Fatale Folgen

Martha hat ihr Schicksal getragen. Geduldig, gebeugt und voller Gram. Und das fast dreieinhalb Jahrzehnte. Martha hat einen Suizidversuch überlebt, den sie gemeinsam mit ihren vier Töchtern begehen wollte, als die Rote Armee einmarschierte. Marthas Leiden dauerte lebenslang. Der Krieg, in den sie geraten war, endete erst mit ihrem Tod. Das, so scheints, ist unabänderlich auch das Schicksal der 91jährigen Wilhelmine Hennemann. Ihr begegnen die Leser in dem ungewöhnlichen Roman „Magnolienschlaf“, den Eva Boronsky geschrieben hat. Eine Nachgeborene, die Sinn für sinnfällige Lebenslinien hat.
Ungewöhnlich ist der Roman, weil er keine dieser beliebig-gleichförmigen Geschichten erzählt.
Ungewöhnlich ist das literarische Präludium, mit dem der Roman eingeleitet wird. Da gibt’s Worte aus der „Deutschen Wochenschau“ vom 5. März 1945. Eingestimmt wird in das Schwierig-Schlimme, das im Folgenden aufkommen wird. Es muß geahnt werden, dass nicht friedlich werden wird, was friedlich anfängt: Die Begegnung zweier Frauen unterschiedlicher Generationen, die Großmutter und Enkelin sein könnten. Frauen verschiedener Völker: Deutsche, die Greisin, Russin die Junge. Gebrechlich, die Alte. Pflegerin, die Andere. Das sieht, wie es zunächst aussieht, nach der Geschichte eines Pflegefalls aus. Das wär´ dann das Gewöhnliche.
Was Wilhelmine und Jelisaweta zu tragen und zu ertragen haben macht den schmalen Roman nicht nur außergewöhnlich. Es macht ihn wichtig und wesentlich. Äußerlich gesehen bleibt die Geschichte eindeutig die Geschichte einer Pflege und wird auch nichts anderes werden. Und ist doch etwas gänzlich Anderes. Ist in wichtigen Teilen die Konfrontation der deutsch-russischen Vergangenheit, die offensichtlich nicht ihr Ende hatte, als der zweite Weltkrieg vorüber war. Wann endet ein politischer Krieg im privaten Leben? Wer denkt darüber nach? Heute? Eva Boronsky ganz gewiß.
Die Fortsetzung des Krieges unter anderen Konstellationen, das ist´s, was die Schriftstellerin den Lesern zumutet. Was nicht bedeutet, dass ihr Buch eine Zumutung ist. Gar eine Verlängerung der Grauen des Krieges. Aber die Folgen, die andauernden fatalen Folgen, sind sichtbar, hörbar, spürbar für beide Frauen. Sie selbst sind die Folgen. Sie wissen um die Angst, die Leben zerstört hat. Sie wissen um die Gewalt, die Leben geboren hat. Die greise Wilhelmine wie die jugendliche Jelisaweta. Und sie geraten, durch sich, miteinander mitten hinein in die Ressentiments der Deutschen gegenüber den Russen, der Russen gegenüber den Deutschen.
Es ist, was und wie geschildert wird, auszuhalten. Eva Boronsky ist eine Schriftstellerin, die sowohl deutlich wie distanziert erzählt, was sie erzählt. Die Deutlichkeit ist nicht unbedingt immer im gewählten Vokabular. Sie ist in der Aussage der oft kargen, harten Sätze. Der so sanktionierte Lakonismus nützt der Verdeutlichung im Erzählen, das sich gern auch aufs Andeuten verläßt. Der Leser ist gefordert, der zweite Autor zu sein, der Geschichte nicht nur aus dem Schulunterricht kennt. Wer nicht so gut und so weit ist, der kommt durch „Magnolienschlaf“ auch mit seinen historischen Kenntnissen weiter. Das Gestern ist in der Gegenwart. Ob wir es glauben oder nicht. Man muß es nur vergegenwärtigen, wie es Eva Boronsky in ihrem Roman getan hat. Man muß es nur wahrnehmen. Als Lektüre! Oder als „Kleines Fernsehspiel“. Müßte sich nur noch jemand der Sache annehmen!

Eva Boronsky: Magnolienschlaf. Aufbau Verlag: Berlin 2011

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