Echo auf: Pessoa, Buch der Unruhe (Tagtraum)

„Wie gut tut es der Seele, unter einer stillen hohen Sonne diese strohbeladenen Fuhrwerke, diese noch zu verpackenden Kisten, diese langsamen Passanten eines in die Stadt versetzten Dorfes schweigen zu sehen! Ich selber, der sie vom Fenster des Büros aus anschaut, in dem ich ganz allein bin, bin übersiedelt. Ich bin auf einmal in einer stillen Ortschaft in der Provinz, ich erstarre in einem unbekannten Dörfchen und, weil ich mich anders fühle, bin ich glücklich.“ (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Georg Rudolf Lind)

In diesem Café scheint die Atmosphäre angenehm zu sein. Die Frau an der Theke redet freundlich mit einem Kunden, und ich schlage meinen Freundinnen vor, uns hier reinzusetzen. Wir haben uns schon länger nicht gesehen, und ich freue mich, mit ihnen wieder etwas Zeit zu verbringen. Wir bestellen uns Latte und Kuchen, und Monica erzählt uns, was sie in den letzten Monaten gemacht hat.

„Stellt euch vor, ich war seit November nicht mehr im Kino. Jetzt läuft gerade ein Marvel Film, aber der  scheint nicht besonders interessant zu sein. Sie spielen immer dieselben Sachen ab, ich habe keine großen Hoffnungen.“

              Chris stimmt mit ein: „Ich hab den gesehen. Ich muss echt zugeben, ich bin kein Marvel Fan, deshalb ist meine Bewertung da nicht so zuverlässig. Ich war mit meiner Schwester im Kino, und wir sind beide unzufrieden rausgekommen. Obwohl sie diese Filme normalerweise mag.“

              Ich schau auf die Zuckerdose. „Ich hab gehört, vielen gefällt der nicht, die die vorherigen Filme nicht gesehen haben.“ Ich habe mal wieder vergessen, Zucker zu kaufen.

              „Genau das hab ich mir auch gedacht,“ meint Monica.

              Mein Blick fällt auf ein Poster, dass hinter Chris hängt. Es ist die Aussicht auf London und die Themse. Normalerweise hängt man immer Bilder von berühmten touristischen Sehenswürdigkeiten auf, wie den Big Ben oder London Eye. Dieses Plakat zeigt aber das Kunstmuseum Tate. Viele würden das nicht als London wiedererkennen. Ich war jedoch vor einigen Jahren dort und habe es besucht. Ich erinnere mich an eine ganz bestimmte Ausstellung, bei der ein Film rund um die Uhr lief. Man konnte sich zu jeder Uhrzeit in den Saal setzen und beobachten, wie Ausschnitte aus allen möglichen Filmen die genaue Uhrzeit des Tages darstellten. So hieß der Film auch: „The Time“, weil er rund um die Uhr die aktuelle Uhrzeit anzeigte. Ich fand die Idee schon damals so kreativ und originell, dass ich den ganzen Tag dort hätte verbringen können. Ich habe gehofft, dass ich einige Filmausschnitte wiedererkennen würde, und versuchte, mich an Filme zu erinnern, in denen man explizit die Zeit sagt oder zeigt. Bis auf Neujahrsfilme konnte ich mich an nichts erinnern. Aber ich konnte schlecht bis um Mitternacht im Museum bleiben. Ich weiß, dass es so einen Tag gab, an dem das Museum nachts offen ist und man dann den gesamten Film sehen konnte. Leider war das an dem Tag nicht der Fall. Und ich war sowieso mit meiner Freundin unterwegs, und wir hatten einen Tagesplan. Ich hatte vor, ihr noch Buckingham Palace zu zeigen, bevor sie abreisen musste. Tatsächlich gestand sie mir an dem Tag, dass sie den Film so ruhig anschauen konnte, ohne regelmäßig panisch auf die Uhr zu schauen, weil die Uhrzeit durch den Film immer sichtbar war. Wie ironisch, dass Menschen, die immer hetzen und aktiv die Uhrzeit verfolgen, sich entspannen, sobald die Uhrzeit durchgehend sichtbar ist. Wie verschieden wir doch sind. Ich bin in dem Sinne das genaue Gegenteil. Das erinnert mich; ich habe sie schon länger nicht gesehen. Vielleicht sollten wir uns mal wieder treffen und etwas Zeit miteinander verbringen.

              „Was meinst du? Sollen wir uns den Film zusammen anschauen?“ reißt mich Monica aus meinen Gedanken.

              „Welchen?“ frage ich verwirrt.

              „Hast du wieder nicht zugehört?“

              „Ah, sorry, war nicht mit Absicht.“

              „Dachte ich mir schon. Ich meine den neuen James Bond Film. Ich kann nachschauen, ob der am Freitag läuft, da haben wir alle Zeit.“

              „Ja, das klingt gut. Ich bin dabei.“

Anastasia Keller

Mein Tagtraum

Es ist ein warmer Tag in Moskau. Ich kann kaum glauben, dass ich nicht zur Uni muss, weil die Sommerferien begonnen haben. Ich sitze auf einer Bank im Park, wo ich eine Unmenge Zeit mit Lesen oder einfach mit Nachdenken verbringe. Heute ist es Bernhard Schlink, dessen Roman „Der Vorleser“ ich genieße.

Plötzlich halte ich inne, schaue auf, und Tausende von Bildern gehen durch meinen Kopf. Hanna Schmitz ist ständig umgezogen, und ich muss schon lange in derselben Stadt bleiben. Hanna ist ständig geflohen, und eigentlich würde ich auch gerne fliehen. Weg von allem und allen. Dorthin, wo ich noch nie gewesen bin. Es gibt so viel zu sehen, so viel zu entdecken. Es gibt so viele nette Menschen, die ich noch nicht kennengelernt habe, und so viele Erfahrungen, die ich noch nicht gesammelt habe.

In meinen Gedanken reise ich zuerst nach Polen, dorthin, wo sehr viele meiner Vorfahren herkommen. Danzig (Gdansk), Breslau (Wroclaw), Warschau…Wie sehne ich mich nach diesen Städten, obwohl ich nur eine gesehen habe. Ich würde gerne echte polnische Äpfel probieren, die, die den ganzen Sommer das Sonnenlicht genossen haben. Die polnische Sprache wird für mich wie echte Musik klingen, und ich würde die gerne lernen. So wohl würde ich mich in Polen fühlen, weil es in meinem Blut etwas gibt, was mich mit diesem Land verbindet.

Dann geht es nach Deutschland. Hier fehlen mir einfach die Worte. Jede meiner Fasern, jede einzelne Zelle in meinem Körper liebt dieses Land, seine Geschichte, seine Kultur, seine Sitten und Bräuche. Marina Zwetajewa hat Deutschland ihre Liebe gestanden, Das tue ich auch, indem ich ihr Gedicht zitiere:

Germanien, meine tiefste Neigung,               ???????? – ??? ???????!

Germanien, ach, mein edler Wahn!               ???????? – ??? ??????!

Mehr brauche ich nicht zu sagen…

Und dann geht es weiter…Österreich, die Schweiz, Belgien, Luxemburg, Liechtenstein, die Slowakei, Tschechien, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Schweden. Norwegen, Finnland, Ungarn, Kroatien… Sogar Moldawien, Weißrussland und die Ukraine würde ich gerne sehen. Man sagt, es lohne sich nicht, diese Länder zu besuchen, weil sie arm sind. Aber sie haben doch ihre eigene Kultur und Geschichte. Wie können die Länder, die sowas haben, nur arm genannt werden? Nein, so kann es nicht sein. Ich muss unbedingt dorthin.

Und dann ist noch die ganze Welt vor mir. Ich gehe barfuß durch New York und fühle mich wahnsinnig klein im Vergleich zu den Wolkenkratzern. Und es ist nicht der einzige Ort in den USA, den ich zu Gesicht bekommen möchte…Kalifornien, Florida, Texas und natürlich Alaska.

Und dann weiterreisen, durch ganz Nordamerika. Es gibt noch Kanada, Kuba, Mexiko, Jamaika, Haiti, Costa Rica. Man kann ewig aufzählen. In Südamerika gibt es auch so viel zu sehen. Zum Beispiel habe ich noch nie den brasilianischen Karneval erlebt, und das muss ich unbedingt tun.

Viele Menschen glauben an Stereotype über den Iran. Doch ich weiß, dass das Land nicht so ist, wie man es im Fernsehen sieht. Jetzt sind meine Gedanken in Teheran…Ich kaufe Mandeln und Gewürze auf einem kleinen Markt. Mein Kopf ist mit einem bunten Tuch bedeckt, und ich sehe wie eine orientalische Schönheit aus (nur mit blonden Haaren, aber warum denn nicht?).

Nichts kann mich von meinem Traum, die Welt zu sehen, abhalten. Afrika ist auch eines meiner Reiseziele. Egal, was dort passiert, eines Tages werde ich den Kontinent sehen.

Jetzt gibt es noch Australien, Ozeanien und natürlich Asien. Ich wurde im asiatischen Teil Russlands geboren und es wird an der Zeit sein zurückzukehren. Die letzte Station meiner langen Reise wird meine Heimatstadt sein. Chabarowsk…Vor zwei Jahren habe ich dich verlassen. Ich habe mir ständig eingeredet, ich komme mal vorbei, aber es ist nie passiert. Doch irgendwann muss man zurückkehren, und wenn auch nur für kurze Zeit. Meine Seele will zu dir, auf deine Straßen mit altertümlichen Gebäuden, zu unserem breiten Fluss, schließlich in die Taiga. Ein Teil von mir will auch zu den Eltern. Das kleine Mädchen ist jetzt groß, aber dieser Teil will nie erwachsen werden. Wer weiß, vielleicht ist es besser so…

Ein bellender Hund reißt mich aus meinen Gedanken. Ich lasse das Buch fallen. Der Herr eilt auf mich zu, um sich zu entschuldigen.

„Macht nichts“, sage ich. „Ich habe einfach nachgedacht…“

Nastja Matjasch

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