Am Abhang hinterm Stadion (Bildungsroman: [1])

„…dem Bewußtsein ist der Gegenstand aus dem Verhältnisse zu einem anderen in sich zurückgegangen und hiermit an sich Begriff geworden; aber das Bewußtsein ist noch nicht für sich selbst der Begriff, und deswegen erkennt es in jedem reflektierten Gegenstande nicht sich.“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1986, S. 108

Wir saßen auf den Steinen aus weißem Granit und spürten durch die Blicke, Worte und Satzfetzen hindurch die Wärme des sich abkühlenden Tages. Es roch nach verbrennendem Gras. Du hattest mir gerade die Hand auf den himmelwärts gerichteten Knorpel des dir zugewandten Schultergelenks gelegt, ein leichtes Antippen, und hinter der stehenden Wand eines eigenwilligen Geruchs  warst du steif und fest in deiner Behauptung eingesponnen, der Begriff des Vektorraums sei durch die mit ihm gesetzte Einheit zweier Gruppenstrukturen in der Verschmelzung eines algebraischen Körpers mit der als stets reversibel zu denkenden Bewegung einer Wolke aus Pfeilelementen nichs weniger als die vorweggenommene Zukunft der Menschheit. Ich hörte das Zittern in deiner Stimme. Nebenan perlte ein Akkord aus der um ihn herum versammelten Gruppe jugendlicher Trinker, noch war nichts gestimmt, und die zuckenden Schatten des bereits einsetzenden Geschwirrs insektenjagender Luftwesen zeugten von einer Gefahr, in die wir beide nun mit Leib und Seele eingelassen waren: zwei sitzende Gestalten in einem großstädtischen Amphitheater. Ich antwortete, die Idealität eines Vektorraums sei zu schwach für die Bildung eines Kerns aus Idealteilern – die notwendige Ringstruktur würde vom Körper vor dem Entstehen eines Binsenraums einfach aufgehoben. Da warst du es, der abwinkte. Das Licht sagte zum Abend: „Komm!“, und der Abend kam; doch er blieb nicht.

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

7 Kommentare

  1. Schon das Wort Bildungsroman erscheint rückblickend auf bessere Zeiten zumindest als Durchschauen der Lügen, die wir alle noch vor uns hatten. Das bessere an den Zeiten ist dergestalt, Paradies, der kindliche Glaube oder

  2. „und deshalb erkennt es (im reflektierten Gegenstande…) Nichts-ich“, das Nichtige schlechthin.

    Wie kann es dahin gelangen, darin nicht sich, sondern ein anderes zu(zuerkennen?

    Irgendwann wird es „sein“ (unser) Nichtich erkennen, den Grund dafür, dass das world-press-RECHTSCHREIBPROGRAMM in meinem gerade entstehenden Kommentar genau dieses Wort „rotschtreicht“.

    Übrigens: The word is on fire, rotschtreich ein Morsekod-schtreich-tigel

  3. Der Gedanke, aus lebendigem Traum geboren, spiegelt sich in der Beruehrung in den Begriff der toten Wirklichkeit. Die aufgezogene Eieruhr lässt die Zeit rueckwaerts ticken. – Ich freu mich aufs Fruehstueck !

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