Ein neues Zeitalter hatte begonnen. Niemand hatte daran gedacht, doch nun war es da. Wie konnte es geschehen? Zuerst kam die Sintflut. Nicht die biblische, sondern die neuzeitliche Überflutung ganz West- und halb Mitteleuropas. Auf dem verbleibenden Festland wurde das Autofahren verboten. Die Leute nahmen es hin und bastelten fortan an ihren Booten und Surfbrettern herum, glaubten, das wäre alles. Herr Klopsig arbeitete bei der Bahn, dort genoß er freie Fahrt auf allen Strecken, die von der Sintflut verschont geblieben waren. Das Autoverbot berührte ihn nicht, im Gegenteil, er begrüßte es. Die Regierung fühlte sich ermutigt.
Als nächstes knöpfte sie sich das Trinken vor. Nein, die Zustände der Prohibition kehrten nicht wieder: Es gab keinen Widerstand, keinen Untergrund. Gering alkoholische Getränke wie Bier und Wein blieben legal – verboten wurden Destillate. Die Leute waren so gesättigt und schwach, beschäftigt mit ihren davon schwimmenden Eigentumswohnungen und Liebesgeschichten, daß niemand auf die Idee kam, Schwarzbrennereien zu gründen, um den Stoff für noch mehr Geld zu brennen. Es wäre eine phantastische Umverteilung geworden. Neue proletarische Kreise wären zur Elite aufgestiegen, erst in der Mafia, dann in der Regierung. All das blieb aus.
Statt dessen beschlossen die Oberen, schamlos mutig, das Fallenlassen von Papier auf die Sandwege unter Strafe zu stellen. Was wäre ein Gesetz ohne Strafen anderes als ein hornloses Nashorn? Binnen eines Jahres folgte die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die Leute jubelten. Die Todesstrafe wollten sie schon immer zurück haben. Endlich wieder Köpfe rollen sehen. Die Todesstrafe – gepaart mit dem universellen menschlichen Bedürfnis nach Sauberkeit und Ordnung – entsprach vollkommen dem Volkswillen. Von wegen, Demokratie und Diktatur seien Gegensätze. Diktatur erschien den Machthabern als der vollendete Ausdruck der Demokratie: sie war unverstellt und schrankenlos. Eine neue Verfassung wurde verabschiedet: die Verfassung der liberalen Diktatur.
An den gebohnerten, im staubigen Sonnenlicht glänzenden, menschenleeren Sandwegen war zweifelsfrei zu erkennen, daß das neue Zeitalter ausgebrochen war. An den Gullydeckeln wurden Soldaten mit Maschinengewehren postiert, die darüber wachten, daß niemand eine Zigarettenspitze oder ein Papiertaschentuch hineinwarf. Die kleinste Verunreinigung konnte zu einer Verstopfung im Kanalsystem und einer erneuten Überflutung Berlins führen. Das Rauchen im öffentlichen Raum hatte die Regierung im übrigen schon vor der Sintflut unter Strafe gestellt. Die Züge und Schiffe füllten sich mit Gesetzesbrechern, das heißt die Güterzüge und die Containerschiffe.
Der Bahnhofsvorsteher, ein alter Schulkamerad von Herrn Klopsig, ihm seit langem als freundlicher Arbeitskollege vertraut, lächelte. Jetzt hatte er endlich alle Hände voll zu tun. Herr Klopsig lächelte zurück, dachte, er könne, indem er ihm helfe, das System unterminieren. Herr Klopsig sah die furchtsamen Gesichter in den Öffnungen und Ritzen der Waggons. Die lächelnde Visage des Bahnhofwarts. Die gespenstisch glänzenden leeren Straßen.
Zur Demokratie gehörte der Dreck, er zeugte vom Leben. Der Tod hatte keine Zeugen. Nur den Bahnhofswart, der die Weichen so stellte, daß die Waggons direkt in den Schlund des Verbrennungsofens hineinrollten. Und Herrn Klopsig, der mitmachte, um zu protestieren, zu sabotieren. Aber daraus wurde nichts.
Einmal, als der Bahnhofsvorsteher eingeschlafen war, stellte Herr Klopsig die Weiche um und manövrierte den Zug auf ein Abstellgleis, hoffte, daß die zahlenmäßig überlegene Meute der zum Tode verurteilten Sandwegbeschmutzer aufbegehren würde. Statt dessen blickte sie furchtsam, in Schreckstarre, durch die Ritzen im Holz und nichts geschah. Sie fragten demütig, wann die Fahrt weitergehen würde.
Ehe Herr Klopsig sich versah, hatte ein Geheimdienstler den Mißstand erkannt, war hinzugeeilt, lotste den Waggon in den Orkus und feuerte Herrn Klopsig von seiner wunderbaren Arbeitsstelle als Dispatcher bei der Bahn. Beinahe wäre er selbst vorm Tribunal gelandet und verurteilt worden. Diesmal hatte er Glück.
Später erzählte Herr Klopsig, wenn er nach dem Grund seiner kurzzeitigen Arbeitslosigkeit gefragt wurde, er habe seinen Beruf bei der Bahn wegen der Sintflut verloren. Was nur halb stimmte. Tatsächlich fuhren die Züge nach der Sintflut lediglich in Richtung Rußland. Im übrigen Europa waren die Böden zu sumpfig geworden. Herr Klopsig hätte ohnehin seinen Beruf bei der Bahn aufgeben oder nach Osten umziehen müssen. Bald schon hatte er sich eine neue Existenzgrundlage geschaffen.
(geschrieben 2008, wiedergelesen am 21.6.21, in: „Empörte Flut“)