Die Sache mit der Solidarität

„Im Staat Zheng lebte ein Schamane namens Ji Xian (Kenner der Gelegenheiten), der wußte, wann die Menschen geboren werden und sterben, überleben und umkommen, wann ihnen Unglück oder Glück widerfährt, ob sie lange leben oder jung sterben, er ver­mochte dies auf Jahr, Monat, Woche und Tag vorherzusagen, als wäre er ein Geist. Wenn die Einwohner von Zheng ihn erblickten, ließen sie alles stehen und liegen und rannten davon.“ (Zhuangzi, 7.5)

Über die Verteilungsgerechtigkeit zu wachen, gehört zu den menschlichen Urinstinkten: Als Kin­der passen wir auf, daß der Kuchen in gleiche Teile ge­schnit­ten wird. Die für das Kind existenzielle Angst, zu kurz zu kommen, rührt vom Narzissmus her, der in den ersten Lebensjahren über­lebens­wichtig ist, um sich in einer Welt von Erwachsenen und Gleichaltrigen zu behaupten. Wenn die Eigenliebe zugunsten von Mitgefühl und Liebe in den Hintergrund tritt, ändert sich das Motiv der Gerechtigkeit. Die Wahrnehmung, daß andere ungerecht behandelt werden, indem sie zu kurz kommen und keine Chance haben, ihr Recht zu er­langen, tritt als neue Qualität hinzu.

In der Corona-Krise wurde unter dem Stichwort der „Soli­da­ri­tät“ das Gerechtigkeitsempfinden des narzisstischen Kindes angesprochen: Wenn wir privat zurückstecken und verzichten sollen, dann sollen auch die großen Betriebe schließen und ihren Beitrag zur „Kontaktvermeidung“ leisten. Wenn die Älteren in den Heimen weggeschlossen und isoliert werden, dann sollen auch die Jün­geren keine Partys feiern und fröhlich durch die Gegend laufen. – Das ist Gerechtigkeit auf der untersten Stufe, „Solidarität“, die vom Neid bestimmt wird und letztlich auf eine große Un­gerechtigkeit hinausläuft: Denn für die Älteren ist es unangemessen, in den Heimen eingesperrt zu wer­den, wie es un­ver­hält­nis­mäßig ist, die Jüngeren ihrer Lebensperspektiven durch das Vorenthalten von Bildung und Arbeit zu berauben. Für beide braucht es andere Wege. So aber leiden die Älteren in Einsamkeit und Elend während ihrer letzten Lebensmonate, in denen sie vor einer Krank­heit geschützt werden, und sterben nicht selten an den Folgen der Isolation. Die Jüngeren aber müssen noch Jahre und Jahrzehnte mit dem Trauma der zerbrochenen Perspektive, Schul­karriere oder wegen Pleite aufgegebenen Selbständigkeit leben. Dabei waren sie von keiner Krank­heit übermäßig bedroht – der Lockdown war menschengemacht, Menschen tragen für ihn die Ver­antwortung. Daher das schreiende Gefühl der Ungerechtigkeit. Es ist Zynismus, sie dem Virus zu­zuschreiben.

Der künstlich geschürte und verstärkte Generationenkonflikt – mutet er nicht bekannt an? Am Vorabend des Ersten Weltkriegs trafen sich auf dem Hohen Meißner in Hessen 2.500 Ju­gendliche und Heranwachsende, um in der Natur dem Mief der schwerindustrialisierten Groß­städte und dem Militarismus zu entkommen. Sie forderten die Möglichkeit, „aus eigener Be­stimmung, vor eigener Ver­ant­wortung, mit innerer Wahrhaftigkeit“ ihr Leben zu gestalten: „Die Jugend steht an einem ge­schicht­lichen Wendepunkt. Bisher aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und angewiesen auf eine passive Rolle des Lernens, auf eine spielerisch-nichtige Geselligkeit, nur ein Anhängsel der älteren Generation, beginnt sie, sich auf sich selbst zu besinnen. Sie versucht, unabhängig von den trägen Gewohnheiten der Alten und von den Geboten einer häßlichen Konvention sich selbst ihr Leben zu gestalten.“ Aufruf zur Teilnahme am Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner, 1913)   

Die Corona-Krise läßt sich als Symptom betrachten: als Symptom einer allgemeinen Krise des modernen Menschen, genauer des Menschen in einer normopathischen Gesellschaft (Maaz), der sich nicht nach seiner natürlichen Bestimmung (Zhuangzi) fragt, sondern den auferlegten Pflichten folgt, die ihm Eltern, Lehrer und Chefs übergestülpt haben – des Menschen, der funktionieren will.  Diese Funktionslust wird durch die Corona-Maßnahmen infrage gestellt: Politik und Medien nutzen die reale Angst vor dem Virus, um Angst zu schüren, indem sie „den Alarm hochhalten“. Damit werden verdrängte Ängste geweckt, die auf ungelöste innere Konflikte hinweisen (Abhängigkeit, Ent­frem­dung). Das Bewußtwerden dieser Ängste wird vom Ich aktiv abgewehrt a) durch totale Anpassung an die politischen Einschränkungen und die vehemente Verteidigung der angetragenen Unfreiheit oder b) durch Skepsis und Kritik an der einseitigen Darstellung der vermeintlichen Risiken, dabei in Kauf nehmend, als Verräter, Omega, Verschwörungstheoretiker oder Nazi diffamiert zu werden.

Die politische Wirkung besteht in der Polarisierung der Gesellschaft, genauer gesagt in der kognitiven Verstärkung der ökonomisch angelegten Polarisierung. Indem sich die Mehrheit der Bevölkerung in Corona-Gläubige und Corona-Skeptiker, Positiv- und Negativgetestete, Geimpfte und Nichtgeimpfte spaltet, wird der Konflikt auf den Nebenschauplatz der Virusbekämpfung abgelenkt, während die eigentlichen Konflikte der heutigen Zeit aus dem Blick geraten.

„Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen, sondern sie fungieren über die Verfassungsbeschwerde auch als politische Partizipationserzwingungsrechte von Minder­heiten­gruppen. Parlamentarische Mehrheiten werden gezwungen, andere Belange zu berücksichtigen, jedenfalls sich mit ihnen auseinanderzusetzen, damit das Gesetz nicht vor Gericht scheitert. Föderalismus und Grundrechte beheben auf diese Weise Repräsentations- und Artikulationsdefizite des parlamentarischen Prozesses und sorgen dafür, dass auch ein in Berlin erstarrter politischer Prozess, der nur noch eine Koalitionsvereinbarung „abarbeitet“, oder in der Gewissheit von Modellrechnungen denkt, Anstöße erhält. Für solche Arenen, die Partizipation und Pluralismus pflegen, besteht besonderer Bedarf, wenn sich der politische Prozess vor solchen Anstößen abschottet und auch durch Gerichte nicht dazu gezwungen wird, sie zu verarbeiten.“ schrieb Oliver Lepsius in seinem Beitrag Das ver­fas­sungs­recht­liche Argu­ment hat es schwer  vom 05.02.2021.

Tatsächlich steht die moderne Welt am Scheideweg, sich mittels intelligenter Technik in eine Wohlfühl-und-Fürsorge-Technokratie  zu transformieren, die im Kern autoritär bis totalitär, sagen wir technokratisch, ist und dem Profit der führenden Tech-Konzerne dient; oder die Gesellschaft demokratisiert sich weiter in subsidiär verwaltete Minderheiten und Nischensozietäten, in denen Partizipation und Basis­demo­kratie lebendig entfaltet werden können. Die Tücke der Corona-Strategen besteht darin, die allgegenwärtige latente Gesundheitssorge in eine Angst zu verwandeln. Dafür werden vermeintlich linke, ursprünglich einfach demokratische Werte wie „Solidarität“ und „Partizipation“ als festlich ge­schmückte Zugpferde vor den Karren  der Konzerninteressen gespannt: Jüngere beschränken sich und verzichten für Ältere, Impfstoff für alle… In der gegenwärtigen Umkehrung aller Werte treten autoritäre „Linke“ für Freiheitsbeschneidung, Unterwerfung, Obrigkeitsdenken und das Ausbluten des Mittel­standes ein, während sie Illusionen wie No- oder Zero-Covid hinterher eilen.

These 9: Die Corona-Politik bewirkte unter Berufung auf die „Solidarität“ – die Jüngeren bringen ein Sonder­opfer für die Älteren, die Maske schütze nicht mich, sondern die anderen – eine Rechts-Links-Umkehr.

Wurde diese Parole von den Regierungen zunächst nur rhetorisch im Sinne einer pro­phy­laktischen Präventionskommunikationsstrategie gebraucht, um einem Rückfall in die Bar­barei vorzubeugen, in der jeder nur sich selbst der nächste ist, lockte die „Solidaritäts“-Propaganda die „Linke“ in die Vorkammern der Macht und reanimierte die Lust am autoritären Staat, der sich anschickt, Gleichheit und Gerechtigkeit auf dem Weg der Verordnung von oben durchzusetzen – gleichsam die Wiederkehr des überwunden geglaubten leninistisch-stalinistisch-maoistischen Programms. Die „Rechte“ dagegen, die in den Jahrzehnte davor nicht zimperlich war, die Staats­gewalt für ihre Zwecke einzusetzen, geriert sich nun als Verteidigerin der individuellen Freiheit…

Statt die Industrie in den Schutz der Bevölkerung einzuspannen, wird die Bevölkerung durch Zermürbung gefügig gemacht, so daß das „Sich-Frei-Impfen“ auch auf große, nicht gefährdete Gruppen, die unter 60jährigen, ausgeweitet wird. Dies führt zu dem Paradox, daß die „Solidarität“, die den Jüngeren in Form eines umfassenden Lebendigkeitsverzichts abverlangt wird, durch Zwangs­maßnahmen aufrechterhalten bleibt, obwohl die vulnerablen Gruppen bereits „durch­geimpft“ sind. Die Jüngeren werden mit dieser Strategie doppelt betrogen und ausgebeutet: Zu­nächst wurden sie Einschränkungen in Beruf und Bildung unterworfen. Seitdem die verletzlichen Gruppen qua Impfung als geschützt gelten, werden die Einschränkungen nur für sie, nicht aber für die solidarisch in Mithaftgenommenen wieder aufgehoben. Gar keine Rede ist davon, daß bei Jüngeren (<60 J.) die Kosten-Nutzen-Abwägung der Impfung kippt: aufgrund der äußerst winzigen Wahr­scheinlichkeit für nicht vulnerable Menschen, tatsächlich eine schwere Atemwegserkrankung (nicht nur ein positives Testergebnis) zu erleiden und daran zu sterben, potenziert sich das Gewicht „seltener“ Nebenwirkungen wie der Hirnvenenthrombosen, Em­bolien usw. Zum doppelten Betrug an der jüngeren Bevölkerungsmehrheit kommt die Ver­dopp­lung des Risikos hinzu, von Impfnebenwirkungen betroffen zu sein, deren Wahrscheinlichkeit umgekehrt proportional zum Alter wächst.

Wie „begründet“ die Politik die Impfung der nicht von Covid gefährdeten Bevölkerung? Natürlich wegen der „Solidarität“ mit den Älteren, denn würde man den Jüngeren die für sie gefährlichere Impfung ersparen, wäre die „Herdenimmunität“ passé.

Wenn ich mit älteren Men­schen spreche, wundern sie sich über den Aktionismus der zumeist kinderlosen Politiker: Die Älteren wollen die Chancen ihrer Kinder und Enkel nicht davonschwimmen sehen; eine Politik, die dies zuläßt, empört sie – Reisemöglichkeiten auf die Balearen oder an die Algarve hin oder her. Und die „Herdenimmunität“ ist vermutlich eine Chimäre, wenn das Virus wie in den letzten drei Mil­lionen Jahren im Herbst leicht variiert wiederkehrt. Die Jugendlichen auf dem Hohen Meißner widersetzten sich dem Diktat, indem sie wanderten, sangen und tanzten. Und auch heute gilt wieder: Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren! Tanz bedeutet Leben, Liebe, Freiheit, Kampf, Sehnsucht, Freude, Verzweiflung, Versöhnung, Schönheit und Kraft.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

7 Kommentare

  1. Schön! Es lebe die Panphobie!! Mit diesem Text ist das neue Genre nun zweifelsfrei gerechtfertigt; als wieder einmal unausweichlich gewordene Ideologie(kritik…); aber –

    „Frage an den erfolgreichen Dichter nach seiner Lesung:“

    Könnten Sie uns nicht den semantischen Bruch zwischen Epigraph und Text erklären?

  2. Das Epigraph (griech.: „Aufschrift“, „Inschrift“) ist eine veraltete Bezeichnung für eine antike Inschrift. Die historische Hilfswissenschaft, die sich mit solchen Inschriften befasst, wird als Epigraphik bezeichnet. Wir könnten die „Inskriptionen“ also in „Epigraphien“ umbenennen, wenn wir alte Griech*innen wären…

  3. Die heutige Unzufriedenheit mit der Welt zeigt unverkennbare panische Züge. Wer die Panik nicht spürt, ist nicht auf dem laufenden, vermutlich lebt er im Abseits vom Betrieb, in einer ungleichzeitigen Höhle, verschont, sich schonend, privatisierend, vielleicht auch glücklich, entrückt in eine Provinz, wohin keine Nachrichten gelangen. Um sich von der Panik fernzuhalten, müßte man fähig sein, an einem kleinen Glück zu bauen. Man müßte noch das alte psychische Immunsystem haben, das sich durch naheliegende Sorgen vor großen Fragen schützt. Aber Immunität gegen Panik ist zur Seltenheit geworden – genauso wie glaubhafte Weltfremdheit … Das alles sagt, daß Panik keine massenpsychologische Fehlreaktion, auch keine persönliche Nervensache darstellt. Sie ist, um klassisch zu reden, eine Verfassung des objektiven Geistes, sie artukuliert eine adäquate Beziehung des Intellekts zu den Sachen, und wenn der Geist angesichts dessen, was ihm aufgeht, außer Fassung gerät, so hat er in der Sache recht. (1989, S. 97)

  4. Gequatsche statt Antwort. Weiter so! Optimale Methode, das in der Sache berechtigte Anliegen selbst zu discreditiren.

  5. Laut FAZ wird ein schwerer Verlauf von folgenden Vorerkrankunegn begünstigt: Bluthochdruck, Diabetes Mellitus und Übergewicht. Sind das nicht Zivilisationskrankheiten? Impfen heißt also, solidarisch sein mit dem Kapitalismus?

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