Berlin-Lichtenrade

Kleinbürgerliche Wohngegend, warnt der Berlinreiseführer, den eine vermögende Verwandte letzten Monat bei mir liegen ließ.

Ich war froh, als die ältliche Tante nach Ostern wieder verschwunden war, ihren Reiseführer hätte sie gern mitnehmen können.

Ich überlegte noch, ihn ihr hinterher zu schicken, sie ist so sparsam. Als sie ihre Ausflugspläne für Ostern meiner Mutter mitteilte, hatte die ihr sicher verraten, wie es um mich bestellt war, außerdem gebeten, die Tante möge aus diesem Grund lieber in ein Hotel gehen, wozu die aber zu geizig war.

So wohnte sie zwei Tage in meinem Arbeitszimmer, schlief dort trotz ihres beachtlichen Alters von fast 70 Jahren im Schlafsack auf dem Holzfußboden, denn eine Isomatte besitze ich nicht, und ihr mein Bett zu überlassen fiel mir nicht ein, da sie beteuerte, die Schlafgelegenheit wäre für sie perfekt.

Normalerweise hätte sie sich später bei sämtlichen Familienmitgliedern über mich und meine Auffassung von  Gastfreundschaft beschwert, aber davon sah sie dieses Mal höchstwahrscheinlich ab, denn ich war das gesamte Osterwochenende für sie das arme Kind.

Trotzdem, wenn die Tante zwischen ihren vom Reiseführer empfohlenen Besichtigungen kurz aufkreuzte, klopfte und schüttelte sie den Schlafsack aus, als wollte sie mir damit etwas sagen.

Zum Schluss bot sie mir noch zwanzig Euro für die zwei Übernachtungen an.

Ich hätte das Geld nehmen sollen, dachte ich später. Wahrscheinlich wäre sie dann nächstes Mal gleich in eine Jugendherberge gegangen. Mir kam übrigens sofort der Verdacht, sie habe den Reiseführer absichtlich bei mir liegen gelassen, als Bezahlung statt der zwanzig Euro.

Abends blätterte ich das Ding durch. Dass man sich einen Ausflug ins kleinbürgerliche Lichtenrade sparen könne, ätzte der Verfasser, ein gewisser Herr Jürgen L. unter anderem zum Thema sehenswerte Berliner Bezirke.

Herrn L.s Vita nach zu urteilen, ist er selber ein Kleinbürger. Er absolvierte nach der Fachhochschulreife eine Lehre als Fremdenverkehrskaufmann, dann heiratete er und zeugte zwei Kinder. Jetzt schreibt er  Reiseführer. Ob in diese persönliche Erlebnisse mit einfließen oder Herr L. sich sein Wissen im Internet zusammen klaut, verrät er nicht.

Sein Heimat- und Wohnort, eine hessische Kleinstadt, lässt auch nicht unbedingt darauf schließen, dass er ein Bohémien ist.

Um es ganz deutlich zu sagen: Jürgen L. verrät seinesgleichen. Schlimmer noch, er verrät die, die zumindest authentisch sind, in ihren Häuschen in Lichtenrade leben, weil sie Ordnung und Ruhe lieben, wohingegen Herr L. zu den zerrissenen Zeitgenossen gehört, zu denen, die in einem Dauerkonflikt leben, weil für sie Ordnung und Ruhe ebenfalls groß geschrieben wird, sie es aber auch dahin zieht, wo es ihrer Auffassung nach spannend ist.

Falls Herr L. eines Tages tatsächlich an einem solch aufregenden Traumort landen sollte, würde er sich aber vermutlich erst mal beim zuständigen Ordnungsamt über zu viel Lärm beschweren.

Trotzdem, es bleibt dabei, in Lichtenrade gibt es nichts zu sehen und nichts zu erleben!  Andere Stadtteile erregen Herr L. da schon eher. Kreuzberg und Neukölln beispielsweise. Weil da Künstler leben.

Außer für den Stadtführer, Herrn L. und seine Leserschaft kann das allerdings nichts gutes bedeuten, für die Künstler selbst schon gar nicht.

Siedeln die sich in einem Bezirk an und wird das wenig später allgemein bekannt, strömen neugierige Menschen herbei, unter anderem auch die, die solche Stadtführer lesen. Menschen, die ständig auf der Jagd nach Unterhaltung sind und da sein wollen, wo das ´echte´ Leben tobt.

Im allerschlimmsten Fall wollen sie da auch bleiben.

Ein bisschen Erspartes haben sie, nicht so viel, dass sie nach New York oder an die Südsee ziehen können, aber für eine Wohnung im Künstlerviertel von Berlin reicht das Geld, das sie sich mit Hilfe eines öden Jobs zusammen klaubten, schon.

Wenn viele von denen oder ähnliche kommen, müssen sich die Künstler, die wenig Geld haben, einen anderen Stadtteil suchen und bald darauf geht das Spiel von vorne los.

Drei Abende, nachdem die Tante weg war, stellte sich heraus, dass sie Herrn L.s Machwerk tatsächlich als Geschenk bei mir zurückgelassen hatte.

Sie rief an, tat, als habe sie mir ihren Goldschmuck vermacht und fragte, was ich von dem Reiseführer hielte, falls ich ihn bereits gelesen hätte. Herr Jürgen L. wäre doch ein ganz witziger, unkonventioneller, oder?

Ich antwortete, dass Herrn L. ein Verräter sei.

Die Tante schwieg daraufhin einen Moment, dann flüsterte sie mit betont gütiger Stimme, ich solle mich ausruhen, ich hätte es sicher momentan nicht leicht.

Ju3iane
Juliane Beer: geb. 1964 in Bonn, Autorin, Wirtschaftsübersetzerin, Kindheit und Jugend in Norddeutschland und Lon-don, 1986 nach Berlin gekommen und geblieben, nach viel Off-Theater um die Jahrtausendwende mit dem Schreiben begonnen. Zuletzt: Arbeit kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen, Roman, Berlin 2010 Nach viel Off-Theater fing ich um die Jahrtausendwende mit Prosa an. Daraus wurden bislang einige Romane und Beiträge in Anthologien und Magazinen.

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