Dornröschen sind wir doch alle. Weniger oder mehr.
Wir lagen hinter der Hecke
In Träumen, bang und schwer.
Friedrick Dieckmann, November 1989
Meine Revolution begann im Sommer 1988. Ich bekam einen Studienplatz zugeteilt. Es war nicht mein Traumstudium, aber geträumt habe ich damals schon lange nicht mehr. Die Stadt war also eine willkommene Abwechslung, in vollsten Zügen von mir genossen. Tag und Nacht flossen ineinander, für Seminare und Vorlesungen gab es gutmütige Kommilitonen und Blaupapier. In der dritten Studienwoche verliebte ich mich Hals über Kopf. Beim Tanzen im Druschba. Mein Herz war getroffen, ich liebte das Leben und diese Stadt!
Herbstferien. J. fuhr in den Urlaub mit seinen Eltern. „Eine Woche, dann bin ich wieder da“. Ich saß sieben Tagen erwartungsvoll im Druschba. Drei Tage ertrug ich dies mit Contenance. Dann fuhr ich zu J. Die Rollos an seinem Haus waren runtergelassen. Ich schlich am Zaun entlang, ein Mann sprach mich an, fragte nach dem Woher und Wohin. Unsicheren Schrittes ging ich zur Straßenbahn. Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage ich mit zähen Vorlesungen und Seminaren verbrachte, bis die Katharsis eintrat. Ich stand vor meinem kleinen Briefkasten im Wohnheim, hielt in der Hand diesen rot-blau geränderten Luftpostbriefumschlag. Irgendwann im Treppenhaus aufgewacht, der Pförtner über mir: „Geht’s?“. Er half mir auf die Beine, stellte mich in den Aufzug und drückte die 12. Ein zweiter bunter Brief kam an, ich war noch beim Verdauen des ersten. „Bin jetzt zwar ein paar tausend Kilometer von Dir entfernt, doch was soll‘s. Hoffe, Du stehst zu mir und berichtest mir, was so abgeht in old GDR.“ Klar, mach’ ich gern. Ich erzähle Dir vom Besuch der grauen Männer: Kommen Sie schon, Sie haben doch was gewusst! Oder vom netten Dozenten: Was wollen Sie denn jetzt tun? Auch flüchten? Ich kann Ihnen helfen. Aber berichten Sie mir doch mehr. Und vom Gynäkologen: Ach, lernt ihrs denn nie? Die Tage in E. waren mühsam, die Nächte leer. Abends verkroch ich mich mit meinem Cora-Radio ins Bett und betrachtete das Gewusel meiner Mitbewohnerinnen. Emotionslos stellte ich den Inhalt meines Kleiderschrankes für deren Streifzüge zur Verfügung.
Januar 1989. Drei Monate dauerte nun meine Trauerzeit, dann fand ich wieder zurück und schrieb nach Kanada. Im Frühjahr über Ausreise und Wahlen. Im Sommer über Freiheit und Verantwortung. Im Herbst über Aufbruch und dem verwirrenden Zustand der Angstfreiheit. J. war froh. Kanada macht eben einsam. Er schrieb, dass er nicht wissen möchte, wie ich meine Nächte verbringe. Er sprach von Liebe über Grenzen hinweg. Andere hatten Brieffreunde in der Sowjetunion, ich hatte einen Brieffreund im kapitalistischen Ausland. Ich unterrichtete J. bis ins Detail, schickte Zeitungsausschnitte und Flugblätter, schrieb von zweifelnden Studenten und verzweifelnden Dozenten. In allen Briefen schwang der Stolz, hautnah am Puls der Zeit zu sein. J.s Erlebnisse aus Kanada verglich ich mit der Filmgeschichte der Waltons – „Schlaf gut, John Boy….“.
4. November 1989. Groß-Demo in Berlin. Pressefreiheit wollten wir oder auch nur einfach dazugehören. Ich las Parolen wie Junge Leute an die Macht und Wir sind das Volk und Demokratie – jetzt oder nie. Ich hörte Ullrich Mühe und Johanna Schall, fühlte mich zu ihnen emporgehoben. Stunden später fand ich mich eingekeilt zwischen Menschenmassen am Berliner Hauptbahnhof wieder. Über meinem Kopf tanzten Windelpakete, prall gefüllte Plastetüten und sogar ein Baby. Im Zug traf ich einen Schulfreund in Uniform. Er zitterte und stammelte: Ich will nicht schießen!
9. November 1989. Wir unterbrechen für eine aktuelle Meldung. Im Halbschlaf hörte ich Satzfetzen. Die Mauer ist auf. Welche Mauer? Erst Jahre später wurde mir bewusst, dass ich den „historischen Augenblick“ verschlief. Am Morgen des 10. Novembers saß ich mit einer Handvoll Kommilitonen im Seminarraum. Die anderen waren drüben. Irritiert vernahm ich in den nächsten Tagen das Verschwinden um mich herum. Mein politischer Stolz erwachte. Oder war es wohl doch eher meine renitente Art? Ich war nicht Alle , ich fuhr nicht rüber. Vielmehr schloss ich mich den politisierenden Studenten an, rannte von Demo zu Demo, rauchte konsequent Club und berauschte mich an ständig neuen Prophezeiungen zum weiteren Werdegang unseres Landes.
Erster Weihnachtstag 1989. Ein überfüllter Zug in den Westen. Sieben Stunden saß ich auf meinem Rucksack neben dem Klo, die Tür im Rücken. Eine Tante lud mich ein. Sie stand mit Schild um den Hals am Bahnhof: Herzlich Willkommen! Ich bin Tante R. und suche S. Mit butterweichen Knien ging ich zu dieser Frau. Ich setzte mich vorsichtig in die Autopolster, betrat zögernd das Haus und schlief unruhig im fremden Bett. Am Frühstückstisch nahm ich diese pelzige Kartoffel neben meinem Teller wahr. Kiwi. Ach so. Das Gastgeschenk meiner Mutter – ein brikettbraunes Sofakissen mit Lurexstreifen – ließ ich im Rucksack. Abends schauten wir die Hinrichtung der Ceauscescus im Fernsehen.
Silvester 1989. Einladungen nach Berlin sagte ich ab und fuhr zu meinen Eltern. Ich hatte Angst. Gegen zehn ging ich zu Bett und war so ziemlich die Einzige in der Stadt, die am Neujahrsmorgen 1990 ausgeschlafen zwischen verkohlten Knallern und leeren Flaschen aufs Feld hinter unserem Block stolperte.
Wenige Monate später kam J. aus Kanada zurück. Ich lebte zwei Jahre mit ihm zusammen. Unsere einhundertzweiunddreißig Briefe sind alle verbrannt.