetzt alles hinter sich lassen und weggehen? Wir hätten heiraten und eine Familie gründen können. Wir hätten glücklich zusammen sein können, wie wir es bis jetzt gewesen sind. Es wird schwierig sein, ohne ihn. Meine kleine Schwester Fatima wird ihn furchtbar vermissen! Ich werde ihn furchtbar vermissen… Aber ich kann ihm nicht böse sein. Im Gegenteil, ich verstehe ihn. Natürlich musste ich versuchen, ihn zu überreden, dass er hierbleiben soll und, dass er hierhergehört. Das musste ich wieder und wieder versuchen, obwohl ich wusste, dass ich keine Chance hatte, sein Vorhaben zu ändern. Das konnte ich in seinen Augen sehen. Er war immer erfolgreich, ein ausgezeichneter Student und, später, bei seinen ersten Aufträgen und Projekten, ein talentierter Regisseur. Trotzdem habe ich auch in seinen glücklichsten Tagen einen Hauch von Melancholie bemerkt, die er ständig versuchte zu unterdrücken, bis sie ihn überwältigt hat. Ich weiß, dass er mich liebt und es auch ihm schwerfällt, dieser Entscheidung zu folgen. Gegen seine Gefühle kämpfend leerte er sein Bierglas und stand auf, überzeugt davon, seinem Schicksal zu folgen. Er küsste mich und wünschte mir alles Gute. Mir fiel nichts Anderes ein, und ich antwortete nur „Ich dir auch. Und pass auf dich auf“. Letztendlich wusste ich, dass ich ihn gehen lassen musste. Er wollte sich verbessern, bekannt werden, an wichtigeren Projekten teilnehmen. Bis dahin fühlte er sich nicht genügend anerkannt und ausreichend herausgefordert. Außerdem nahm die Sehnsucht nach der Heimat mit der Zeit ständig zu, bis er sich in Frankreich wie ein kompletter Fremder gefühlt hat. Obwohl er die Sprache beherrschte, versuchte er immer weniger Kontakt zu Leuten zu haben, bis er sich nur mit seiner und meiner Familie traf. Und jedes Mal, wenn es um Syrien ging, fingen seine Augen an zu glänzen und ein bitteres Lächeln änderte seine Gesichtszüge. All das war monatelang vor meinen Augen, aber ich habe es immer ignoriert. Ich habe gehofft, dass es nur eine Phase sein würde und, dass er sich eines Tages beruhigen würde und sein relativ neues Leben wieder zu schätzen wüsste. Seine Entscheidung war für mich also nicht ohne Gründe zustande gekommen. Ich konnte sie verstehen und sogar akzeptieren. Deswegen drehte ich mich um und lief Richtung Ausgang.  

Erica Amistadi

Der innere Monolog von Suzanne

(Mustafa Khalifa, Das Schneckenhaus)

Da sitzt er, der Mann, mit dem ich mein Leben verbinden wollte, der die letzten zwei Jahre mein ein und alles war, was ich ihm eigentlich nie gesagt habe. Und jetzt ist es zu spät für lange Reden über nicht ausgedrückte Gefühle. Wenn ich ihn jetzt anschaue, kommt er mir irgendwie fremd vor. Seine andere Seite ist zu sehen, diejenige, die in Syrien verliebt ist und dem Land zuliebe wirklich alles hinter sich lassen würde. Diese Seite habe ich bisher nicht gekannt.

Fremd wie nie beschrieben

Sieht mich mein Schicksal an

So schrieb Rilke. Und wie sehr passen diese Zeilen zur Situation.

Es ist an der Zeit, sich zu verabschieden. Ich bin bereit, Abschied zu nehmen, aber ich glaube, ich werde ihn nie ganz loslassen können. Er geht von mir weg, aber bei ihm bleibt etwas. Bei ihm bleibt ein Herz, und das Herz ist mein.

Anastasiia Matiash (Nastja Matjasch)

Innerer Monolog Suzannes

Es ist dann das Ende. Wer konnte damit rechnen, dass diese emotionale Verbundenheit mit unserem Land, die uns vor zwei Jahren zusammenbrachte, uns jetzt wieder trennen würde? Oder hätte ich es eigentlich noch früher bemerken können, dass das Heimweh, von dem wir ständig gesprochen haben, nicht wirklich so ein geteiltes Gefühl war, wie es das in meiner Vorstellung ist? An meine Kindheit in Syrien denke ich eigentlich gern zurück, aber nur als eine nostalgische Erfahrung, wenn es im Leben nichts gibt, um das ich mich sorge oder über das ich mich freue, also ja, Romantik, in seinem Wort. Aber wirklich zurück in das Land? Lieber nicht. Um ehrlich zu sein, verstehe ich ihn auch nicht ganz. Ist es nicht besser, die Erinnerung halt Erinnerung sein zu lassen? Und Regie, natürlich, seine Lebenskarriere. Ich liebe es tatsächlich, wenn er über seinen Traum spricht. Dass er sich die ganze Zeit über so sicher ist, was er will und sich von nichts abhalten lässt, erscheint mir wie immer so attraktiv, auch wenn uns diese Entschiedenheit jetzt zur Trennung führt. Ich konnte mir schon gut vorstellen, dass er mich eines Tages wegen seiner Arbeit verlassen würde. Es kommt immer ein „Syrien“ vor, wenn er mich nicht in seiner Zukunft sieht.

Ich hoffe nur, dass es in Syrien wirklich was Spannendes gibt, das auf ihn wartet, wie er es sich jetzt vorstellt. Alles Gute, meine Liebe.

Jing Lin

4 Kommentare

  1. Ich weiß ja, dass ich etwas begriffstutzig bin – aber ich glaube, ich habe jetzt doch mal was kapiert. Handelt sich bei diesem Genre um eine „Schreibvorlage“?

  2. Ist die Sprache, aus der die Texte ins Deutsche übersetzt wurden, Mutter- oder Vatersprache der bzw. einiger der Echo-Autor : inn : en? (Oder noch schwächer präsupponiert: Ist / Sind die / der Autor : in (n) : en in der Ausgangssprache sprachkompetent? (Sensu Chomsky…))

  3. Die Zielsprache, in der die Texte von den Studierenden auch selbst verfaßt werden, ist Deutsch. Die jeweilige Muttersprache ist in der Regel eine andere und ganz unterschiedlich.

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