Die Kapitänin verläßt das Schiff

Wir hatten es geahnt: Fräulein Pikante fühlte sich zu Höherem berufen und wir sollten vorsichtig sein in unserer Schilderung, um nicht ihren Argwohn zu erregen, an den sie sich gewiß erinnern würde, wenn sie einst Ministerin oder Ministerpräsidentin geworden war. Welch fernes Ziel am leuchtenden Horizont, welch Jubel unter den Spatzen und Möwen auf ihrem Weg durch den stolzen Himmel.

Noch aber träumte sie, die Schule sei ein edles, weißes Kreuzfahrtschiff, auf dem sich die Schüler als Passagiere fröhlich tummelten, und noch sei sie nur Kapitän, besser gesagt Kapitänin. Dabei war ihr nicht entgangen, daß das Schiff auf Grund gelaufen war, daß es festsaß, während auf dem Deck und den Zwischendecks gebadet und getanzt wurde. Der Steuermann, ein attraktiver Mann, der viel über den Wind und die Windrose zu reden wußte, aber wegen seines Heimwehs die nahen Seewege entlang der Küste bevorzugte, hatte die Felsen übersehen, die knapp unter der Wasseroberfläche lauerten. Er hatte die Passagiere auf die Schönheit der Landschaft hingewiesen, die von Bord aus bequem zu sehen war. Währenddessen tönte vom Kiel ein knirschendes Geräusch herauf.

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Die Kapitänin hatte es geahnt: Sie mochte ihren attraktiven Steuermann und blinzelte ihm gerne zu, aber sie vertraute ihm nicht, denn sie vertraute niemandem. Der Steuermann hatte Talent, schöne Geschichten zu erzählen, doch das Steuer zu bedienen, mit dieser Fähigkeit war er nicht gesegnet. Die Kapitänin, die ebenfalls die Arbeit scheute, sobald sie konkreten und unmittelbaren Charakter annahm, ahnte, daß zwei Schönredner auf der Kommandobrücke früher oder später ins Verderben führen würden. Für diesen Fall hatte sie vorgesorgt.

Nun geschah es: Es knirschte und das Schiff hing fest. Die Wellen plätscherten sanft an die Außenhaut, kein Grund zur Panik. Der Steuermann lächelte und behauptete, Herr der Lage zu sein. Die Kapitänin lächelte zurück und behauptete, man habe die Zukunft fest im Blick. Haha, die Zukunft. Wie ihr die Mannschaft und die Passagiere an den Lippen hingen! Entzückend, wie hörig sie ihr alle waren, fast alle.

Noch während sie sprach, erteilte sie ihrem Schiffsjungen flüsternd den Befehl, ein Rettungsboot loszutäuen. Jaja, die Retterin müsse sich, logisch, zuallererst selbst retten, sonst könne sie niemandem weiterhelfen. Nichts außer der Zukunft des Schiffes und der Reise stünde ihr im Sinn, flötete sie laut vernehmlich, um die verhaltenen Zweifler unter den Schiffsoffizieren zum Schweigen zu bringen.

Währenddessen hatte sie ihr Täschchen gepackt und gab vor, auf die Kommandobrücke zurückzukehren. Bog kurz davor ab und bestieg das Rettungsboot, das ihr Adjudant zu Wasser ließ, sich hineinschwang und mit ihr davonruderte, so rasch er konnte. Wußte er doch als erfahrener Leichtmatrose, welchen Abwärtssog das sinkende Schiff entfalten würde, wenn es einmal vom Felsen abrutschte in die Tiefe des Meeres.

Kaum waren sie zweihundert Meter entfernt, da kippte das Schiff, es neigte sich um zehn Grad, die Gläser fielen von den Tischen. Die Passagiere aber feierten weiter, als sei nichts geschehen. Sie waren wie Jugendliche derart betrunken oder berauscht, daß sie die Kippbewegung des Schiffes so wenig wahrnahmen wie das Klirren der Gläser.

Die Mannschaft aber war bestürzt. Eilends schickte sie den stellvertretenden Offizier auf die Kommandobrücke, damit er die Befehle der Kapitänin entgegennehme. Der stellvertretende Offizier suchte nicht lange nach ihr: Er hatte schon geahnt, daß sie verduften würde. Doch er sagte nichts; vielmehr erteilte er loyal die Befehle, als wäre seine Herrin noch auf der Brücke, niemand sollte ihr Fehlen bemerken.

Die Kapitänin ließ sich zum Festland rudern. Als sie beobachtete, wie das Schiff kippte, seufzte sie leicht, seufzte aufrichtig, und wandte sich entschlossen der Küste zu, wo die Berge verheißungsvoll im Sonnenlicht blinkten. Plötzlich erstarrte sie: Vor ihr, kurz vorm Ufer, erblickte sie ein zweites Rettungsboot. Darin saß nur ein Mann, der sich ungeschickt mit den Ruderblättern abquälte. Je näher ihm die Kapitänin kam, desto deutlicher zeigte sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln: Da vorn ruderte der Steuermann, bald hatte er das Ufer erreicht.

Beide waren gerettet, während hinter ihnen ein langgestrecktes Zischen zu vernehmen war. Das Schiff rutschte schräg vom Felsen in die Tiefe. Die Passagiere sprangen kopfüber ins Meer. Die Mannschaft schrie wilde, unkoordinierte Befehle. Der stellvertretende Offizier blickte versteinert auf die sachten Wellen, die stoisch an die Bordwand plätscherten. So hatte er sich sein Ende nicht vorgestellt.

Marquis de Passade
geb. am 2. Juni 1940 in Triest, slowenischer Adliger mit französischen Wurzeln, wurde bekannt dank ei-ner Reihe kirchenfeindlicher und philosophischer Essays, die er im Gefängnis schrieb. Nach seiner Ent-lassung wanderte er aus und nahm eine halbe befristete Stelle an einer deutschen Hochschule an, um die Sadismen des akademischen Prekariats zu studieren. Passades Werke nehmen Kritiken am effizienzbasierten Studium vorweg, dessen Auswirkungen erst mehr als ein Jahrhundert später im Niedergang des westlichen Zivilisation sichtbar werden.

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