Das Testament der Gräfin Ulrike, Kapitel 8
Die Gräfin war nicht zufrieden mit ihrer neuen Nichte. Die machte sich nicht nützlich, lag den ganzen Tag in ihrem Zimmer herum, rauchte die kostbaren alten Tapeten voll, und abends zog sie über Marietta und Joshua her oder langweilte mit Gesprächen über irgendwelche Fernsehstars.Nach ihrem Vater, dem Grafen Eduard, kam sie jedenfalls nicht.
Mitunter kamen der Gräfin Zweifel, ob diese Daniela wirklich ihre Nichte war und nicht etwa eine Schwindlerin. Doch die Papiere, die Daniela ihr vorgelegt hatte, waren echt. Sie war in der Tat die Tochter des verstorbenen Grafen Eduard. Dennoch, erst als sie sich überzeugt hatte, dass Daniela Namen aus der weitentfernten Bekanntschaft der Rheinsteins nannte, die der Gräfin schon lange entfallen waren, gab sie ihr Misstrauen auf.
Da musste sie also noch einmal in die Stadt fahren, zu Dr. Wettlinger. Der Gute beschwerte sich nicht, aber ihr entging nicht, dass sein Unverständnis von Mal zu Mal gewachsen war. Das verbarg er hinter einem verbindlichen Lächeln. Aber beschweren konnte sie sich nicht über ihn. Bisher hatte er alle ihre Änderungswünsche prompt und korrekt erledigt.
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Daniela streifte gelangweilt durch den Schlosspark. Schon von fern sah sie: Der Gärtner Joshua, die stattliche Erscheinung, war mit einem Rhododendronbusch beschäftigt. Sie schlich sich in seinem Rücken heran und hielt ihm die Augen zu. „Wer bin ich?“, fragte sie übermütig.
Joshua versuchte sich Danielas zu erwehren. „Aber Gräfin!“ Er schüttelte den Kopf. Die Nichte der Gräfin benahm sich nicht so, wie sie sollte. Er hatte sich, so gut es ging, immer vom Schloss ferngehalten, niemals hätte er sich jemandem dort aufgedrängt. Aber nun kam die Nichte der Gräfin hierher und versuchte mit ihm anzubändeln.
„Was hast du denn, Joshua?“ Daniela lachte. „Nur nicht so prüde! Wir sind doch alle Menschen! Auch wenn ich eine Gräfin bin! Und du bist schließlich das einzige männliche Wesen hier in dieser Einöde, da kommt eine Frau schon mal auf Gedanken, die …“
Sie sprach ihren Satz nicht zu Ende, sie war wohl zu weit gegangen.
Joshua verbarg seine Gedanken. Er wandte sich brüsk wieder dem Rhododendronbusch zu und ließ Daniela stehen. Die drehte sich auf dem Absatz herum. Dieser Tölpel! Das sollte er büßen! Sie so zu beschämen! Dieser Lakai! Dankbar sollte er ihr sein, dass sie sich überhaupt für ihn interessierte!
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Baronin Lichterfeld fuhr wieder mal in ihrem Cabrio vor. Wie immer hatte sie es eilig. Marietta war nicht verwundert, als sie sah, dass die nicht mehr junge Frau die Freitreppe hinaufstürmte.
„Ulrike, Liebste!“ Baronin Lichterfeld warf sich der Freundin in die Arme. „Erstaunliches geschieht! Du ahnst es nicht!“
Gräfin Ulrike lächelte, sie kannte das hitzige Temperament der Freundin zu gut. „Wenn du die Güte hättest, meine Liebe, mir anzudeuten, worum es sich handelt?“
„Eine Hochzeit, Ulrike. In meinem Hause! Mein Ältester will sich endlich unter das Joch beugen. Du kommst doch? Ich lass dich abholen. In zwei Wochen! Ach, Ulrike“, die Baronin seufzte. „Eine Sorge bin ich los. Nun muss ich noch die beiden anderen standesgemäß verheiraten. Sei froh, dass du damit nichts zu tun hast! Die Aufregung, nirgends ein Fleckchen, an dem man allein sein kann, überall Pakete und herumliegende Papiere. Und die Leute – schrecklich! Diese vielen Leute! Ich kann dir sagen, alle hoffen, für sie fällt auch etwas ab. Und, Ulrike, bring deine Nichte mit. Sie wird sich freuen, auch mal unter Menschen zu kommen. Ist doch wohl ein bisschen einsam hier für sie, nicht wahr?“
„Einsam? Für Daniela? Daran habe ich noch gar nicht gedacht. – Und du meinst, sie langweilt sich hier? Ich habe sie doch gefragt, ob es ihr hier gefällt, und sie war ganz begeistert. Du meinst, sie hat mir etwas vorgespielt?“
„Das meine ich nicht nur. Es liegt doch auf der Hand: eine attraktive junge Frau der besten Gesellschaft und dieses Monsterschloss! Die einzige Unterhaltung: dich. Eine alte Frau. Und der Gärtner und die Köchin. Glasklar, dass sie sich hier zu Tode langweilt, da muss ich nicht hellsehen können!“
Gräfin Ulrike sah der Freundin sehr nachdenklich ins Gesicht.
„Und mich vergisst du! Jeden Abend sitzt sie bei mir am Tisch. Ich würde gern mal einen Abend allein sein, aber nein – sie kommt und liegt mir in den Ohren. Mal war Marietta zu unfreundlich, mal der Joshua. Und ich glaube sogar, sie will Joshua hinausekeln. Aber eines sage ich dir: Eher trenne ich mich von meiner Nicht als von meinem Gärtner. Joshua, ein Mensch mit goldenen Händen …“
„Siehst du. Du sagst es selbst. Sie legt sich sogar mit deinem Personal an. Ach, Ulrike. Als wir so jung waren, saßen wir doch auch nicht brav wie Pastorentöchter am Ofen. Wir sind zu Bällen gefahren und nachts erst heimgekehrt. Junge Menschen brauchen eben ein bisschen Unterhaltung.“
„Ja, du sagst es. – Ich werde sehen, was sich tun lässt. Vielleicht schicke ich sie heute nachmittag mit Joshua in die Stadt. Er will einen neuen Rasenmäher kaufen, der alte hat endgültig den Geist aufgegeben.“
„Einen neuen Rasenmäher! Was brauchst du einen neuen Rasenmäher? Was sage ich dir seit Jahren, Ulrike? Gib das Schloss auf und zieh in eine kleine Villa in der Stadt. Ist übrigens auch entschieden billiger, falls du mich fragst.“
„Ach, Liebste, liebe gute Freundin. Ich kann mich nun mal nicht trennen von diesem alten Gemäuer, so gern ich es auch täte. Hier habe ich mein ganzes Leben verbracht. Auf meine alten Tage umziehen? In die Stadt? Nein, verlang das nicht.“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Mute mir das nicht zu. Hier habe ich gelebt, hier will ich auch sterben.“
„Dir ist einfach nicht zu raten.“
„Fürs Raten habe ich Dr. Wettlinger.“ Gräfin Ulrike lachte. „Und seine Ratschläge bereiten mir mehr als Kopfzerbrechen. Stell dir vor: Er meint, ich sollte das Schloss nicht dem Kunstverein vermachen, sondern Daniela damit abfinden. Neben einer gehörigen Summe. Natürlich. Sie sei bei ihm gewesen und habe angedeutet, dass sie mit dem Schloss rechne.“
„Dann gibst du ihr eben den alten Kasten! Soll sie damit glücklich werden. Schert es dich, wenn du in der Familiengruft liegst?“
„Aber ich habe das Schloss doch schon dem Kunstverein versprochen. Die Stadt rechnet damit! Wie stehe ich denn da, wenn ich jetzt sage, April, April, ihr könnte eure Ausstellungen weiter in den kleinen Räumen am Markt veranstalten?“
„Du musst wissen, was du tust.“
„Leider. Wir Alten müssen alles wissen und alles richten, und die Jungen machen sich einen schönen Tag. Auf Kosten meiner Nerven.“
Baronin Lichterfeld seufzte. „Wie recht du hast. Wenn ich nur an die Hochzeit denke. Alles ruht auf meinen Schultern. Mein Sohn – vergiss ihn! Der lässt sich bis zur Hochzeit nicht mehr zu Hause blicken. – Aber ich habe es eilig, Liebste. Ich wollte dir nur die kleine Überraschung aus dem Hause Lichterfeld mitteilen.“
Die beiden Freundinnen umarmten sich innig. „Ach, Liebste“, sagte Gräfin Ulrike, „wenn ich doch bloß schon die Augen schließen könnte …“
„Denk nicht daran! Du mit deiner Konstitution wirst hundert Jahre alt. Und deine Daniela wird sich umsehen, wie lange sie auf das Erbe warten darf. Ist dir das keine Genugtuung?“