TONTICS SEGEN DES EXILS

DIE WUNDER DES SPÄTEN SOMMERS

Stevan Tontic, der wohl bedeutendste serbische Dichter der Gegenwart, ist plötzlich verstorben. Er war mein langjähriger Wegbegleiter und Freund. Nein, ich kann keine Lobrede post mortem für liebe Menschen schreiben, denn bei solch einer Rede dringt stets auch ein Fünkchen Eitelkeit der Lebenden durch. Er schrieb über mich und ich schrieb über ihn. Anstelle von in memoriam überliefere ich lieber ein paar Fragmente, die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte unseres Lebens aufgeschrieben wurden.

Die Chronisten der Belagerung von Sarajevo vergessen nie, die Tatsache zu erwähnen, dass die Koryphäen dieses schändlichen Attentats auf die Stadt serbische Schriftsteller waren. Da aber das Böse immer eine durchdringendere Stimme hat als das Gute, erwähnen heute nur wenige Menschen jene brillanten serbischen und kroatischen Schriftsteller, die sich dieser wahnsinnigen Plage widersetzten, nur noch wenige erinnern sich an die, die sich gegen den Ruf der Kriegsposaunen und die Perversion des Tötens auflehnten. Solche Leute waren auf allen drei brüderlichen Seiten das Ziel nationaler Verfluchungen, doch sie verteidigten eigentlich die Zivilisation, nämlich civis Sarajevo – die Bevölkerung; sie waren in den entscheidenden Momenten der einzige Beweis dafür, dass die Stadt überleben und fortbestehen kann, denn die Stadt war schon immer ein Ausdruck von Pluralität, Vielfalt und ein Mittelpunkt größter kreativer Potenziale des Menschen. Ihretwegen, dank dieser paar Menschen, dachte ich oft, ließ das westliche Bündnis die im Krieg vorbereitete Teilung des Landes nicht zu, weil gerade sie es waren, die in der Defensive der Zivilisation standen, an der Schwelle, die die Kultur von der Barbarei trennt.

Einer von ihnen ist der Dichter Tontic (Grdanovci, Sanski Most, 1946). Dichter, Prosaautor, Essayist, Redakteur, Anthologist, Übersetzer aus dem Deutschen. Tontic studierte Philosophie und Soziologie in Sarajevo. Anfang 1969 war er für kurze Zeit Chefredakteur der Studentenzeitung Naši dani und später Mitglied der Redaktion der Jugendzeitschrift Lica. Mitte der 1980er Jahre wurde er Chefredakteur der Zeitschrift Život, und am längsten arbeitete er als Redakteur beim Verlag Svjetlost. Den Zeitraum von Mai 1993 bis Ende 2001 verbrachte er im Exil in Deutschland, dann ließ er sich wieder in Sarajevo nieder, wo er heute als freiberuflicher Schriftsteller lebt. So lautete eine kurze und trockene biobibliografische Notiz. Aus ihr geht nichts vom Drama eines in die Literatur hinein wachsenden Lebens hervor, so wie auch die Literatur selbst oft, in Sehnsucht nach der reinen Form, die zahlreichen Nebenarme und Gänge des Lebenslabyrinths übersieht.

Das poetische Werk Stevan Tontics entstand und pulsierte in einem Zeitraum von fast vierzig Jahren, seit Beginn der siebziger Jahre, als sein erstes Buch veröffentlicht wurde, bis heute, wo der Autor sozusagen in voller Schaffenskraft und auf dem Höhepunkt seines kreativen Könnens stand. Zehn Gedichtbände sind nicht viel für vier Jahrzehnte, sieht man es vom Standpunkt moderner Textproduktion aus, aber es geht hier um ein Prinzip der Strenge und eine ihm eigene Ökonomie des Ausdrucks; Tontic reihte sich vom ersten Moment an als ein Priester der Poesie ein, der das Schreiben von Versen als eine spirituelle Erfahrung ersten Ranges betrachtete, und der, wie es der Titel eines seiner frühen Bücher ausdrückt, mit einem Gedicht „lästert und heiligt“.

Diese Heiligsprechung durch Lästerung erinnert uns an den magischen Baudelaire, aber in einer modernen Tonart. In Tontics ersten Büchern dominieren Töne von Zynismus und Ironie, die diese „Wissenschaft der Seele“ prägen und abrunden, diese „lustigen Geschichten“ über die Eitelkeit und Absurdität unseres sterblichen Daseins. Die Poesie trug sich als eine „geheime Korrespondenz“ zwischen Engel und Teufel zu. Seine Verse streben nach Kunstfertigkeit, scheuen aber nicht die Realität. Obwohl er informell zur Gruppe der „Schicksalhaften Jungen“ gehörte, unterschied sich Tontic von den meisten von ihnen durch seine große Gelehrsamkeit und sogar durch seine spezifische „Salon“-Kunstfertigkeit. Er etablierte sich zudem als glänzender Kritiker, Anthologist und Intellektueller, dessen diskursives Engagement seine Poetik und Poesie begleitete und „ergänzte“, die jederzeit bereit war, zu überraschen und zu schockieren. Von Anfang an zog der Autor die Aufmerksamkeit der Literaturkritik auf sich und seine Bücher wurden mit bedeutenden Preisen gekrönt.

Seine poetische Metamorphose erlebte Tontic im Kriegs-Sarajevo, wo er ein Jahr verbrachte. Die Realität des Mangels und die Landschaft der Verwüstung fließen in seine Verse ein, aber sie umreißen noch deutlicher den Glanz des Humanismus, „Glanz und Wunde“, wie der Dichter Veselko Koroman sagen würde. Zu Beginn der Belagerung Sarajevos schrieb Tontic einen Brief an die Stadt Belgrad, und die Worte dieses Briefs klingen noch heute kraftvoll wie ein Psalm: „Unsterbliches Belgrad! Ich flehe dich an, mit den Tränen einer halben Million Einwohner Sarajevos, dass du dich sofort, zu dieser Stunde, entscheidest, die Stadt Sarajevo zu retten. Wenn die Stadt Sarajevo stirbt, liebes Belgrad, dann wird sich die Schlinge des Hasses und Untergangs um dich zusammenziehen“ (Književna rec, Juni 1993). Das kriegerische Belgrad hörte jedoch nicht auf die Stimme Tontics, sondern auf die von Karadžic, Nogo und Crncevic. Deren Scheltrede, serbische Mütter hätten sich an der Niederlage der Serben schuldig gemacht, „weil sie sich äußerst unpatriotisch verhielten und feige ihre Söhne versteckten, da sie nicht bereit waren, sie für das Serbentum in den Tod zu schicken“, kommentierte Tontic, indem er sagte, er bezweifle, dass „jemals irgendwo in der weißen Welt eine solche Anklage aus der Feder eines Dichters kam“.

Mit seinen Nachbarn, vorwiegend Bosniaken, verbrachte er das erste Jahr der Belagerung und schrieb Verse, in denen die Güte triumphiert, in denen der „Akt gefesselter Hände“ verherrlicht wird, die Pracht des Mangels im Angesicht des Todes. Sein ironischer Ton ging verloren und verwandelte sich in eine Art Frömmigkeit und Reue. Im Buch Handschrift aus Sarajevo, sagt Jasmina Lukic, „wird die Stimme desjenigen wahrnehmbar, der nicht damit einverstanden ist, dass er höher oder niedriger taxiert wird, statt ihn als das zu definieren, was er ist: ein Mann, allein, mit einem Namen und nur einem einzigartigen Leben im Chaos des Krieges“. Diese neue „Beschreibung“ der Realität bei Tontic ist auch der Anfang einer Poetik der Verzweiflung und Resignation über die Welt und den Menschen, der, wie der Dichter in einem Gespräch sagte, ein „kosmischer Exzess“ sei, „eine Spezies, die sich selbst zerstört“. Die Erfahrung eines serbischen Dichters in einer Stadt, die unaufhörlich von der serbischen (Para-)Armee mit Granaten beschossen wird, hat jedoch auch eine andere, weniger romantische Seite. Folgendes bezeugt der Dichter über diesen Kreuzigungszustand in seinem essayistischen Text „Kriegs-Antikriegs-Brief“:

„Als mir bald klar wurde, dass diese Hölle, in der wir gelandet sind, andauern würde, und dass auch ich selbst ein ziemlich sicherer Kandidat für den Tod war (so wie jeder Bürger Sarajevos und, wenn Sie erlauben, als Serbe noch ein bisschen sicherer), musste ich in irgendeiner Weise mein Verstummen, meine absolute Hoffnungslosigkeit überwinden. Das heißt – versuchen, über sie Zeugnis abzulegen. Mindestens das, mindestens so viel. Wenigstens, um eine klare menschliche und dichterische Spur zu hinterlassen. Damit jeder – wenn ich nicht mehr unter den Lebenden weile – sehen kann, wie ich mich am ,schrecklichen Ort‘ verhalten habe. Als Mensch oder als menschlicher Lumpen, als Dichter oder als Lobgesang mörderischer Heldentaten. Als Persönlichkeit, die den Kern ihrer Menschlichkeit und ihrer Sprache (doch unzerstörbar!) verteidigte, oder als Verräter an seinen Freunden und an sich selbst, als Verräter am Schönsten in uns. Als ehrlicher und glaubwürdiger Zeuge der Schrecken und dieses ganzen Menschheitsdramas in höllischer Erpressung und Todesbedrohung, oder als Lügner und verkaufte Seele, als letzter propagandistisch verwertbarer Wicht.“

Im belagerten Sarajevo veröffentlichte Tontic im Juni 1992 in der neu aufgelegten Zeitschrift Zemlja einen Artikel mit der Überschrift „Serbe sein“, der Missverständnisse und Zorn bei seinen besten Freunden auslösen und eine bezeichnende Verurteilung des Autors heraufbeschwören sollte. In diesem Text spricht er über Schicksal und Fluch nationaler Zugehörigkeit, tritt aber dafür ein, dass keinerlei Verbrechen auf dem Rücken der Gemeinschaft lasten dürfe. Von seinen Nachbarn als Kollaborateur verdächtigt und von den eigenen Landsleuten zum Verräter erklärt, appelliert er an die Liebe, wohl wissend, dass die Macht der Worte in unruhigen Zeiten nur ein Mittel zur Rettung der eigenen Seele ist. Er sagt in seinem Text, dass die Todsünde und das Versagen der serbischen Politik ein Pakt mit Hochmut und brutaler Gewalt seien, verkörpert durch die Jugoslawische Volksarmee (JNA). Er verurteilt den serbischen Militarismus, analysiert aber auch das Versagen der bosniakischen Politik, erwähnt die Schikanen seiner Landsleute, die in der Stadt geblieben sind und kommt zu dem Schluss: „Ja, es ist wirklich schwierig, ein Serbe zu sein, meine Herren Serben. Erst recht in Sarajevo. Aber es ist immer noch am schwersten, ein Mensch zu sein. Und das ist das Einzige, was Sie tun müssen. Wie sterben. Und jeder Mann – sofern ihm dies vergönnt ist – kann anständig leben und sterben und als – Serbe.“

„Logisch: Ich wurde als Verräter angegriffen und verleumdet, als Diener der muslimischen Regierung in Sarajevo, kein Serbe und dergleichen. Auf der anderen Seite, für die ich eine Art „Dennoch-Serbe“ geblieben war, wurde ich sogar von Freunden als Verteidiger der Cetniks und der Cetnitet (oder Republika Srpska) verleumdet, kein bosnischer Patriot und so weiter. In ähnlicher Weise wurden auch alle anderen (aus allen drei Welten, Völker-Lagern) angegriffen und beschuldigt, die sich nicht als Trompeter des Hasses und Propagandisten des Krieges anheuern ließen; eines Krieges als mächtigstes Mittel der Rassenhygiene, als Mittel der radikalen (in einem Blutmeer) moralischen Wiedergeburt der Nation“, sagt er in dem oben genannten Essay und betont, dass die freiwillige Vertreibung oder das Exil die einzige Rettung sei.

Seine nächste Phase wurde von der Erfahrung des Exils bestimmt, dem „Segen des Exils“, wo sich der Dichter in einer Oase und an einem vor den Schergen sicheren Zufluchtsort seiner Nostalgie und Trauer um die verlorene Geliebte und um die Heimat hingab. Besonders berührend und großartig sind Tontics Liebeselegien, in denen er schreibt, dass er seine Geliebte „von den Schlachtplätzen“ fort trägt, und wehklagt, denn „sie haben mich von Jener getrennt, die ich atme; Todeslieder stottere ich, ohne meinen Himmel und ohne Gestalt“. Im Exil erkannte er, wie unterschiedlich sich die Erfahrungen der Geflüchteten und derjenigen, die in der Heimat geblieben waren, darstellten:

„Ein Mann mit enormer Kriegserfahrung und ein Mann, der den Krieg nicht gekostet hat – sie sind zwei verschiedene Wesen. Wesen, die einander kaum verstehen können, nie voll und ganz und nie bis zum Ende. Das Erlebnis der Kriegsgräuel verändert unsere Grundvorstellungen von der Gesellschaft und vom Menschen, von uns selbst, es stellt das gesamte ,Weltbild‘ auf den Kopf, das in einer Zeit des Friedens und naiver Zukunftsprojektionen errichtet wurde. In der Tollwut eines organisierten, mörderischen, alles zerstörenden Wahnsinns zerfällt all das sofort zu Staub und Asche. Dann gilt es, nicht nur das nackte Leben, sondern auch den Lebenswillen zu bewahren, Geist und Sprache gegen völlige Lähmung und tödliche Hoffnungslosigkeit zu verteidigen. Und das Wichtigste: die eigene Seele nicht an den Teufel zu verkaufen. In absoluter Hoffnungslosigkeit kann man nicht denken und nicht einmal schreiben. Nicht träumen, nicht lieben, nicht singen, nicht atmen.“

Im Exil, dem Paradies seiner Hölle, um mit einer Ujevic-Metapher zu sprechen – ist der Dichter damit konfrontiert, vor einer Wüste zu stehen. Die Welt, die ihm Zuflucht bot, ist nicht seine Welt.

Obwohl er sich als Dichter auch auf Deutsch behauptete, der Sprache seines Exils, wo er eine Reihe bemerkenswerter und von dortigen Kritikern hochgelobter Bücher veröffentlichte sowie mehrere sehr angesehene Literaturauszeichnungen erlangte, träumte er unaufhörlich davon, zu seiner Sprache zurückzukehren, in das Haus seines Kampfes: „Wozu das Leben, wenn ich ein Dichter bin, dem sie die Sprache wegnehmen und vernichten? In der Sprache liegt der Kern, die ganze Kraft und das gesamte Kapital meines zerbrechlichen, noch zu Lebzeiten entwerteten, gleichsam ermordeten Wesens. Und zwar nicht in der Sprache als praktischem Mittel zur Verständigung und Erhaltung der Existenz, sondern in der Sprache als Medium der wahrsten und edelsten, überdies testamentarischen Weisungen und Offenbarungen des Geistes. Der Sprache als bester, sicherster Hüter der gesamten menschlichen Inkarnation in Schönheit, Wahrheit, aber auch im Schrecken des Daseins, als Zeuge jedes bedeutenden Augenblicks aus Leben und Tod, für alle Zeiten.“

So wurde seine Poesie von einer deutschen Zeitung bewertet: „Mag sein, dass diese Strophen auch durch den Kontrast zu der zuvor blutleeren poetischen Umgebung Deutschlands an Durchdringung gewinnen, wo sie wie einsame Felsblöcke wirken, fast unheimlich in ihrer Düsterheit. Darin sind sie der Dichtkunst Paul Celans verwandt, ihrer Tiefe und dunklen Melancholie. Es kommt selten vor, dass uns Gedichte schon beim ersten Lesen im wahrsten Sinne des Wortes erschüttern. Tontic gelingt diese Meisterschaft mit leichter Hand“ (Berliner Morgenpost, 1998).

Ende 2001 verließ Tontic Deutschland nach neun Jahren und ging nach Sarajevo zurück. Diesmal steckte er wie alle Rückkehrer dauerhaft zwischen zwei Welten fest. Unmittelbar nach seiner Rückkehr sagte er mir in einem Interview mit BH Dani, dass er zum Zeitpunkt seiner Abreise nicht geglaubt hatte, jemals wiederzukommen. „Allerdings habe ich nie öffentlich gesagt, dass ich nie zurückkehren würde, weil mir eine solche Aussage etwas unhöflich erschien. Aber in der Stunde, als ich aus dem Höllenkreis herauskam, war ich bereit, nach Grönland oder in die Wüste Gobi zu gehen, nur um Frieden und halbwegs Sicherheit vor zügellosen Landsleuten zu finden – Kriegern, die in den Wahnsinn totaler Verfolgung eingespannt waren und alles niedermetzelten, was nicht auf ,unserer‘ Seite war“. 2014 zog er nach Novi Sad und das war sein letzter irdischer Umzug.

Bei der Nachricht seines Todes erinnerte ich mich an sein Gedicht Grab, das ich hier vollständig wiedergebe:

Auf einem Plateau, bitte

auf einem Plateau,

in klarer Erde,

im geklärten Sternbild.

Im Niemandsland

in klangvoller Leere,

rein von Heimat,

rein von Geschichte.

In Zweiheit mit Jener

die ich liebte

solang ich hier war –

in unerträglicher Freude der Zweisamkeit.

In einem Kristall ohne Namen,

ohne Eigentum.

Zwei Eisberge

in einer Eiskluft

unterm blauen Himmelstuch.

Im klaren Sternenfeuer. Im Abgrund.

Uns gehörend. Ganz bei uns.

Ins Deutsche übersetzt von Cornelia Marks

Bücher von Stevan Tontic im Leipziger Literaturverlag:

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