Im Vektorraum (Schluß)

Egal wann es passiert – es passiert draußen … Die Tür hinter ihm schlug zu wie Mohammed Ali in seinen besten Zeiten. Der Knall prallte gegen seine Trommelfelle und setzte eine ganze Reihe von weiteren getrommelten Rhythmen in Bewegung. Er war nun ein Dschungel voll unverständlicher Geräusche – ein Dschungel in Aufruhr.

Er rannte die Treppe hinunter und trat durch die Haustür ins Freie. Hinter ihm schlug eine Tür zu. Er zuckte kurz zusammen, dann stand er still auf dem steinernen Gehweg und lauschte. Über ihm rauschten Luftschichten wie vom harten Flügelschlag eines Greifvogels, die Schichten drangen ihm in die Ohren und erzeugten einen Druck gegen die Schallmauer seines reglosen Körpers, daß es zu brausen und zu sausen anfing in der Welt – sein Kopf glich der Krone eines Baumes bei Sturm. Er schwankte.

Er wandte sich nach rechts in die Richtung der Ampel, die er zu überqueren hatte, um an seinen Lieblingsplatz zu gelangen – den Friedhof. Warum er diesen Ort so liebte ist schwer zu sagen. Vielleicht wegen der vielen Seelen, die ihre Namen hinterlassen hatten im Stein auf den Gräbern? Oder wegen der Stille, die jenen Ort einhüllte mit dem phantastischen Seidentuch aller Abwesenheiten, die Namen nur erzeugen können? Wahrscheinlich liebte er den Ort wegen der vielen, vielen Seelen, die sich beruhigt hatten und keinen Krach mehr machten.

Er trat durch das gußeiserne Tor und erschauerte in stiller Freude. Die Unheimlichkeiten dieses Ortes waren fast ein Teil seiner selbst. Das Dunkle und Klingende schien hier von der Heimlichkeit seiner Existenz erlöst zu werden … Hinter ihm schlug eine Autotür zu. Es störte ihn nicht im geringsten. Weiter vorn begann eine Nachtigall zu singen.

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

Ein Kommentar

  1. die ganze zeit über schien das leben im vektorraum eine frage der abstraktion zu sein, eine herrliche versinnlichung minkowskischer welten, im dilemma befangen, daß wir uns das abstrakte doch immer nur menschlich vorstellen können und auch minkowski nichts neues zu sagen hatte, sondern aussprach, was alle wußten – die vierte dimension, die n-te dimension – bring das deinem kind bei… kaum verläßt der held das koordinatensystem werden die tore gußeisern, die vögel zu nachtigallen und die welt draußen zum jüdischen friedhof auf dem prenzlauer berg, über dessen mauern wir als kinder im dunkeln heimlich geklettert sind, bevor uns der wächter erwischt… aber halt, ich will keine geheimnisse ausplaudern …

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