Featuring : Boris Pasternak : Einzige Tage

Ich weiß die Tage noch im Laufe vieler Winter,
Da die verschwund’ne Sonne kehrt‘ zurück,
Und jeder Tag war einzig in dem Winter
Und überwinterte sein Glück.

Und ihre Folge taucht‘ aus Augenblicken
Hervor, die kürzer sind als Glück –
Der Tage einzig, wenn im Rücken
Wir spüren – Zeit beharrt und alles kehrt zurück!

Ich hab‘ die Tage sämlich noch im Kopf:
Der Winter nähert sich der Mitte,
Der Weg wird feucht, vom Dach es tropft,
Und auf dem Eis – der Sonne warme Schritte.

Und Liebende, wie ich im Schlaf sie sehe,
Kommen sich immer näher mit den Gesten,
Und in der Bäume kahler Höhe
Schwitzen vor Hitze Starenkästen.

Auf ihrem Ziffernblatt zwei Zeiger
Bleiben zusammen – frag‘ nicht wie!
Ein Tag dehnt über ein Jahrhundert sich die Zeit,
Und die Umarmung endet nie.

1959

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

5 Kommentare

  1. Lieber Zhenja, wie lautet das Original dieses Wortmysteriums, das den Winter in einen Tag und den Tag in ein Jahrhundert verwandelt? Kannst du den russischen Text in dem Kommentaren hinzufügen? Und: Wer hat ihn übersetzt?

  2. Liebes Vitko, wenn ich schon auf inskriptionen.de Texte einstelle, dann natürlich nur eigene. Obiger deutscher Text ist eine Übersetzung aus dem Russischen. Sein Autor ist Boris Pasternak (1890-1960). Es handelt sich um eines seiner letzten Gedichte, also vermutlich eine Art Vermächtnis.
    Das russische Original trägt den Titel „Jedinstvennye Dni“, der in der Titelzeile dieses Beitrags nach dem zweiten Doppelpunkt wörtlich übersetzt erscheint. Da meine Tastatur noch immer kein Kyrillisch produziert, bin ich nach wie vor auf dessen Transliteration angewiesen. Aber ich bin optimistisch, dass sich das Fachpublikum schon den Originaltext wird zu beschaffen wissen, wenn der Wunsch bestehen sollte, das Deutsche mit dem Russischen zu konfrontieren.

    Vielen Dank übrigens für Ihre erste Frage: die abstrakte semantische Bewegung des Originaltexts besteht tatsächlich in der doppelten (zeitlichen) Transformation eines Winters auf einen Tag und sodann dieses Tags [bzw. dieser Tage, dieser durch ihre Einzigkeit ausgezeichneten ‚zeitlichen Individuen‘ ] auf eine Größe, die die eines Jahrhunderts übersteigt. Allein der Fakt, dass Sie so fragen, vermag mir also zu signalisieren, dass die Übersetzung hinsichtlich der Erfassung der Grundidee des russischen Originaltexts nicht ganz misslungen zu sein scheint.

  3. Der russische Dichter Boris Leonidowitsch Pasternak drückte seine Einstellung zur Welt und zur Ewigkeit in seinem Gedicht „Einzige Tage“ aus. Es wurde 1959 geschrieben und vervollständigt den Werkzyklus „Wenn es wütet“.

    Dieses Gedicht ist von einer besonderen Leichtigkeit, Ruhe, Friedfertigkeit, dem Glauben an die Schönheit und Kraft des Lebens erfüllt. Pasternak schrieb „Einzige Tage“ in seinem siebzigsten Lebensjahr, so dass man die Philosophie und Lebenserfahrung des Dichters in den Zeilen spüren kann. Der Protagonist war in der Lage, die Beziehung zwischen den Phänomenen des Lebens zu verstehen und begreift, dass es sich um Gottes Wirken handelt. Er begreift die Moderne als Gefangenschaft, aber auch als Chance zur Verwirklichung einer schöpferischen Absicht.

    In seinen Memoiren erscheint jeder Tag als einzigartig und einmalig. Aber nur die Tage der Wintersonnenwende sind so charakterisiert. Unter Mitwirkung der Natur wiederholt sich ein solcher Tag jedes Jahr. Das zugrunde liegende Motiv ist, dass mit den gesättigten Tagen die Minuten und Stunden aufhören zu existieren. Die Tage verschmelzen zu einem einzigen Augenblick. Er wird sich nie wiederholen, und er wird auch nicht vergessen werden. Und jedes Mal, wenn die Erinnerung zurückgerufen wird, ist die Erfahrung eine andere.

    Die Betonung liegt auf der Besonderheit der Erinnerung, die die Zeit nicht in Minuten unterteilt, sondern in das, was war und was jetzt ist. In der ersten Strophe können wir ein Mittel wie ein Oxymoron beobachten, das zum Ausdruck bringt, wie das Einmalige und das Wiederholte, das Zeitliche und das Ewige miteinander verbunden sind. Man kann es mit einem Orchester vergleichen, denn jede Melodie dauert zuerst an und wird dann von einer anderen unterbrochen, dann wiederholt sich alles wieder und geht in Harmonie über.

    Der lyrische Charakter beschreibt die Tage, an denen die Zeit einzufrieren, anzuhalten scheint. Die Verben in den Zeilen: „der Winter kommt zum Stillstand“, „er fließt von den Dächern“. Es gibt Anklänge an den altrussischen Begriff, der mit einem heidnischen Fest verbunden ist. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Tage der Wintertagundnachtgleiche auch als Sonnenwende bezeichnet werden. Dies verdeutlicht die Begriffe Statik und Dynamik. In der dritten Strophe erscheint eine Zeile mit der Drehung der Sonne, die die Bedeutung der Bewegung zum Ausdruck bringt. Boris Pasternak verwendet Metaphern, Epitheta und farbige Adjektive, um Schönheit, Reichtum und Vollständigkeit zu vermitteln. Dies verleiht dem Gedicht Lebendigkeit.

    Mit diesem wunderbaren Gedicht sagt der Dichter den Menschen, dass alles in der Welt miteinander verbunden ist und sich fortlaufend bewegt. In jedem Prozess kann Bewegung erkannt werden. In „Einzige Tage“ reflektiert Pasternak Gedanken über die Ewigkeit und das Vergehen der Zeit.

  4. Sehr geehrte/r [s] „Boris Past“, ich danke für die technische Hilfe. Inhaltlich habe ich dagegen aber so einiges einzuwenden:
    ganz konkret – „Aber nur die Tage der Wintersonnenwende sind so charakterisiert.“
    Dieser Satz ihrer bzw. der von Ihnen zitierten Interpretation verkennt die „dni solncevorota“, von denen in Pasternaks (russischem) Text die Rede ist. Warum?

    Na ja, es ist doch wirklich absurd anzunehmen, dass die kalendarisch bestimmten Tage der Wintersonnenwende in Pasternaks Gedicht gemeint sein könnten. Allein die ab der dritten Strophe evozierten Ankündigungen von Tauwetter passen so gar nicht zur Zeit Ende Dezember (oder nach julianischem Kalender: Anfang Januar). Eher passen sie zum Februarende oder Märzanfang. Und erklärungsbedürftig würde dadurch natürlich, warum im Text dann aber von „zima podchodit k seredine“ die Rede ist. Mein Vorschlag: Stellen Sie sich einfach einen Winter vor, der von Oktober bis April oder sogar Mai dauert. (Dann käme es vermutlich hin…)
    Zum Glück bietet mir mein einsprachiges Wörterbuch noch eine andere Bedeutung für „solncevorot“ an, nämlich: „narodnoje nazvanije solncestojanija“ – und das ergibt dann tatsächlich Sinn – –

    Der Umkehrpunkt von Winter zu Frühling ist noch nicht der Frühling, aber im Gefühl sind die Kontraste an diesen Tagen stärker als auf der Höhe des Sommers.

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