Zweites Semester

Ein Tag im Frühsommer 1984. Der junge Mann, beinahe ein Junge noch, kein Zivildienstleistender mehr, eben am Beginn des 2. Semesters, sitzt im Garten der Eltern und der Großmutter und liest Peter Handke, „Wunschloses Unglück“, für eine Vorlesung mit dem Titel „Westdeutscher Roman nach 1945“. Er versteht nicht, was er liest, der Tag ist sonnig, der Vater im Garten, in seiner Nähe, tut oder sagt etwas, ohne Bezug zu dem Buch, die Großmutter nicht weit, nur die Mutter ist im Haus. Der Student im 2. Semester Germanistik freut sich über die vielen neuen Bücher, die er mit dem Geld der Eltern, des Vaters, gekauft hat, Koeppen, „Tauben im Gras“, keine sehr schöne Ausgabe, die noch zwei weitere Romane enthält, Hildesheimer, „Tynset“, ein hell orangefarbener Einband, der ihn neugierig macht, Andersch, „Sansibar oder der letzte Grund“, ein Taschenbuch aus der Schweiz, mit schwarzem Umschlag, und Handke, „Der kurze Brief zum langen Abschied“ und „Wunschloses Unglück“. Einigermaßen verständnislos wird er alle diese Bücher lesen, noch sind sie nur Besitz, und das wird lange so bleiben, jetzt aber der Beginn eines Studiums, das Durcharbeiten einer umfangreichen Lektüreliste. Verstehen, wenn überhaupt, empfinden, nach- und mitempfinden wird er erst, nach und nach, und dann, Jahrzehnte später, wenn die Großmutter schon lange nicht mehr lebt und auch die Eltern an der Schwelle stehen, er selbst in seinen späten Fünfzigern, und da wird ihm jener ferne Maitag, oder war es Juni, vor Augen sein, das Haus mit seinen Bewohnern, der Vater im Garten, die Großmutter auf der Terrasse und die Mutter, die er nicht in Zusammenhang bringen konnte mit seiner Lektüre und dem „Wunschlosen Unglück“, denn er wußte oder fühlte nicht, daß dieses Unglück das seiner Familie, das seiner Mutter und auch sein eigenes war. Das Unglück, das, da beschrieben, schon nicht mehr Unglück schien. Er hält das schmale Buch in den Händen, und auf den wenigen Seiten zwischen dem braunen Einband ist seine ganze Familie, das Haus und der Garten und, noch immer, der ferne, anscheinend ewige Tag in einem Mai oder Juni, als er anfing, Peter Handke zu lesen und Literatur zu studieren.

2 Kommentare

  1. Prima! Gerade hatte ich Handke. Als Vorschlag der KI für absurde Texte oder gescheiterte Mutter-Kind-Beziehungen.

    Eingegeben hatte ich: „Gerne unterdrücken wir Sie bei Ihrer Entscheidung.“

    Raus kam, Sie schreiben wie Handke. Stimmt das?

    1. Ich lese gerade wieder Handke, auch „Wunschloses Unglück“, und da fand ich ziemlich am Anfang folgende Sätze: „Wenn ich schreibe, schreibe ich notwendig von früher, von etwas Ausgestandenem, zumindest für die Zeit des Schreibens. Ich beschäftige mich literarisch, wie auch sonst, veräußerlicht und versachlicht zu einer Erinnerungs- und Formuliermaschine.“

      Das bin ich nicht. Eher hat es etwas Somnambules, mit dem Gefühl aber, nahe bei der „Sache“ zu sein.

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