Featuring : Josif Brodsky : Wiegenlied

Ich gebar dich in der Wüste
nicht zum Spaß.
Sondern weil im bittenden Gedenken sie
keinen König hat.

In ihr sucht man dich umsonst.
In ihr wälzt
Sich des winters mehr Kälte um, als ihr
Raum selbst.

Manche haben Spielzeug, einen Ball, und
das Haus ist hoch.
Du hast für die Kinderspiele allen Sand
– dieses ganze Loch.

Gewöhn‘ dich, Söhnchen, an die Wüste
wie ans Los.
Wo auch immer es dich hintreibt, Gott
ist groß.

Ich ernährte mit der Brust dich,
aber sie
lehrte dich den Blick voll Leere,
ganz wie sie.

Für jenen Stern – dessen Abstand
schrecklich ist – wird in ihm
deiner klaren Stirn Leuchten
einmal deutlich sein.

Gewöhn‘ dich, Söhnchen, an die Wüste,
unterm Tritt
hast du ihre Bruchstücke, keine andere Gewissheit
bringst du je mit.

In ihr liegt vorm Blick offen das Los.
Alles Holz
in ihr zeigt dir leicht deinen Berg,
sein Kreuz.

In ihr sind die Pfade menschlich nicht,
erst einst!
wenn die Menschen weg sind, findet Raum
Zeit.

Gewöhn‘ dich, Söhnchen, an die Wüste,
wie die Prise Salz
an den Wind, fühlend, dass du mehr bist
als Staub & kalt.

Lern‘ zu leben mit diesem Geheimnis:
sein Gefühl
wird dir nützen, einmal, in des Herzens
Leere & Gewühl.

Sie ist schlimmer nicht als beide:
länger, schmaler nur,
und die Liebe zu dir ist ihr Stigma, Zeichen für
deines Sandes Uhr.

Gewöhn‘ dich an die Wüste, Lieber,
an den Stern,
der in ihr sein Licht mit solcher
Kraft vergießt,

als entzündet‘ er die Lampe, sich zu später Stund‘ an
den Sohn erinnernd, jenen, der in ihr –
in der Wüste länger schon ist
als wir.

Dezember 1992

J. W. Rosch
geb. 1967 in Charkiv, lebt in Frankfurt am Main. Gedichte, Prosa, Roman. Bisher bei LLV erschienen: Jokhang-Kreisel. Gedichte und kurze Prosa mit Zeichnungen von Anna H. Frauendorf (2003), Goðan Daginn. Gedichte. Mit Radierungen von Mechthild Mansel (2010).

6 Kommentare

  1. Letzteres. Aber wenn es tatsächlich ein Formbruch wäre, hätte ich es nicht veröffentlicht. Sie haben mit den Gänsefüßchen also recht: Äußerlich unterscheidet sich die letzte Strophe zwar von den anderen, d.h. visuell. Aber von der Zeitwahrnehmung, d.h. vom Klang, her nicht. Zumindest, wenn mensch einen modernen Begriff von Vers und Strophe hat und die Verslänge als Teil einer (Reim-)Struktur [von Strophe…] auffasst; dann mögen da Worte sein, die auf den ersten Blick nur Füllmasse bilden, was im Kern – und da haben Sie recht!! der Notwenigkeit entspricht, einen Originalgedanken rhythmisiert und grammatisch gebildet, aber vollständig darzustellen.

  2. „Das heißt, wenn einem Menschen die Geschichte weggenommen wird, kann er noch drauf spucken, kein Problem, aber wenn er dann noch seine Landschaft/Geografie verliert, ist das eine ganz andere Sache…“

    Aus: Interview Jossif Brodskij, Interviewer Josef Saz, Ort „Russischer Samowar“ (N.Y.), Zeit: 1993, ca. 8:25min von 30:42min

    [vgl. ^//19/37]

  3. Was aber, wenn einem Menschen die Geschichte weggenommen wird und dafür – eher zum Austausch denn ehrlich als Trost – eine Landschaft geschenkt wird?

    Annehmen, ablehnen?

    Oder sterben. Aber nicht gleich. Und schon gar nicht aus eigenem Antrieb, eher den Trieb immer wieder in die Landschaft geleiten, bis sie ihren wüsten Charakter – und nun sichtbar für alle und keinen – groß und ganz geoffenbart hat,

    ihn einfach in diese Landschaft jagen:

    Soll er doch zusehen, -hören und (sich) fühlen;

    __*

  4. Ach wissen Sie, der Wiegen sind und waren viele, über denen ein Lied gesungen wurde. Aber Bitternis, das wird immer mit der Nahrung verbunden zum Teil des Apparats werden. Deshalb die Notwendigkeit ihrer Verdauung, deshalb das Ritual , das mensch heute Kultur nennt.

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