„Der Weise hat Wissen, aber
er wendet es nicht an.“
Zhuangzi
Warum verwechseln wir das „Sein“ mit dem „Sein des Seienden“, wie der Meisterdenker genau analysiert hat? Und diese Verwechslung dauert nun bereits seit fast zweitausendfünfhundert Jahren an. Wie kam es, dass wir das abendländische Technik-Monster in die Welt gesetzt haben und jetzt seiner nicht „Herr“ werden? Jenes Monster, das in Kronos sein ultimatives Dispositiv gefunden hat und seither seine Kinder frisst. Warum fanden wir es angezeigt, das Sein dem Sein des Seienden zu opfern? Welche Sucht hat da in uns geschlummert und ist grausam erwacht? Uns: das ist der Wille der zunächst kleinen griechisch-römisch-christlichen Weltpopulation zur Welt- und Naturbeherrschung. Die Welt zu etwas Erklärtem machen. Wille, der Wille zum Wissen als Macht ist. Eine Idee, die einem Angehörigen der indigenen Bevölkerung der San oder der Khoikhoi, aber auch einem Hindu, Buddhisten, Daoisten oder christlichen Mystiker nie gekommen wäre. Wir aber „stellen“ die Welt „fest“, machen sie zu einem Gegenüber, zu einem Gegen-Stand, entkleiden sie ihres Geheimnisses. Es bleibt eine schwer zu erklärende Tatsache, warum ausgerechnet im griechisch-römischen Kulturraum die Voraussetzungen der Technik entwickeln wurden und sich von dort aus global verbreiteten. Unsere legitimen Werkzeuge und Hebel wurden zur Prothetik und zu reproduzierenden Maschinen, zur automatisierten Mechanik, die sich schließlich digital verschönert, die sauber ist. Warum ist das schlimm? Weil jene Prothetik und jene Maschinen uns den Weg als Akt stehlen und damit die unmittelbare Sinnhaftigkeit unserer Tuns, die wir zur Erfahrung von Werthaftigkeit brauchen. Ein Tee in der Teezeremonie zubereitet ist nicht das Gleiche, wie sich einen Tee aus dem Automaten zu ziehen oder Wasser über einen Aufgussbeutel zu gießen. Unsere Alltags-Akte sollen dem Tag Farbe schenken, das Zeit-Kontinuum der Dauer eröffnen. Aber wir fürchten die Dauer als mögliches „Welten“ der Welt. Das „Welten“ der Welt wollen wir unter Kontrolle bringen und natürlich da zuerst, wo es uns am gefährlichsten ist: Im eigenen Körper. Der Körper muss ein Modell des Wissens werden, d.h. artifiziell. Wir züchten Organe nach, bauen Kontrollfunktionen ein. Blutdruck, Herzleistung, Verbrauch von Kohlehydraten, Schritthäufigkeit usw. überwachen wir mittels Smart-Watch, also mit Kronos in digitaler und erweiterter Gestalt, wir implantieren Chips. Normal wartet die Natur, der Körper sich selbst. Aber durch unsere technischen Eingriffe entsteht künstliche Wartungsnotwendigkeit und damit Wartungsabhängigkeit. Wer gewährt die kostenreiche Wartung unserer Prothesen und Chips, wer bezahlt sie, und ist das medizinische Personal verfügbar? Zunächst beruhigt uns die Kontrollmöglichkeit des schwer berechenbaren Körperdings. Kontrolle allein genügt jedoch nicht mehr. Wir müssen mittels synthetischer Biologie uns in das körpereigene Programm aller Wesen, ins Genom, einschleusen und dieses umschreiben, um das uns genehme, nicht störende Ziel zu erreichen. Jetzt gibt unser Geist, der ein Geist der Flickschusterei ist, der Natur das Ziel vor. Macht sich zum Herrn. Das nennen wir die CRISPR/Cas-Methode (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats). Wir dürfen den natürlichen Vorgängen keinen ungewissen Ausgang mehr erlauben. Erhofftes Ziel ist totale Kontrolle und Manipulation.
Die Wissenschaft hat noch nie ein „Naturgesetz“ entdeckt, sondern nur, was die Natur als Echolalie auf unsere Fragen und Anwendungen liefert. Die Natur ist Chaos und Unschärfe, ist dionysisch, gewaltsam, ist Schönheit innerhalb einer uns sich entziehenden Ordnung. Darum wollen wir ihr nur erlauben, das zu machen, was wir innerhalb dieser Echolalie nachvollziehen können. Darum müssen wir die Genome aller Lebewesen umschreiben. Nur so gelangen wir zu ungestörtem anhaltenden Komfort. Zur ereignislosen Faulheit.
Technik und Wissenschaft sollten zu Dienern werden, unsere elementaren Lebensvollzüge erleichtern. Aber das Verhältnis hat sich umgekehrt. Jetzt dienen wir unseren Vorrichtungen. Dabei ist die Technik als Techné, als Handwerk und Fertigkeit, als analoge nicht automatisierte Unterstützung manueller Vorgänge, eine der menschlichen Geistesverfassung eigene Qualität und Hilfe. Aber als wir Gott und Schöpfung trennten, in die Einheit Gottes ein dualistisches Prinzip einfügten, entstand die Panphobie und wir versuchten fortan, des Pan Herr zu werden. Tierquälerei zu Forschungszwecken, Massentierhaltung, Lebensraum-Zerstörung, Transhumanismus und künstliche Intelligenz, und das im großen Stil, sind die logischen Folgen und zeigen die vollendete Umkehrung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Mensch und Maschine. „Künstliche Intelligenz“ ist eine dem Technik-Programm inhärente Falschmünzerei, und zeigt, dass wir nicht wissen, was echte Intelligenz ist. „Künstliche Intelligenz“ ist in Wahrheit ein hochprimitives auf Kybernetik beruhendes kausales Schaltprinzip. Dumm wie, ja dümmer als Bohnenstroh. Was und wofür forschen wir? Ist Forschung noch ein Gebot der Vernunft und der Freiheit oder dient sie seit langem nur der Durchsetzung unserer kapital-kumulierenden Projekte?
Wer wollte leugnen, dass unser Gegenstandsbewußtsein von Welt, das uns das Sezieren, Verdrahten, Digitalisieren, Neuzüchten, Clonen ermöglicht, uns nicht große Schritte in Medizin, Mobilität und Produktion hat machen lassen. Nur Schritte wohin? Sicherheit und Gesundheit sind nicht mehr die Abwesenheit von Krankheit oder Verbrechen, sondern sind absolute Werte geworden. Als solche funktionieren sie als andauernde fiktionale Nähe. Unser immerwährendes Gegenüber ist die Angst. Die Panphobie hat eine Wandlung durchgemacht. Da die Welt „gestellt“ ist, die Angst aber nicht aus der Welt ist, was sie nur durch vertrauensbildende Maßnahmen wäre, durch Feier und Fest, durch Nähe und Teilhabe, ist sie zum dauerhaften, abstrakten Agens geworden. Unser Bewältigungsmechanismus, die Technik, erschafft uns die Illusion von Sicherheit. Im Hintergrund streiten sich zwei Zeiten: die Zeit des Vollzugs und die Zeit der Schaltungen, oder die erfüllte und die leere Zeit. Die leere Zeit verschlingt den Raum, verhindert, dass die Zeit des Vollzugs Wirklichkeit wird. So hecheln wir ständig jedweder Neuerung hinterher als eines Versprechens der Verortung. Allein, es ist nur eine Geschwindigkeitssteigerung, ein Wahn.
Die Technik ist eine Herrschaftsmetapher. Mittels der Geräte, der Dispositive, bin ich Teilhaber dieser Herrschaft. Wir fühlen uns von dieser Teilhabe ausgeschlossen und bekommen Panik, wenn unser Smart-Phone, unser PC oder unser Auto nicht mehr funktioniert. Die Communio der Herrschaft hingegen macht uns lüstern, feuert uns an, macht uns gierig. Vor den Artefakten einer innovativen Technik machen wir den Kniefall. Gleichzeitig geraten wir stets tiefer in die innere Verwahrlosung. Unser soziales Leben stirbt und mit ihm unsere sittliche Bildung. Wir leben in der Wertleere, in der Aushöhlung von Erfahrung, im Alles und Nichts. Das ist der Boden, auf dem die Technokratie die Herrschaft antreten kann im Verein mit Szientismus als Wissenschaftsgläubigkeit und Monopolkapital. Diese drei zusammen bilden das böse Triumvirat.
Die Technik hat zur Bedingung der Möglichkeit, wie oben gezeigt, die Welt als Erklärte. Wir müssen über die Welt geistige Verfügungsgewalt erlangen, eh wir sie in unsere Installationen und Programme hineintreiben können. Aber wie wird die Welt zu einer Verfügbaren? Dafür ist unser Verhältnis zum Körper entscheidend. Man nehme als Beispiel die weibliche Brust. Wie anders ist unser Verhältnis zu ihr als Liebhaber, als Frau, die sich ihrer Schönheit freut, als Säugling, als Arzt. Einmal ist sie Zauber, dann Nahrung, dann simples kausal-mechanisches Prinzip. In der Mammografie wird sie Objekt des Wissens. Wir haben die Welt mammografiert. Sie liegt vor unserem kaltem Blick hingestreckt da. Wir sind ihr keinerlei Dank schuldig. Sie ist ihrem Geheimnis entblößt. Entblößung ist unser Projekt. Da kommen wir nicht heraus, es sei denn wir bauen neues Vertrauen auf. Ein tiefes, seinbegründetes: Die Akzeptanz des Schleiers. Was wir anders der Natur, den Tieren, den Pflanzen, den Dingen antun, tun wir uns selbst an. Die Einheit Gottes, des Seins, mit der Welt ist aufgekündigt zugunsten einer für unsere Greifwerkzeuge totalen Verfügbarkeit. Aber jetzt, nach so vielen Jahrhunderten, schlägt das System zurück. Wir selbst sind Teil der Verfügungsmasse geworden. Unsere Körper gehören uns nicht mehr. Der Organhandel floriert, Impfzwang und Totalüberwachung sind die Folgen der in unser kleines Ein-mal-eins verfrachteten Schöpfung. Kein Gott spricht mehr darin. Aus Pan-Phobie ist Pan-Optik geworden. Bleibt die Frage, wer ist hier Überwacher und wer Überwachter. Die Natur zu erklären durch eine angebliche Entschlüsselung eines ebenso angeblichen Codes, ohne zu merken, dass es sich hier um unsere arg beschränkten und simplifizierenden Beschreibungswerkzeuge handelt, ist eine spezielle Art von Dummheit, Dummheit als Hybris und Machenschaft.
Geben wir es zu, wir wissen, dass etwas falsch läuft. Allein, wir wissen nicht was. Probleme mit dem Klima, mit den Ressourcen stoßen uns mit der Nase drauf. Es hat vor fast zweitausendfünfhundert Jahren begonnen, als wir uns kraft unseres Willens zur Macht entschieden, das Sein mit dem Sein des Seienden zu verwechseln, woraufhin sich die abendländische Installationswut Bahn brach. Das ist der griechisch-römische Sonderweg, der das politische Christentum als Blaupause benutzte. Zur technischen Installation gesellten sich Bildung und Erziehung. Der Seins-, der Götter-, der Gottesbezug musste nicht mehr bemüht werden. Die klare Zweiteilung von Gott und Schöpfung öffnete, wenn Gott erst abgetan war, Tür und Tor. Darin konnten wir nach Herzenslust operieren, sezieren, installieren. Schöpfung musste nur noch Natur und Wissenschaft Naturwissenschaft werden. Warum würde sich bei uns ein Angehöriger der indigenen Bevölkerung der San oder der Khoikhoi nicht wohlfühlen? Er würde denken, er sei in der Hölle. Keine Feier, kein Fest, kein Opfer, keine Dankbarkeit, keine Verneigung vor Bruder Tier und Bruder Pflanze, keine Ehrfurcht vor dem Göttlichen, sondern Zerstörung der Natur, Vereinsamung der Menschen, Quälerei der Tiere, Sinnlosigkeit des Daseins, Verlorensein an die Arbeit, was reziprok ist zu dem Verlorensein ans Geld, an sinnlose Produkte, an Bildung, die nichts als Nutzanwendung für all das oben Genannte ist. Wie könnte ich jenem Indigenen der Khoikhoi oder der San, wie könnte ich Zhuangzi oder Buddha oder Christus klarmachen, dass wir nicht in der Hölle sind?
Walter Thümler, März 2022